Kräftepfeile
zwischen den Polaritäten: Blankpolierter Spiegel – Mimesis – Glück des
Unvorhergesehenen– symbolischer Tausch – schneller Brüter – Schönheit – Musik –
Selbstimmunisierungen
In verschiedenen
theoretischen und biographischen Zusammenhängen habe ich in der Vergangenheit mit
autoritativen Zitaten gespielt, um zu zeigen, wie und warum Autoritäten am
unabhängigen Denken hindern und sogar die Wahrnehmung einschränken. Die eine, ewige
Wahrheit, nach der wir uns richten können oder sogar müssten, gibt es nicht. Dennoch
sind die uns bewegenden Wahrheiten nie nur eine Funktion von Sätzen, sondern
das momentane Resultat eines zwischen Gefühlen zündenden Geistesblitzes, den
wir erst im Nachhinein in Sätze zu kleiden und auf einen Nenner zu bringen
suchen. Die Naturwissenschaften machen es mit Hilfe der Mathematik möglich,
gewisse Wahrheiten auf einen Aussagesatz oder eine Formel zu reduzieren. Die
aus wenigen Axiomen konsistente Lehrgebäude errichtende Mathematik führte allerdings
zu der Erkenntnis, dass ein System entweder vollständig und widersprüchlich
oder widerspruchsfrei aber unvollständig ist – noch dazu kann die Wahrheit
eines Systems innerhalb dieses Systems nicht bewiesen werden. Innerhalb der
Naturwissenschaften liefert die von fehlerhaften Verallgemeinerungen zu immer
wieder neu korrigierten fehlerhaften Verallgemeinerungen fortschreitende Logik
der Forschung zu wenig, um maximale Unwahrscheinlichkeiten der Lebendigkeit
auch nur zu handhaben, geschweige denn mit allem, was menschliche Belange angeht,
lustorientiert und selbsterfüllend zu arbeiten. Auch die Prämisse des
linguistik turn, nach der unsere Beobachtungen und Behauptungen keine Wahrheit
über außerhalb der Sprache liegenden Dinge oder Vorgänge kennzeichnen, trägt
nicht viel weiter. Der Raum kodifizierter Bedeutungen versetzt uns in eine Realität
vorfabrizierter Vorstellungen, während das Glück des Unvorhergesehen bereits
mit einem Stottern oder Stolpern, mit Fehlleistungen oder Zufällen an die Welt
jenseits der Konventionen erinnert. Wenn wir gewisse Anregungen aufnehmen, die
lebensgeschichtliche Wendepunkt entschieden haben, wenn an einem Faden weitergesponnen
wird, der uns für den Augenblick mit einem entscheidenden Durchblick versehen
hat, wird hin und wieder klar, warum Nachahmungsneuronen und symbolische
Verweisungszusammenhänge für eine Vernetzung von Semantik und Materialität der Erfahrung
sorgen. Der Neurologe und Philosoph Linke stellte für mich eine faszinierende
Verbindung des Studiums von Hirnprozessen zu den erkenntnistheoretischen
Grundlagen der prägenden Arbeiten Benjamins her. Sie sind auf keine schlichte
Signalverarbeitung zu reduzieren, sondern legen neuronale Impulskonfigurationen
nahe, die bestimmende Rollen im Kommunikationsprozess einnehmen. Diese
Bedeutungen im nichtlexemischen Sinne sind im Kodierungsprozess des Gehirns bereits
präsent und können im Selbstverhältnis der Prozesse sogar als lexemische
Inhalte fixiert werden.
Wer wird sich also
darüber wundern, wenn Leute, denen kodifizierte und für sie unveränderliche
Bedeutungen eingetrichtert worden sind, so wenig von Welt und Leben
mitbekommen, dass sie in dauernden Überbietungswettbewerben befangen bleiben,
um wenigstens hin und wieder das Gefühl zu haben, etwas Außergewöhnliches zu
erleben. Um den Preis, ständig mit anderen zu rivalisieren und sich zwanghaft zu
relativieren; sie laufen um die Wette, wissen zwar nicht wohin, wollen aber schneller
als alle anderen da zu sein. Irgendwann, wenn Kopf oder Herz nicht mehr mitkommen,
stellen sie dann fest, warum vor lauter Beschleunigung und fortwährenden Vergleichen
nicht vom Fleck zu kommen war. Wer sein will, wie alle anderen, nur ein
bisschen besser oder klüger oder schöner oder schneller, wird von Vorstellungen
gelebt, in denen längst abgestorbene Dogmen vor sich hinwesen. Alle haben in
ihrer jeweiligen Blase ein bisschen Recht, mal mehr aus einer verfremdeten
Perspektive, mal weniger an dem Zipfel, an dem sie sich festgebissen haben.
Aber keine/r kann für seine Blase beanspruchen,
die eine und einzige Wahrheit zu vertreten, denn Wahrheiten gibt es wie die
frühe Götterwelt nur im Plural. Noch dazu findet sich keine virtuelle
Gesamtheit dieser Wahrheiten irgendwo zwischen allen oder in einer als
Vereinigungsmenge schillernden Blase. Die beschränkenden Perspektiven des
Wissens einzelner Lebens- oder Kulturzusammenhänge eignen sich nicht dafür,
miteinander verrechnet zu werden, sie sind so inkommensurabel wie die von der
Semantik und Grammatik transportierten Weltbilder einzelner Sprachen. Wir
sollten also unsere Versuchsanordnung nicht durch die Rede vom Ende der
Philosophie davon abbringen lassen, immer wieder neu ganz von vorne anzufangen,
um die einer ewigen Aktualität gehorchenden Fraglichkeiten aufzudröseln. Die
Gnade der Ignoranz hat sich schon immer als unzuverlässig erwiesen, also sollte
mit all dem Wissen, das uns die Wissenschaften heute liefern, an den Bruchstellen
anzusetzen sein, an denen menschheitsgeschichtliche Weisheiten dem Anspruch positiver
Wahrheiten weichen mussten.
In
den vergangenen Jahrzehnten haben sich einige Anregungen ergeben, den
Sackgassen zu entwischen, die sich aus der Konfrontation mit den schulbildenden
Folgen antiquierter theologischer Lehrsysteme ergaben. Das Jetzt der Erfahrung,
die ästhetische Erschütterung sinnlicher Erfahrungsgewohnheiten, die
Verkörperung von Wissen, die Überwältigung durch Präsenz und Plötzlichkeit, die
Logik der Sinne und die leiblichen
Fundamente der Evidenz… sollen im Folgenden auf brauchbare Anregungen
abgeklopft werden, wobei die Widersprüche zwischen einzelnen Positionen und
Argumenten nicht als Ausschlusskriterien taugen. Was sich auf der gleichen
Ebene nicht verträgt, wird auf der nächsten Reflexionsebene zu einem Ensemble,
das unter günstigen Voraussetzungen wie ein Mobile auszutarieren ist und dann
ganz fruchtbare Schlussfolgerungen zulässt.
Mit
Steiner sind Literatur, Kunst und Musik als Maximierung der semantischen
Inkommensurabilität hinsichtlich der formalen Ausdrucksmittel zu definieren;
der Anspruch auf Theorie in den Geisteswissenschaften ist das Resultat einer
systematisierten Ungeduld. Es gibt keine Wissenschaft des Sinns und keine
wirkliche Theorie der Bedeutung, wenn diese hochgestochenen Bezeichnungen
ernstgenommen werden wollen. Hermeneutische oder wertende Aussagen sind keine
Kandidaten für Wahrheitswerte. Die Prinzipien der Nicht-Determinierbarkeit und
der Komplementarität stehen im Zentrum aller interpretatorischen und kritischen
Prozesse in Literatur und Kunst. Und weil sie das Produkt eines individuellen
Prozesses der Denktätigkeit, der Rezeption, des Ausdrucksstils darstellen, ist
eine dauernde Neuorganisation durch ästhetische Urteile unausweichlich; wenn
wir uns mit Texten oder Kunstwerk befassen, wirken wir auf sie ein, ihre Rezeptionsgeschichte
dokumentiert drastische Veränderungen. Doch schon jedes Naturobjekt wird durch
unsere Wahrnehmung, durch evolutionär gewordene Seh- und Hörgewohnheiten
verändert, unsere subjektiven Vorlieben oder Ängste sind vielleicht ein Firnis
der Aktualität, aber solange zu vernachlässigen, bis sie kompetent in den Erkenntnisprozess
eingebracht werden. Bis ins späte 19. Jahrhundert beruhten die Codes der Wahrnehmung,
die unsere Beziehungen der Nachvollziehbarkeit zu anderen und zur Welt
stabilisierten, auf den Gesetzmäßigkeiten einer Geschichte des Logos, in der
das Dasein zu sagen sein sollte. Seit Nietzsche wird die Relativität und
Kontextabhängigkeit aller Wertung und Deutung immer offensichtlicher.
Entscheidende operationelle Verfahrensweisen in den prägenden Beziehungen haben
den Status der Bedeutung geändert, das imaginäre Fundament ist weggefallen,
gefragt wird nach der Bedeutung von Bedeutung, nach der Funktion symbolischer
Formen – und die Skala der Ergebnisse reicht von einer umfassenden Skepsis, die
die Furcht vor einer generellen Haltlosigkeit schürt, zu einer neuen Mystik,
nach der alles umfassend mit allem zusammenhänge. Wenn uns klar wird, dass sich
Worte immer nur auf Worte beziehen, dass jeder eine Erfahrung referierende
Sprechakt lediglich heißt, etwas mit anderen Worten zu sagen, könnten wir resignieren
und uns auf konservativen Kopierprozessen vorhandener Werte ausruhen. Oder wir
beginnen zu ahnen, in welcher Freiheit wir uns bewegen, wenn die Grundlagen
jeglichen Sinns in Gefühlen zu finden sind, um dann sorgsam damit umzugehen; in
diesen Clustern aus Bedürfnis und Begehren schießen Prägungsmuster zusammen,
die nach und nach zu Bedeutungen gerinnen. Kunst und Poesie zeigen in
außergewöhnlichen Prägungen, wie mit Gefühlen spielerisch neue Weltaspekte
erobert, wie die Grundlagen der Diskurse späterer Generationen aus der Taufe
gehoben werden. Der selbstreferentielle, sich selbst regulierende und
transformative Kosmos des Diskurses ist weder dem Realen der Welt ähnlich noch
unähnlich, denn wir transzendieren das Reale nicht mit den Mitteln der Sprache
zugunsten eines Realeren, sondern der Diskurs stellt unsere Form der Realität
dar. Im besten Fall liefert er lediglich eine kritische Perspektive auf
philosophische Begriffsbildungen der letzten Jahrtausende. Wie die Erfahrung
gezeigt hat, ist jede/r gesegnet, dem sich Möglichkeiten bieten, den
angestammten Diskurs zu verlassen und von da an zwischen verschiedenen
Diskursen zu switchen. Es gab einmal einen eifersüchtigen Gott, der sein
auserwähltes Volk in die Wüste führte, um alle konkurrierenden Einflüsse auszuschalten,
um es von tribalen und familiären Bindungen, von der Verwurzelung im
traditionellen Boden abzunabeln. Hinter dem Topos der Auserwähltheit verbirgt
sich ein menschheitsgeschichtliches Konzept für evolutionäre Sprünge des
kulturellen Lernens: Mit dem Grad der Entfremdung wächst das Lernvermögen. Jede
neue Verwendung, der wir ein Wort zuführen, ist eine Entdeckungsreise. Jede
momentane Intention ist mit allen subliminalen Verweisungszusammenhängen
verbunden, die unser bisheriges Leben ausmachten, womit der Sprung in einen
anderen Kontext auch wiederrum zu einer andauernden Veränderung und Erweiterung
des Koordinatensystems unserer psychischen Ökonomie führt. Dennoch wird das
Mysterium eines Einklangs mit der Welt durch die Bezauberung mittels Dichtung,
Musik und Kunst, durch eine Aura magnetischer Beschwörungen immer wieder für
ein Nu erreicht. Innerhalb eines Universums der Sprache, in dem Raum für
unzählige Welten ist, ist in herausragenden Werken dank der besonderen Dichte
und Energie der Beschwörung und Verzauberung eine greifbare Magie zu entfachen.
In extremer Weise wird dies nach der Erfahrung eines sozialen Todes möglich,
denn hier müssen ganze Provinzen neu formatiert, mit Empfindungen besetzt, mit sprachlichen
Mitteln ergriffen werden. Die Pflege einer individuellen und geschmeidigen an
den Erfahrungen ständig erneuerten Semantik ist eine Voraussetzung unserer Freiheitsspielräume.
Ernstzunehmende
Malerei, Musik, Literatur oder Bildhauerei konfrontiert uns mit einer brutalen
Instabilität der vorgegebenen Wahrheiten, mit einer Entfremdung von der
Conditio humana. Nur deshalb haben verschiedene geisteswissenschaftliche
Fakultäten die Aufgabe, die ausgelösten Fluchtbewegung wieder umzuleiten und
die Deserteure des gesunden Menschenverstand und der Normalität wieder
einzufangen. In gewissen Momenten des schockierenden Zusammenbruchs unserer
Gewissheiten oder der überraschenden Erleuchtung sind wir uns selbst fremd,
verirren uns in den eigenen seelischen Urwäldern – deshalb arbeitet die
Selbstimmunisierung des Kulturbetriebs anhand der Künste genau an der
Pufferzone solcher Erschütterungen. In frühen Kulturen sorgten die Gesetze der
Nachahmung dafür, wie es bei Tarde heißt oder der Zwang zur Nachahmung und das
mimetische Vermögen, wie es bei Benjamin heißt oder die Partizipation an gemeinsamen
Körperrhythmen, wie dies Maturana nahelegt, dass die Invasion durch die Seelen
der Anderen, die Überlappung von Erregungszuständen, eine ständige Erfahrung
war, wie es Sloterdijk dargestellt hat. Wobei menschliche, tierische,
pflanzliche oder göttliche Andere nur graduell verschieden waren. Sie wandern
durch die Sinne in eine/n hinein – erst später begann die Sprache jene
Exklusivität zu beanspruchen, mit der die Offenbarung nur noch durch das Ohr
möglich sein sollte, während die anderen sinnlichen Wahrnehmungen ihrem Diktat
oder dem Tabu unterlagen. So wie das große Thema der Neuzeit Selbständigkeit
heißt, war das große Thema früherer Epochen die Besessenheit oder Besitzbarkeit
– für Sloterdijk ist die Rückkehr des Denkens in Besessenheitsbegriffen ein
Merkmal der Postmoderne, weil das transzendente,
von Gott versiegelte Ich mittlerweile verschwunden ist. Die Andersheit, die in
uns eintritt, macht uns anders. Nur weil diese Erfahrung hinter den kulturellen
Lattenzaun verbannt wurde, war sie nicht aus der Welt, aber seit die Panzerung
des Selbst als Behinderungssystem des ökonomischen Wachstums erkannt wird,
finden sich immer mehr Schlupflöcher jenseits der Reservate der Kunst. Die Dinge
haben eine Seele, die Gaben eine Kraft; sie unterscheiden sich nur graduell von
den Kräften des menschlichen Lebens. Tatsächlich sind der Mensch und die Gabe,
wie Mauss beschrieben hat, im Zeichenkreislauf des sozialen Körpers unterwegs,
womit das eine für das andere stehen kann.
Diskontinuität
der Selbsterfahrung und Jetzt der Erkennbarkeit sind dank dieser Entwicklung
nicht mehr im Schubfach für Sonderbegabungen unterzubringen, sondern haben einen
Stellenwert im Sozialisationsgeschehen erreicht, den Gumbrechts Begriffe
Präsenz und Phänomen umreißen. Er greift auf gewisse Voraussetzungen einer
aristotelische Präsenzkultur zurück, mit denen bewusst eine Haltung der
indirekten, schwebenden Aufmerksamkeit eingenommen werden kann, die es
ermöglicht, außerhalb der semantischen Ein- und Zuordnungen von Phänomenen in
speziellen Momenten ergriffen zu werden. Der von den
Kommunikationsmitteln herkommende Effekt der Greifbarkeit durch Bewegungen
zunehmender oder abnehmender Nähe und Intensität beeinflusst uns als
Kommunizierende; wir werden durch Nachahmungsneuronen in der körperlichen
Materialität affiziert. Wie nebenbei berühren sich Personen, während sie
kommunizieren – gerade bei den Dingen, die keiner Agenda folgen, sondern für
unser Gefühl bedeutsam sind. Der Raum, der währenddessen entsteht, ermöglicht
die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen, in mancher Hinsicht werden für
Momente die Standards der Abwesenheitsdressur suspendiert; auf einmal verschwindet
die Wolke des unverbindlichen Geschwätzes, geht es um keinen warmen Wind mehr. In
einer Sinnkultur unterstehen Menschen dem Imperativ, Vergrößerung und
Beschleunigung, die seelenlose Steigerung um der Steigerung willen, die rücksichtslose
Optimierung der Welt für ihre wichtigste Aufgabe zu halten. Sie
verabsolutierten mit diesem Leistungsprinzip kodifizierte Bedeutungen, denen
sie selbst nicht standhalten könnten, die sie als Idealisierungen aushalten,
obwohl sie ständig auf der Flucht vor ihnen sind. Dem Handlungsbegriff der
Sinnkultur entspricht in einer Präsenzkultur der operative Bereich der Magie,
also die Praxis des Präsentmachens abwesender Dinge oder die der Entfernung
präsenter Dinge. In diesen Zusammenhängen einer großzügigen Zeitökonomie wird
die Seele bereits als Funktion begriffen, nicht als Substanz, sondern als
relationales Geschehen der Wechselwirkung bewusster und unbewusster Anverwandlungen
oder Überschreitungen. Kamper weist in anderen Zusammenhängen auf einen Mimesisbegriff
hin, mit dem bereits eine Form der Vorahmung auf den Nenner gebracht wurde,
mittels körperlicher Gesten Wirkungen zu erzielen und das menschliche oder
naturhafte Gegenüber zu einer Anähnelung zu bewegen. Aus diesem Grund sind
magische Praktiken, die einer sehr tiefen Handlungs- und Ausdrucksebene des
Menschen angehören, auch heute noch an der Erzeugung von Wirklichkeit
beteiligt. Typisch für die Simulation in einer Sinnkultur ist die dauernde
Orientierung an Identität und Identifizierung; sie ist am Raum orientierte
Nachahmung. Die Mimesis dagegen arbeitet an Vorahmungen, die sich in der Zeit
vollziehen und eine erfahrbare Differenz offenhalten. Diese Erfahrung ist uns
noch immer jenseits der Subjekt-Objekt-Dichotomie zugänglich, wenn die Position
eines antiquierten Wissenschaftsanspruchs verabschiedet wird, auf der ein Subjekt
im Sinne Vicos oder Descartes‘ darauf besteht, die Bedingungen der Wahrheit des
Objekts, mit deren Hilfe Gewissheiten vertretbar sind, selbst hergestellt zu haben.
Diese Spielform der Tautologie mag unhinterfragbare Wahrheiten herstellen,
allerdings nur sehr wenig über das Repertoire an Erfahrbarkeiten aussagen.
Das
‚Lob des Sports‘, die Ausführungen zum ‚Handwerk‘ oder die Beobachtung der
Gesetzmäßigkeiten der ‚Präsenz‘ legen nahe, warum gerade die Beherrschung einer
Technik und die souveräne Verfügung über die Regeln jene Erfahrung erschließen,
in der wir für Augenblicke nur noch im Hier und Jetzt sind, versunken in einer
fokussierten Intensität. Was wir besonders gut können, können wir ohne
Überlegung; Körpererfahrung und Selbstwahrnehmung dehnen sich im Raum aus und
berühren die oder überlappen sich mit den Phänomenen; die gewachsenen Routinen bewegen
sich in einer Eigenzeit fast wie von selbst. Gerade die körperlichen Abläufe,
die fast reflexartig ausgeführten Vollzüge sorgen für die Unmittelbarkeit einer
Präsenz. Doch das geschieht eben nicht, wenn wir von fremden Virulenzen erfasst
werden oder uns durch Bildwelten verführen lassen, sondern erst dann, wenn es
gelingt, durch die nötige empathische Kapazität die Intensitäten eines Geschehens
zu teilen, sie zum Erscheinen einer Ganzheit, einer säkularen
Wiederverzauberungsstrategie zu steigern. Für einen Moment ist nichts mehr, wie
es als plattes Klischee, als Worthülse oder breitgewalzte Phrase unsere
Erfahrung behindert. Am schlimmsten wirkt noch der Zusammenstoß mit einer
Rhetorik, die als spezifisch menschliche Errungenschaft, mit Sätzen das
Richtige zu vertreten oder gar durchzusetzen, durch Juristen oder Politiker
desavouiert wird, wenn das Rechthaben die Wirklichkeit zunagelt oder die
Kasuistik der Theologen konkrete Einzelfälle im Sinne eines metaphysischen
Systems verbiegt. Auch wenn der Mensch ein sprachliches Wesen ist, die Welt, in
der er sich bewegt, durch die Sprache strukturiert wird, gibt es latente
Wissensweisen und subliminale Impulse, die auf ein körperliches System der
Orientierung verweisen, das von den sprachlichen Vorgaben verdeckt und oft
sogar zugepflastert wird. Žižek beschäftigt sich neben
dem anarchistischen Ansatz einer Verkörperung von Evidenz immerhin mit dem von
Lacan unterfütterten Versuch, mit der Sprache gewissen Wahrheiten näher zu
kommen. Eine Aussage entspricht für ihn zwar nicht dem realen Zustand der
Dinge, also der direkten Sicht des Gegenstands ohne perspektivische Verzerrung,
sondern sie zeigt genau das Reale des Antagonismus, der die okulare Verzerrung
verursacht. Für ihn gibt es eine Wahrheit, es ist nicht alles relativ, aber
diese Wahrheit ist die Wahrheit der perspektivischen Verzerrung als solcher,
nicht die Wahrheit, die durch die verzerrte Teilansicht aus einer einseitigen
Perspektive behauptet wird. Das könnte immerhin an den fallibilistischen Ansatz
eines Peirce oder an Poppers Logik der Forschung erinnern, mit denen alles relativ,
aber relational aufeinander bezogen und aus diesem Grund in keinster Weise
irgendeiner Willkür ausgeliefert ist. Doch seltsamerweise folgt er nun Lukács, der
aus der Fülle der Meinungsvarianten ein wahres, nur von einer interessierten,
parteiischen Position aus zugängliches Wissen postuliert. Bereits in der ersten
deutschsprachigen Hermeneutik eines Chladenius gibt es einen Punkt: Auslegung
vernünftiger Reden aufgrund einer Theorie des „Sehe-Punktes“, womit eben die
verschiedenen Perspektiven zu verschiedenen Meinungen führen – und dank einer
katholischen oder ein paar Jahrhunderte später einer marxistischen Theologie
genau jener parteiischen Unumstößlichkeit unterworfen werden. Womit wir in jeder
Blase der Interessenvereinigung wieder einem das Denken beschränkenden
Dogmatismus begegnen. Bei seinem breiten, durch Psychoanalyse und Film
geprägten, philosophischen Repertoire ist dieses Ergebnis sehr wahrscheinlich
der okularen Paranoia des kartesischen Systems zu verdanken. Seit dem Panoptikum
der bürgerlichen Augenüberwachung hat das optische Paradigma über den Umweg
erzwungener völkischer Gemeinsamkeiten und einer Blut- und Bodenideologie eine
Verjüngung über die prägenden Konformismen der sozialen Medien erfahren. Anhand
technisch unterfütterter, multimedialer Riten der Verdummung ist eine
aktualisierte Form des Dogmatismus problemlos zu tarnen. Im Resultat ist diese
Position mindestens so schädlich und dumm, wie eine auf die Durchsetzung des
Rechthabens beschränkte Gerichtsrhetorik. Mit den in den Künsten und der
kreativen Arbeit geübten Formen der sinnlichen Wahrnehmung sollte es zu
schaffen sein, nicht an alternativen Wahrheiten hängen zu bleiben, die
Erfindungen von machtbesessenen Lügnern sind.
Für einen behutsamen
Umgang mit verschiedenen Varianten der perspektivischen Verkürzung, die als
Polaritäten in einem Kräftefeld figurieren, ist an Heraklits Vorstellung eines
universellen Logos zu erinnern, demzufolge sich alle Ambivalenzen in einem
Gleichgewicht befinden und letztlich eine spannungsvolle aber harmonische
Einheit bilden – eine Lebensaufgabe, an der wir nur gewinnen können. Als
leichter Zugang bieten sich für diese Aufgabenstellung Zitate von Georg Steiner
an. Er entwickelt in dem Gespräch über die Kunst der Kritik eine
fundamentierende Form der Deutung, die der liebenden Zuwendung abgelauscht
wurde: „Ein bedeutender Akt der Interpretation kommt dem Kern des Werkes immer
näher, und er kommt niemals zu nahe. Das Entscheidende an einer großen
Interpretation ist das Scheitern, die Distanz, der Punkt, an dem sie hilflos
ist. Aber ihre Hilflosigkeit ist dynamisch, sie ist selbst suggestiv, beredt
und artikuliert. Die besten Deutungsakte sind Akte der Unvollständigkeit.“ –
Diese dynamische Hilflosigkeit umreißt einen produktiven Ansatz des hermeneutischen
Geschehens, der um fachspezifische Verklammerungen am Identitätsprinzip
erleichtert wieder der Lebendigkeit biographischer und kommunikativer Zusammenhänge
zugeführt werden sollte. Seit Freud gehen wir davon aus, die Produktion von und
die Beschäftigung mit Kunstwerken resultieren aus Sublimationen der Sexualität
und des Begehrens, sind oft genug sogar Surrogate eines Verhältnisses der
Geschlechter. In Reservate verbannte Nischenprodukte Luhmanns maximaler
Unwahrscheinlichkeit, die stellvertretend in herausgehobenen Stunden, an
speziell gekennzeichneten Orten, genossen werden dürfen. Ob im Bordell oder in
Museen und Galerien, der Umgang mit erotischen oder kulturellen Artefakten
beweist wie alle zwanghaften Beschäftigungen des Menschen einen Mangel an Befriedigungsfähigkeit.
Die Sublimation im Dienste des Triebverzichts gehorcht vielleicht dem Klischee
einer die körperlichen Bedürfnisse überformenden Bildung, aber im Resultat
unterscheidet sich dies nicht von den Zwängen, sich die Birne zuzusaufen, von
einem Fastenritus zum nächsten zu hungern oder in einer Achtzigstundenwoche
immateriellen Umsätzen hinterher zu hecheln. Wenn Bohrer den meisten
Geisteswissenschaftlern einen Mangel an Wahrnehmungsfreude und erotischem Sinn
attestiert, beweist dies nur, wie ein exzessives Ausweichen in Produkte der
Imagination und kontinuierlich vorbeirauschende Vorstellungen das Unvermögen
des Normalverbrauchers potenziert, sich auf ein reales Gegenüber einzulassen.
Die der Angstbewältigung verdankten Zwänge sorgen bei den einen dafür, selbst
kleine Routinen der täglichen Lebenszusammenhänge akkurat vorzubereiten,
möglichst nichts dem Zufall zu überlassen und den Einbruch aller
Unwahrscheinlichkeiten der Lebendigkeit auszusperren. Während andere allein
schon von der Vorstellung zu versagen derart ausgebremst werden, dass sie
sicherheitshalber nicht einmal Kleinigkeiten auf die Reihe bringen, damit also
die Wette auf die eigene Leistungsfähigkeit bereits beim Start verweigern. Nur,
wenn einem/r nie mehr entgegen kommt, als dies so oder so schon durch eine
vorgegebene Programmierung festgeschrieben wurde, ist es nicht verwunderlich,
wenn das Interesse einschläft und die Welt in einer Ansammlung geisttötender
Klischees erstarrt. Natürlich strengt das Leben an, außerdem stinkt es, ist
frustrierend und auf die Dauer lebensgefährlich; aber das ist noch lange kein
Grund, vor allem zurückzuschrecken, was das wirkliche Leben ausmacht. Ohne den
Resonanzraum des körperlichen Geschehens verwandelt sich sogar das intuitive Wissen
eines Gut-dass-es-dich-gibt in das steinerne Erinnerungsmal für ein irgendwann
einmal durch eine/n begehrenswerte/n Andere/n bis zum Hals hoch klopfendes
Herz. Obwohl ganze Kulturen auf die Verewigung durch den Stein gesetzt haben,
verwittert dieser mit der Zeit und wird in einer ungerührten Endlichkeit bis
zur Unkenntlichkeit abgeschliffen.
Jede echte Liebe ist schmerzhaft, ein risikoreicher Kampf auf Leben und
Tod. Wenn wir sie gewähren lassen, wird uns ein mitten im Herz steckenden
Messer ohne Griff an dem die Klinge fehlt für immer verwandeln. Nach
Jahrhunderten einer Dressur zur/m identisch Einen tut sich in begnadeten Momenten
die Chance auf, ein/e Andere/r zu werden. Im Gegensatz zu allen pygmalionischen
Ambitionen, das geliebte, von einem selbst modellierte Geschöpf von Grund auf
zu kennen und damit einen latenten Lernprozess psychischer Veränderungen zu
blockieren, wird die
bejahte, liebende Beziehung zu einer/m von einem/r unabhängigen Anderen eine
lebendige Offenbarung des Unergründlichen. Erst eine derartige Beziehung ist in
der Lage, uns die Augen zu öffnen für das, was in Wahrheit ist – für die
göttliche Erfahrung, wie das Unergründliche erst vom Unergründlichen erfasst
wird: Ohne Worte, dennoch als Oxytocin überzeugend in den gemeinsamen Orgasmen.
Solange wir die Grundlage dieser Wahrheitswerte nicht im biochemischen
Körpergeschehen lokalisieren – „Gott ist ein Peptid“ –, erklären der Rückgriff
auf Transzendenz oder die Gegenwart Gottes nicht zwingend, warum Sprache in der
Lage ist, die überzeugende Gegenwart von Sinn und Gefühl zu vermitteln. Das
theologische Fundament von Steiners realer Gegenwart – die noch immer die
Gegenwart Gottes imaginiert – kann durch Gumbrechts Ausführungen zur
Selbsterfahrung als körperlicher Präsenz relativiert werden. Bohrer hat auf die
Verwandtschaft zur Konzeption einer ästhetischen Plötzlichkeit hingewiesen; er gehorchte
offensichtlich einem dem seinen vergleichbaren Antrieb der ästhetischen
Wahrnehmung. Während er die Erfahrung der Plötzlichkeit am literarischen Stil
und überwältigenden Ausdruck erfuhr, verfolgte Gumbrecht Momente der
Herausgehobenheit aus den täglichen Gewohnheitsmustern vor allem in der
Partizipation an sportlichen Leistungen. Beide konzentrieren sich auf die
Erscheinung eines Geschehens, ohne die Dinge sofort zu interpretieren – alles
Wahrgenommene hat damit nicht automatisch eine Bedeutung, aber es wird als
Anlass, über den eigenen beschränkten Horizont hinauszugehen, bedeutsam.
Zwischen dem
religiösen Erhebungsmotiv passiv Gebannter und der ekstatischen Erfahrung
fremdgesteuerter Konsumenten gibt es eine Pforte, die zur biochemischen Erdung
göttlicher Energien einlädt. Dank einiger psychedelischer Offenbarungen haben
die Haschischaufzeichnungen Benjamins anfangs zwar für Orientierungen im
Labyrinth der von der Sprache gesteuerten Halluzinationen gesorgt, doch später
haben die in der Werkausgabe verstreuten Ausführungen zur Geistesgegenwart
einen fruchtbareren Zugang aufgeschlossen. Wenn bestimmte Wissensbestände und
Verhaltensweisen zu verselbständigten Routinen werden, können sie im Augenblick
der Gefahr, wenn wir in der Lage sind, uns unter dem Einfluss einer Einkesselung
gehen zu lassen, zu blitzartigen Reflexen werden. In einer mantischen Wolke
führen unmittelbare Reaktionen für ein wesentlich schnelleres Kontern, als ein im
Alltag geschultes, aber durch Denken ausgebremstes Bewusstsein zustande bringt.
Nichts anderes meint die Formulierung, die Gegenwart des Geistes verbürge allein
der Leib. In der Gefahr verselbständigt sich der Körper über den Kopf hinweg, jenseits
der Einschränkungen eines abstrahierenden und wertenden Bewusstseins. Die körperliche
Aktion wird eins mit der Kommunikation zwischen den Dingen und der Welt. Aus
dieser von Nietzsche angeregten Einsicht ist heute eine philosophische Debatte
über die Verkörperung von Wissen und Einsicht geworden. Allerdings tritt dabei
die Plötzlichkeit der reflexartigen Reaktion in den Hintergrund oder verliert
zugunsten einer Ästhetisierung an Schlagkraft zugunsten einer Konzeption des Geistes,
die ein über die Körper hinaus die Umwelt überstreichendes oder ein in die
jeweiligen Kontexte eingebettet Beziehungsfeld beschreibt. Was Benjamins
sprachmystische Spekulationen aus dem Umfeld von Freuds ‚Psychoanalyse und
Telepathie‘ zur materialistischen Erdung verwendete, wird mittlerweile von der
Konstellationsforschung eingekreist. Wenn Henrich nachvollzieht, in welchen Köpfen
die Kantschen Kritiken ganz verschiedene Anregungen freisetzten, deren
Einflüsse schließlich bei Hölderlin, Schelling, Hegel oder den Schlegels
qualitative Sprünge bewirkten, sei es in den deutschen Idealismus sei es in die
revolutionäre Frühromantik, externalisiert er Wirkungszusammenhänge der
Inspiration. Der psychische Biomagnetismus ist ein Feld, das weit über den
einzelnen Menschen hinausreicht und sich zwischen den Teilnehmern eines
gemeinsamen theoretischen oder auch praktischen Unternehmens einspielt. Sie
partizipieren an einem solchen Feld, haben am Fluktuieren der Meme teil, halten
manchen Geistesblitz für einen der ihren, obwohl sie zufällig die Antenne haben
und unwillkürlich im richtigen Moment die
Frequenz einer von mehreren gerade freigesetzten Virulenz treffen.
Demzufolge resultiert das Ausschlussverfahren eines sozialen Todes aus dem
Kappen dieser Antenne, aus den willentlichen Störungen, die über den
gemeinsamen vorbewussten Empfang verfügt werden. Wenn unter solch bösartigen
Einflüssen noch etwas hilft, sind dies frühere, auf Distanzleistungen beruhende
Routinen und das Vertrauen auf körperliche Reaktionsweisen, die in Situationen
der Bedrohung und nach ekstatischen Passagen des Ichtods plötzlich Wissensweisen
freisetzen oder für entscheidende Zeitpunkte gewisse Begegnungen ermöglichen.
Von da an findet eine Gradwanderung statt: Statt den Draht zur Mimesis zu
kappen und zu verlieren, stumpf, abweisend und in uns eingekapselt zu werden, leiteten
wir die Impulse in eine immer feinere Einfühlungsgabe um, in die Aufmerksamkeit
für subliminale Signale.
Auch die
Konzeption der Konstellation – seien es Sternbilder, seien es Stars der Theorie
oder Literatur – hat bereits Anregungen im Darstellungsbegriff der erkenntniskritischen
Vorrede zum Trauerspielbuch gefunden, denn weder Themen oder Motive, noch
Personen oder Weltanschauungen sind in ihrer Isolation zu verstehen, sondern
erst aus den vielfältigen Beziehungsnetzen jener unzähligen Relate, zwischen
denen ihre Inkommensurabilität sich darstellt. Die eine, alles erfassende
Wahrheit ist für Menschen nicht zu haben, doch wenn eine/r in erleuchteten
Augenblicken auch nur in die Nähe kommt, erweist diese sich als eine Ansammlung
maximal unwahrscheinlicher Widersprüche. Bereits in der Antike galt die dieser
überfordernden Ambivalenz angemessene Weisheit als unerreichbar, empfohlen
wurde, sie nur mit dem gehörigen Abstand zu lieben und zu bewundern – nicht
viel anderes bringen heute theoretische Physiker zustande, die mit Hilfe ihrer
Computer dem Geheimnis der Materie auf der Spur sind und sich zugleich damit
abfinden müssen, wie wenig ihre Ergebnisse noch mit dem alltäglichen
Vorstellungsvermögen nachzuvollziehen sind. Doch bereits der Gedanke, die Weisheit
in einer Ideenwelt zu situieren, bereitete ein Sprungbrett in den Monotheismus
vor, der mit der Verachtung allen weltlichen und materiellen Geschehens eine
strikte Subjekt-Objekt-Dichotomie in die Welt warf. Im Gefolge von Descartes Unterscheidung
zwischen res extensia und res cogitans, prägte Kant strikte Trennung von Innenwelt
und Außenwelt, Hegels Unterscheidung von Subjekt und Objekt das wissenschaftliche
Weltbild der Moderne. Diese starren Unterscheidungen und Trennungen sind unter
der Voraussetzung einer vernetzten Gesellschaft und der Verflechtung
psychischer Systeme mit technischen und informatorischen Systemen längst nicht
mehr aufrecht zu erhalten. Das soziale Gewebe, in dem sich Individuen
definieren und bewegen, hört nicht an der abgrenzenden Haut auf, sondern
untersteht und befördert Übertragungen, je nach Wissen und Intensität füttert
es ausgedehnte energetische Felder.
Manche intuitiven
Einsichten, die die Mythen und Erzählungen transportieren, um in der Theologie
dann gereinigt und pervertiert zu werden, wurden von den Mystikern gepflegt, soweit
es die Kirche zuließ. Doch erst im Gefolge der revolutionären Frühromantik wurde
ihre Sprengkraft wiederentdeckt. Sie bereiteten die Konzeption des Freudschen
Unbewussten vor oder die kosmologischen Spekulationen des vergangenen Jahrhunderts
bis zu den Inspirationsquellen des New Age für die Wissenschaften. Es ist also
nur stimmig, wenn es mittlerweile verschiedenste Zugänge zur Verkörperung des
Geistes gibt und ganz verschiedene Wahrheiten nicht mehr im Jenseits situiert,
sondern in den Reaktionsformen des Körpers oder in der Oberfläche von Medien
der Darstellung aufgesucht werden.
Benjamin hat
einige seiner besten Einsichten aus den Klassikern gekeltert, um mit diesem
Repertoire die Ideenlehre in ein Relationssystem kanonischer Texte zu
verwandeln. Diese erkenntnistheoretischen Grundlagen erscheinen noch einmal
verjüngt in den Geschichtsphilosophischen Thesen, in denen spezifische
historische Konstellationen präsentiert werden. Bei den in verschiedenen Formen
auftretenden Reprisen des Übergangs vom Mythos zu Aufklärung gibt es Anleihen
sowohl beim Mythos, wie bei der Theologie, wobei beide, wie später der Bezug
auf den historischen Materialismus, nur als Relate innerhalb der Konstellation
eines Denkens fungieren, damit aber zu überraschenden Einsichten führen.
Angeregt von diesem Verfahren gehen wir von Erfahrungsmustern aus; der
unergründliche Übergang vom Körper zum Leib wird durch die allmähliche Erschaffung
junger Augenblicksgötter (Usener) geleistet; schließlich sind sich
verschiedenste Traditionslinien darin einig, die unergründliche Gabe des
Menschen sei die Liebe und nur das Unergründliche könne dem Unergründlichen
gewachsen sein. Dieser Kontext legt es nahe, Steiners Kennzeichnung der Kritik auf das
Verhältnis von Nähe und Ferne, auf das Glück des Unvorhergesehenen, auf die
dauernden Interpretationsversuche zurückzubeziehen, mit denen ein Paar in der
Beziehungsarbeit außer Zukunftsplanung und Selbstidentifikation, das Bedürfnis
nach Vertrauen und Sicherheit, wie das auf Selbstentfaltung und Emanzipation,
zu koordinieren hat. Beziehungsarbeit heißt, sich aneinander abzuarbeiten, sich
in der Beschirmung der zugrundeliegenden Einsamkeiten näher zu kommen, um
gerade wenn einer/m gewisse biographischen Daten zu nahe treten, eine
respektvolle bis schonende Distanz einzunehmen, die zu immer wieder neuen Mühen
um die Nähe der/des Anderen anspornt. Aus diesem Grund bietet es sich an, diese
Konstellation mit einem weiteren Zitat in Zusammenhänge zu versetzen, die weit
von jener Harmonie entfernt sind, die die Friede-Freude-Erlösungsmentalität
unbeleckter Verliebtheiten projiziert. „Ich
würde gern dieses Paradox entwickeln: dass das Begehren und die Vitalität der
Ehe dort eine viel bessere Überlebenschance haben, wo tiefe Feindschaft
herrscht.“ Steiner lässt
hier unentschieden, ob es die menschheitsgeschichtlichen und genealogischen Ambivalenzen
im Verhältnis der Geschlechter sind, die zu dem führen, was wir schon im
‚Altpapier‘ die Liebe als Duell genannt, über die Jahrzehnte hinweg
dokumentiert, durch die Schreibe einzufangen und um dessen Energie zu
erleichtern versucht haben. Oder ob damit die in der ‚Katastrophenpädagogik‘
dargestellten, gesellschaftlichen Zusammenhänge gemeint sind, in denen unter
dem Schatten eifersüchtiger Mütter bereits die Zugangsbedingungen zu den
Großinstitutionen, wie auch die Ausschlussbedingungen normaler Arbeits- sprich
Abhängigkeitsverhältnisse, jede Exklusivität der Beziehungsarbeit permanent
stören und auf die Dauer ausschließen. Ganz im Sinne des Benjaminschen Unternehmens
ist also zu zeigen, wie Spannungen als Bedeutsamkeiten zu moderieren sind.
Prinzipiell oder historisch vorliegende Ungleichgewichte müssen immer wieder
neu in einem Mobile austariert werden, damit Widersprüche und Gegensätze auf
einer übergeordneten Ebene zu einer Harmonie zusammenklingen können. Womit wir
jenen menschheitsgeschichtlichen Bereich streifen, in dem neben
Selbstzerstörung, Hass oder Krieg sogar Harmonien zum Tragen kommen durften.
Die Liebe wächst an den Schmerzen, die zwei einander antun müssen, wenn sie zu
Ende geboren werden, wenn sie jenen Punkt erreichen wollen, an dem sie
abgenabelt wirklich für einander da sein können. Wer hinter diesen Schmerzen
angekommen ist, stimmt ein in ein Lachen, in dem sich das Gesetz des
symbolischen Tausches zu erkennen gibt. Gebe, so wird dir gegeben, verschwende
dich, und du leidest keinen Mangel. Ein Paradoxon, das sich schon an der
Tatsache erweist, dass sich Gefühle verdoppeln, wenn sie geteilt werden! Das
bis auf die Erfahrung des Heiligen zurückgehende Gesetz dieser Welt ist der symbolische
Tausch, der immer wieder eine unerbittliche Wahrheit herstellt: Es gibt nichts
umsonst und nichts bleibt, das nicht vergolten wird.
Die Gesetzmäßigkeiten, die Žižek aus einem
Hollywood-Melodram als Botschaft der wahren Liebe filtert, scheinen auch für
unsere Liebe als Duell die Weichen gestellt zu haben, mit denen ich als
Belohnung für eine verzweifelte Überlegenheit zur persona non grata erklärt
werden konnte. Vergeblich habe ich um die Liebe der von mir begehrten Frau gerungen,
aber weil sie in ständigen Abwesenheiten schwebte, ihr zu beweisen versucht,
dass ich ohne sie überleben würde. Ich konnte ihr meine Auswanderung in die
Geisteswissenschaften vorziehen, selbst wenn sie alles für mich war. Am
effektivsten stellte sie diese Liebe auf die Probe, indem sie mich im
entscheidenden Moment verriet. Nach dem Abschluss der Magisterarbeit und direkt
vor dem mündlichen Examen gab sie vor, zu einem anderen zu ziehen. Nach dem von
Žižek vorgegebenen Schema habe ich
diese Negation, trotz eines schwindelhaften Sogs, der mit der Vorstellung einherging,
aus dem fünften Stock zu springen, überstanden und meine Aufgabe völlig
traumatisiert, aber in der Feld einer gewaltigen Virulenz so erfolgreich bewältigte,
dass mir zwei Professoren Promotionsangebote machten. Dem Gesetz des Melodrams folgend
habe ich mich dieser Lebensgefährtin als würdig erwiesen; sie war
zurückgekehrt, um kein dreiviertel Jahr später, nach dem Abschluss der Doktorarbeit
in einer abgemilderten Feuerprobe das gleiche Spiel noch einmal zu versuchen.
Doch dieses Mal mit dem sich ein paar Monate nach dem Rigorosum einstellenden
Erfolg, dass sie der traumatisierte Part war. Ich hatte die Spannung gehalten,
mich auf meine Ausarbeitung und die Vorbereitung weiterer Themen konzentriert,
hatte mir gesagt, dass sie doch machen sollte, was sie aufgrund irgendwelcher
Zwänge machen musste – und sie bestrafte sich mit einer Colitis. Damit war
allerdings endgültig klar, dass dieses Spiel der konfliktuellen Mimetik ein
Ende haben sollte: Die schlimmstmögliche Wendung wäre gewesen, auf den
Prägungsmustern imaginärer Größenvorstellungen zu beharren, auf die Frau zu
verzichten und sich damit dem Verheizungsgeschehen einer Institution auszuliefern.
Gegen diesen Imperativ einer delegierten Selbstzerstörung, der noch immer
darauf angelegt war, mich ganz im Sinne Ortegas auszubremsen, um die
Gesetzmäßigkeiten des elterlichen Signifikantennetzes zu verschonen, begann ich
mich für meine Lebensgefährtin zu reservieren. Nachdem die Weichen für eine mögliche
geisteswissenschaftliche Karriere mit einem Habilitationsangebot gestellt waren,
verwendete ich die ausschlaggebenden Begegnungen dazu, mich abzuseilen. Während
ein ehrgeiziger Literaturprof mich regelmäßig abpasste, gab ich zweimal klar zu
verstehen, für die Rolle eines Bildungsbeamten nicht geeignet zu sein: ‚Damit
relativiere ich mich nicht‘. Ein Jahr lang blieb ich allen universitären
Veranstaltungen fern, widmete ich mich ausschließlich der Liebe meines Lebens,
half ihr, die Spannungen, unter denen sie stand, in Worte zu verwandeln und
durch die Schreibe zu mortifizieren. Aber statt in die Ausbremsung durch
Verzicht und Melancholie einzuwilligen, ergab sich der Ausweg, die Energien in
einen gemeinsamen Roman umzuleiten. Nach Foucault entdecken wir, wenn wir verzweifelt sind,
eine natürliche Verwandtschaft mit dem Wahnsinn, der die Abwesenheit des Werks
ist. Wenn in vielen Fällen der Mangel an Objektivierungen des Grauens zum
Absturz führt, halfen uns die Routinen über einen Abgrund hinweg, die ich die
letzten zwei Jahre learnig by doing den Kursteilnehmer zum Creative writing als
Selbsterfahrung beigebracht hatte. Im Laufe des Tages
gingen wir die Aufschriebe des Vormittags durch, lasen uns Abschnitte
gegenseitig laut vor, in denen irgendwelche holpernden Rhythmen oder seltsame
Metaphern oder eklatante Widersprüche zu klären waren. Entscheidend war,
dahinter zu kommen, wo die Selbstbestrafung herkam, die sich hinter dem Programm
versteckte, selbst groß zu sein, auf keinen Mann angewiesen sein zu wollen.
Warum lauerte hinter dem Ehrgeiz, sich selbst überall durchzusetzen, ohne auf
einen Partner Rücksicht zu nehmen, tatsächlich die Angst, von eben diesem
Partner enttäuscht zu werden? Aber auch, wo kam diese absurde Strategie her,
sich selbst lahm zu legen und eigene Chancen als Bedrohungen zu kodieren? Um
die Energie einer gemeinsamen Selbsterkundung auf beide Seiten zu verteilen,
begann ich meine Aufzeichnungen über die Verführung durch einen Päderasten
beizusteuern; die Winkelzüge einer Mutter aufzudecken, die mich in den Mythos
des Heros und der Göttin verstrickt hatte. Deutlich wurde, wem ich den Mangel
an Erfahrungen mit dem weiblichen Geschlecht zu verdanken hatte, wie die daraus
folgenden, durch die sekundäre Sozialisation am anderen Ufer bedingten Vollzugsschwierigkeiten.
Wir analysierten und überarbeiteten auch diese Texte gemeinsam und griffen auf
alle Aufzeichnungen aus den siebziger Jahren zurück. Unterstützt durch tägliche
Massagen und Sex pur war nach diesem Jahr nicht nur die Colitis überwunden,
sondern auch die Angst vor der Angst in Schach gehalten. Außerdem lag die erste
Rohfassung unseres Romans ‚Altpapier‘ vor – und damit das Material, mit dem die
Stuttgarter Literaturwissenschaften später objektive Gründe vorlegen konnten,
um eine Intrige zu befeuern, die allein mit der gekränkten Eitelkeit eines
Professors nicht zu rechtfertigen gewesen wäre. Sie zielten die Zerstörung der
Beziehung und besonders meine Vernichtung an; es brauchte noch drei Jahre
ständiger psychotische kleiner Nadelstiche, dank denen regelmäßig Delegierte
geknickt oder aus dem Spiel gekegelt wurden, während wir uns mit einem beschränkten
Verleger rumärgerten. Der hatte sich zwar sehr schnell gefunden, aber immer
wieder auf neuen Kürzungen und Umarbeitungen bestanden – er war nicht der
literarisch völlig unbeleckte Ignorant, auch nicht der gefühlsblinde Sadist,
den er vorspielte, aber er hatte den Auftrag, sich als ebensolcher zu
verhalten. Als all das nichts half, um mir den Mut zu nehmen und den Antrieb zu
zerstören, lancierten die Intriganten eine Einladung zum Gründungsrat für ein
Literaturinstitut in der Sächsischen Staatskanzlei. Während aus meiner
Materialsammlung zum Thema Kulturarbeit und Mortifikation die nötigen Thesen
für eine Neukonzeption des ehemaligen Becher Literaturinstituts entstanden,
ließen sich die Krüppelzüchter absurde Zeichensysteme einfallen, um mich
abzuschrecken oder einzuschüchtern, um mir auf jeden Fall nahezulegen, gar
nicht erst nach Dresden zu fahren. Aus der Materialsammlung entstanden in den
nächsten drei Jahren die beiden Bände ‚Philosophischen Sperrmüll‘ – und das
zeitliche Umfeld des Todeslaufs in Dresden wurde fünfzehn Jahre später als
‚Literagonie‘ dokumentiert.
Žižeks
Paradox besteht aus einem platonischen Sidekick. Er begründet, dass die Liebe,
genau deshalb, weil sie das Absolute ist, nicht als direktes Ziel angezielt
werden darf, sondern den Status eines Nebenprodukts behalten muss, das heißt
von etwas, das uns als unverdiente Gnade zufällt. Diese unverdiente Gnade ist
tatsächlich die der platonischen Evidenz, und weil das Auge den immateriellsten
Sinn bedient, ist es eben die Frau, die auf den Status eines Nebenprodukts
reduziert wird. Wenn es bei Lacan heißt, der Mann suche in der Frau alle
Frauen, also die Mutter, während die Frau im Mann über den Erzeuger verfügen
will, ist mit dieser Rollenverteilung tatsächlich sein Dictum eingelöst, es
gäbe kein Verhältnis der Geschlechter –womit die Verabsolutierung der Liebe
zwingend wird. Die Liebe gehorcht unter den Voraussetzungen des Schautriebs dem
Aufgeilen und Ausreizen, dem Sachverhalt des gegenseitigen Ausspielens
innerhalb der kulturschwulen Vereinigung – ich biete dir, was du gar nicht
haben willst und wenn du nicht spurst, strafe ich dich damit, dass du nicht bekommst,
was du gar nicht haben wolltest. Ein explosives Gemisch aus Selbstbetrug und
Hochstapelei, Opferverhalten und Erpressung, das tatsächlich von einer Idealisierung
der Liebe angetrieben wird, die unerfüllbares Begehren und Angst vor dem
Versagen derart verschränkt, dass im Resultat Hass oder Resignation,
Verzweiflung oder Abwendung, eine Quittung für das verpasste Leben ausstellen. Dabei
ist die idealisierende Überhöhung durch die Vergrößerung der Abstände nicht nur
ein Irrweg des Verfehlens, sondern auch völlig ineffektiv und damit
überflüssig, denn das Verhältnis der Geschlechter stellt sich von ganz alleine
ein, wenn das Zusammenspiel der komplementären Hormonsysteme in schöner
Regelmäßigkeit hochgekitzelt wird. Durch die hinter uns liegenden familiären
Verhältnisse gingen wie allerdings auch von anderen Voraussetzungen aus, als durchschnittliche
Simulanten der Selbstheit, für die die Ehe jene Sicherheit und Stillstellung zu
verbürgen hat, dank denen sie sich immer wieder einmal an einem Abenteuer – und
wenn es nur im Imaginären abläuft – versuchen müssen. Ich hatte mit einer
Mutter gebrochen, die alles für sich haben wollte und mich als ihr Eigentum
betrachtete, die mir nicht einmal einen eigenen Vater gegönnt hatte – und die
schließlich die erste war, die unsere noch junge Beziehung versuchte zu torpedieren.
Außerdem waren wir uns von Anfang an einig, keine Kinder zu machen: meine
Lebensgefährtin war sich bewusst, dass sie als Einzelkind nicht bereit wäre,
mit einem Kind zu teilen, und ich hatte mich sterilisieren lassen, schon um dem
Risiko zu entgehen, den Verstümmelungen meiner Kindheit in der nächsten
Generation erneut zu begegnen. Natürlich besitzt die Liebe die Struktur jenes
Ausnahmezustands, der viele normale Funktionsweisen des eigenen Gefühlslebens außer
Kraft setzt. Sie befördert uns nach der ersten Verliebtheit aufgrund
divergenter Familienromane in einen Krieg, in dem alles zu Debatte steht, mit
Füßen getreten und verleugnet wird, bis das einzige, was auf der Folie der Verzweiflung
wirklich zählen soll, eine idealisierte Liebe ist, die man/frau vergeblich
erwartet, solange diese Exklusivität jede/r für sich beansprucht. Ohne das
Schmiermittel Sex pur ist die Geschichte auf die Dauer hoffnungslos, doch mit einer
Verheißung, das Paradies zu ervögeln, ergibt sich, wenn es gut läuft, der
notwendige Schritt auf einander zu. Gerade die Erfahrung des Ausnahmezustands weckt
die Aufmerksamkeit, um verschiedenste Beobachtungen auszuwerten. Sie erweisen,
wie und warum der Krieg von all jenen ausgeht, mit den Eltern, Geschwistern
oder besten Bekannten angefangen, die mangels eigener Kapazität dem Zwang
unterstehen, eine exklusive Beziehung zu behindern und zu zerstören. Für den Imperativ
der Vernichtung braucht es noch nicht einmal institutionell abgesicherte
Intrigen – obwohl die in genau dem Augenblick zur Stelle sind, wenn das Paar
durch alltägliche Verführungen oder Störungen nicht mehr erreichbar ist.
Schritt für Schritt bestätigt die Fixierung und Ausarbeitung solcher
Erfahrungen das Paar in einer einzigartigen Position jenseits jener
Verzichtleistungen, die die sich selbst als normal definierenden Leute modelliert
haben. In ihrem erinnerungswerten Text ‚Geschlecht oder Kopf‘ gehen für Cixous
alle hierarchisierenden Oppositionen zurück auf die Opposition Mann/Frau, die
nur aufrecht erhalten werde durch die als naturgegeben vorausgesetzte Differenz
zwischen Aktivität und Passivität. Die hergebrachten Theorien der Kultur oder
Gesellschaft, alle gängigen symbolischen Systeme die uns sprechen machen als Diskurs,
Kunst, Religion, Familie… bauen auf Oppositionen, die zwanghaft im Zentrum des
Beziehungsfelds von Paaren installiert sind. Das Paar hält diese Todesmaschinerie
mit allen nur denkbaren Ambivalenzen des Dazwischen am Laufen – die einen hören
schnell auf, um nach Surrogaten Ausschau zu halten, andere halten so lange
durch, bis sie sich soweit ruiniert haben, dass die Resignation eine gewisse
Erleichterung verspricht. Man/frau möge sich also mit den Gesetzmäßigkeiten des
Paars beschäftigen, wenn sich eine unwahrscheinliche Chance einstellen soll, das
komplette System aus Lüge und Verleugnung auszuhebeln. Das Paar, gerade weil es
nach vorgegebener Erwartung alles andere eher sein soll, ist ein ständiger
Kriegsschauplatz der Kultur, der über Abwesenheit und Begehren, Sehnsucht nach
Nähe und manischen Fluchtverhalten, Geilheitsdressur und Versagensangst, jene
Energien freisetzt, die die menschenverachtende Maschine antreiben, zugleich aber
kaschieren, unter welchen falschen Voraussetzungen die Betroffenen zu
bereitwillig mitspielen. Einer der ersten Geistesblitze, den Ambivalenzen
freisetzen, könnte sich in der Einsicht niederschlagen, die Gesetzmäßigkeiten
des Paars beanspruchten eine derartige Exklusivität, dass niemand anderes
überhaupt die Möglichkeit haben sollte, dazwischen zu husten.
An
anderer Stelle ist Žižek allerdings auf der richtigen Spur, wenn er
vorschlägt, das Hohelied Salomons nicht als Allegorie zu lesen,
sondern ganz wörtlich als Beschreibung eines rein sinnlichen, erotischen
Spiels. Das unterstreicht nicht nur die heilsame Wirkung des puren Sex, sondern
auch die energetische Blase, die sich um uns aufzubauen begann und von der
viele Invektiven und üble Nachreden einfach abprallten. Lange bevor wir
begannen, die damit verbundene Erfahrungen der Unangreifbarkeit und
Überlegenheit aufzuschreiben und ihren Wirkungsweisen nachzuvollziehen, begann
sich die Ahnung zu artikulieren, dass in der leidenschaftlichen sexuellen
Interaktion bereits eine spirituelle Macht am Werk ist. Eine göttliche Energie,
die wir der Offenheit für die/den Andere/n verdankten; ein Werk biomagnetischer
Botenstoffe und damit der Intensität körperlicher Leidenschaften. Wie sich
zeigte, besteht die eigentliche Aufgabe darin, einen Status der Befriedigtheit
zu erreichen, der die Ebene der konfliktuellen Rivalität verabschiedet. Dank
einer inhärenten Sinnstiftung durch diese spirituelle Dimension wird ein
autopoietischer Prozess expandierender, optimistischer Selbstgenügsamkeit angestoßen.
Auf einmal wird alles zu einer guten Übung und die Störversuche, die
torpedierende Intrige halten dieses Programm wie von alleine in Gang: Sollten
sie doch versuchen, zu was sie ihre Zwanghaftigkeiten antrieben – sie
bestätigten schließlich nur, wie sehr wir uns unterschieden. Die Krüppelzüchter
mochten steigern, doch dabei erfahren, wie wenig die sadistischen Bosheiten,
die Versuche, uns einzuschüchtern, den Mut zu nehmen, uns tatsächlich betrafen,
wenn die Körper jubelten. Die stetige sexuelle Rückkopplung erwies sich
zugleich als Zugang zu einer machttheoretischen Dimension. Wir begannen, ohne
dass vor den Invektiven irgendetwas von diesen Zusammenhängen zu ahnen war, die
Gesetzmäßigkeiten eines blankpolierten Spiegels zu erkunden. Annäherungen an dessen
Wirkungsweise waren bei Schellings von Jakob Böhme inspirierter seliger Stille zu
finden, jenes Sinnens in sich selbst als Struktur der intellektueller
Anschauung; anhand Schopenhauers Begriff der Kontemplation oder der
Beschäftigung mit Zen war die Anregung aufzunehmen, dass schon ein gewaltiger
Schritt gemacht sei, wenn sich die Einsicht einstelle, dass die Spiegel tatsächlich
nichts zeigen. Die innere Anschauung der Mystik hatte wie nebenbei den
Zusammenhang von Erotik und Gotteserfahrung unterstrichen; indische Logik,
Metaphysik und Liebeskunst Schopenhauer inspiriert; japanischer Zen-Buddhismus gelehrt,
dass alles was uns umtreibt, nur Vorstellungen sind. Wir sind Spiegel, wir sind
Masken, doch jenseits dieses Bezugs auf die anderen ermöglicht die von
Schopenhauer beschriebene Kontemplation einen ästhetischen Zustand, während dem
ein Subjekt das Objekt aus allen raumzeitlichen Bedingungen herauslöse und
isoliert als Repräsentant seiner Verweisungszusammenhänge vor sich sehe. Die gewöhnliche
Betrachtung der Dinge hört auf, wenn wir uns in einem Gegenstand verlieren,
wenn individuelle Erwartungen und das Begehren hinter dem Gegenstand
verschwinden. Intentionale, teleologische oder psychologische Akte gehen in
einer Zeitlosigkeit verloren, bestehen bleibe also nur noch das Objekt im
klaren Spiegel eines reinen Subjekts. Er beschreibt ein Als-ob, in dem ein
Gegenstand ohne den ihn Wahrnehmenden allein da wäre, also nicht mehr zwischen
Anschauendem und Angeschautem zu trennen ist. Mit diesem in eine mimetische
Frühzeit des Nachahmungszwangs zurückreichenden Bombast war immerhin ein
Repertoire zur Verfügung, mit dem nach
und nach gewisse Gesetzmäßigkeiten klar wurden. Allerdings umkreiste eine Ahnung,
was die Wirkungen eines blankpolierten
Spiegels ausmachte, komplementäre Funktionen dieser Gesetzmäßigkeiten. Nicht
wir schauten in den Spiegel, um mühsam zu lernen, dass er nichts zeigte! Sondern
die Leute, die anfangs gemeint hatten, uns nach ihrem Bilde zu modellieren, uns
mittlerweile vernichten wollten, weil wir nicht mitspielten, schauten in einen
Spiegel, der ihnen nichts von uns, sondern lediglich die eigene Bosheit und
Zukurzgekommenheit zeigte. Immer dann, wenn wir einen Status der Bedürfnislosigkeit
erreichten, dank dem uns kein Begehren, keine Bewunderung, keine fehlerhafte
Identifikation und auch kein Wunsch nach Anerkennung mit jenen Leuten verband,
die uns schaden wollten, fanden die bösen Wünsche keine Ähnlichkeit, an der sie
sich festklammern konnten. Sie wurden zurückgespiegelt. Wir relativierten uns nicht
mit akademischen Bonsaigärtnern, die meinten unsere Gegner sein zu müssen und
an den Fäden delegierter Marionetten zogen; sie interessierten uns nicht, ein
befriedigter Status verbürgt die Nichtkonfliktualität. Wie aus verschiedenen
Andeutungen zu erschließen ist, kann über einen blankpolierten Spiegel nicht
verfügt werden, doch gelegentlich verwandelten wir uns in einen. Für ein Nu stellten
sich die psychischen Voraussetzungen jenseits der narzisstischen Selbstbezüglichkeit
ein, an denen das Ich sich derart verflüssigte, dass es für Momente von allen
Bedürfnissen und Abhängigkeiten gelöst und deshalb für Invektiven oder
verführende Selbstdefinitionen nicht mehr erreichbar war. Was anfangs noch das
staunende Gewahrwerden bewirkte, sich aus irgendwelchen Gründen in einer
schützenden Sphäre zu bewegen, die das Glück des Unvorhergesehen transportierte,
den Zufall für uns arbeiten ließ, erwies sich mit der stetigen Übung als
Schutzschild, der unsere effektive Verteidigung übernahm, indem er negative
Energie retourniert: Annahme verweigert, zurück an den Absender. Natürlich
könnte man argumentieren, wie seien bestraft und beschädigt worden, weil wir
für eine schmerzhaft lange Zeit in der Luft hingen und keine Ahnung hatten, wie
es weitergehen sollte – und dennoch weitergingen, obwohl so gut wie keine
Chance bestand, ohne irgendwelche Unterstützung irgendetwas zustande zu
bringen. Immer wieder einmal höre ich die Behauptung, das ganze Theater habe
nicht dazu getaugt, uns mit einem sicheren finanziellen Hintergrund, also einem
stabilen Arbeitsvertrag in der verwalteten Welt zu versorgen. Aber hatte ich das
jemals gewollt? Wenn ich mir darüber Gedanken machte, dann vielleicht, weich
ich mitbekam, wie die Sicherheit des Arbeitsverhältnisses manche Begabung in
einer Sucht stranden ließ, wie
ehrgeizige Gelehrte vom Krebs ausgeknockt wurden oder der Alzheimer namhafte
Profs isolierte. Viel eher hatten mich Abhängigkeitsverhältnisse zurückgeschreckt
– und nichts lehnte ich derart ab, wie die ständigen Ausbremsversuche von
Bildungsinstitutionen. Was wir dann in die Wege leiteten, um bis dahin
unvorstellbare Umsätze in Bewegung zu setzen, fand über sechs Jahre oft am
Rande der Legalität statt. Im Nachhinein erwies sich das Ergebnis als fast
absurd. Die Inszenierung des Gründungsrats in Dresden wurde notwendig, weil wir
keine anderen Zugriffsmöglichkeiten mehr übrig gelassen hatten; sie war als
letzte große Falle dazu gedacht, den Willen zu brechen und mich in eine
Einbahnstraße der Selbstzerstörung umzuleiten. Danach blieb uns gar nichts
anderes übrig, als auf ein Maximum an Unwahrscheinlichkeit zu setzen. Den Mut,
auf einem Hochseil zu balancieren, bei dem keine Fixpunkte einen festen Halt
garantierten, hätten wir von alleine sicher nicht gehabt. Aber weil es eben
nicht anders ging, sorgte der von den Körpern freigesetzte jubilatorische
Effekt nicht nur für eine Widerlegung der pädagogischen Krüppelzüchter, sondern
dazu noch für viele kleine aber wichtige Schritte, die aus der Region des
verordneten Elends hinausführten. Schritt für Schritt, nichts anderes geschieht
noch immer mit jedem weiteren Buch.
Für
Steiner ist die Poiesis das Resultat einer konfliktuellen Mimetik, eine
Nachahmung der Schöpfung, die diese zu übertreffen suche und eben deshalb mit
ihr rivalisiere: Dichter, Künstler und Komponisten arbeiten sich an
Gegenschöpfungen ab. Doch ist das stimmig, widerspricht es nicht jeglicher
Logik, wenn die Kopie der psychotischen Anmaßung untersteht, besser als das Original
zu sein? An anderer Stelle heißt es, man müsse sich eine Form geben, Form sei
die Wurzel der Ausführung – doch wie oft ist das nicht mehr als die Kompensation
von Potenzstörungen. Heißt es doch, in einem fundamental pragmatischen Sinne werde
das Gedicht, die Statue, die Sonate nicht so sehr gelesen, angeschaut oder
gehört als vielmehr gelebt, womit der Surrogatcharakter der Künste besonders
deutlich wird. Die Vertreter eines solchen Kulturbegriffs sind tatsächlich
Schmarotzer und Vampire, ‚der Meister und sein Schüler‘ plädiert eindeutig für
die Opferung der Schüler zugunsten der Macht und Einsicht der Meister, wobei
das bevorzugte Schmier- und Antriebsmittel dieses Prozesses vor allem der Kult
jener großen Künstlers ist, die sich für ihr Werk geopfert haben. Nach
Gumbrecht scheinen mimetische Rivalität und eifersüchtiger Gott den zentralen
ästhetischen Zugang auszumachen, sei es beim Football, sei es im Museum, tatsächlich
lehnten sich in den menschlichen Schöpfern wütende Fröhlichkeit und liebender
Zorn gegen die ambivalente Einsicht auf, dass sie nur Nachfolger sind – welche Parallele
zu einer Liebe als Duell! Der
symbolische Tausch mag einst aus dem Todesritual einer sich durchsetzenden
Entdifferenzierung hervorgegangen sein, um später den Traum von oder die
Sehnsucht nach einer ohne Unterschiede vollständigen Reziprozität zu prägen,
die keine akkumulierbaren Reste zurücklässt. Für Bohrer
verwirklicht sich Hofmannsthals große Wahrheit und damit das Mysterium der
Poesie, wenn sich das Dasein des Dichters oder Rezipienten für die Dauer eines
Atemzugs in einem fremden Dasein auflöst. Die Macht der Symbole, die uns
bezwingen, beruhe auf einem Zurückkehren der archaischen Natur, die uns an sich
reiße. Wie sich der vorgeschichtliche Jäger für einen Augenblick im sterbenden
Tier aufgelöst hat, selbst das sterbende Tier war, so löst sich der poetisch
ergriffene Mensch in den Symbolen auf. In den aggressiven und ängstigenden
Spannungen menschlicher Gemeinschaften beendet wie Girard zeigte ein Opfertausch –
eine/r für alle – den mimetischen Taumel;
sein Zauber beruht auf der Täuschung, mit dem wie von selbst hergestellten Tod
die Angst zu besänftigen. Der im Nachhinein vergöttlichte Sündenbock hat sie
von da an fernzuhalten: Was wir selbst gemacht haben, glauben wir mit der
Einsicht Vicos nicht fürchten zu müssen!
Wenn
uns als Leser, Hörer oder Betrachter der Eintritt des Ästhetischen in unser
Dasein erfahrbar wird, geben sich Züge der Schöpfung in ihren formalen
Gegebenheiten zu erkennen. Innerhalb der Grenzen unser eigenen Kreativität
vollziehen wir beide Gegebenheiten unserer existentiellen Gegenwart in der Welt
nach: die des Wunders der Geburtlichkeit und die der Ungeheuerlichkeit des
Todes. In diesem Sinne verschmilzt das ästhetische Objekt das Erlebnis einer
Gestaltwerdung der Negation von Sterblichkeit anhand der Extremwerte der
Andersheit, die eine immer wieder erneuerte Spur des niemals ganz zugänglichen
Moments der Schöpfung suggeriert. Und wieder findet sich hier ein Bezug auf die
Liebe, wenn die Andersheit eine schamhafte Selbstverhüllung und Beschirmung
der/s Anderen empfiehlt. Wir sind immer auf die Spielräume einer Freiheit von
dem was wir zu lieben und am besten zu kennen glauben angewiesen, ganz zu
schweigen von dessen Aura des Schreckens. Der Motor der ursprünglichen Verliebtheit,
von der alles seinen Anfang nahm, wurde schließlich von der Angstbewältigung
gespeist
In
solchen Zusammenhängen bietet sich die Schlussfolgerung an, Musik, Metaphysik
und religiöses Gefühl seien fast immer in einer mehr oder weniger diffusen
Einheit zu erfahren gewesen. Schon für die Pythagoreer versprachen
mathematische Regelhaftigkeiten in der Natur einen tieferen Sinn, der über die
materielle Wirklichkeit hinaus auf eine göttliche Intelligenz verwies – die
Entdeckung der mathematischen Proportionen in der musikalischen Harmonielehre
wurden als spirituelles Muster einer religiösen Offenbarung empfunden. Als
Gegenbewegung zur natürlichen Erdverbundenheit erleichtert die Musik noch
Jahrtausende nach dieser Entdeckung in liturgischen Zusammenhängen die Erhebung
über die Schwere der materiellen Zusammenhänge. Dabei sind wir in und durch
Musik am unmittelbarsten in Gegenwart der logisch und verbal nicht auszudrückenden,
uns jedoch ergreifenden Daseinsenergie, die den Sinnen und der Reflexion
vermittelt, was vom noch keinen Definitionen unterstehenden Wunder des Lebens
zu fassen ist. Musik wird zum Spiel mit der Unnennbarkeit der Benennung des
Lebens – jenseits irgendwelcher theologischen Spitzfindigkeiten. Bereits lange
vor der Konzeption der Turingmaschine wurde die Musik von Leibniz als geheime
Arithmetik der Seele bezeichnet: Sie entzücke uns, obwohl ihre Schönheit nur in
der Übereinstimmung von Zahlen und der Berechnung von deren Verhältnis bestehe!
Die Tatsache, dass die Musik nur zähle, werde uns nicht bewusst, doch gerade
deshalb sollte bedacht werden, dass syntaktischen Relationen keine Sphäre
erreichen, innerhalb derer Bedeutungen kodifiziert sind. Es ist zu vermuten,
dass sie frei fluktuierende Bedeutsamkeiten zu Mustern kombiniert, die in
irgendeiner Ähnlichkeit zu früheren Erlebnissen oder Erfahrungen stehen. Wenn
sich bei Steiner dagegen die Anregung findet, die Musik sei voller Bedeutungen,
die sich nicht in logische Strukturen oder verbalen Ausdruck übersetzen lassen,
weil in der Musik Form Inhalt ist und Inhalt Form, so mag dies einen weiteren
Zugang zur Mustererkennung anbieten. Die Musik sei nicht nur in höchstem Grad
zerebral, sondern zugleich auch somatisch; Musik versuche sich an einer
körperlichen Resonanz, auf der tiefer als Wille oder Bewusstsein liegenden,
fleischlichen Ebene. Sie mache äußerst substantiell, was die reale Gegenwart
von Bedeutung umreiße, denn sie bringe in unser tägliches Leben die
unmittelbare Begegnung mit einer Logik der sinnlichen Erfahrung. Eine Logik,
die eine andere ist als die der Ratio, die in den Quellen des Seins am Werk und
in der Lage ist, lebensvolle Formen hervorzubringen. Wenn es heißt, das
undefinierbare und ungeheure Wesen der Musik bringe unser Sein als Menschen in
Berührung mit dem, was das Sagbare transzendiert, was das Analysierbare hinter
sich lässt, versucht er eine Erfahrung einzukreisen, ohne sie auf einen Nenner
zu bringen. Viele nach der Einschätzung von Foersters durch Bildung
verstümmelte und um die Erfahrung des Wunderbaren reduzierte Menschen erfahren
nur durch Surrogate gefiltert, wie das Unergründliche der Körper kommuniziert,
also vom Unergründlichen erfasst wird. Vielleicht gerade deshalb liefert die
Musik den Grundstock einer Religion für Menschen, die jenseits der Institution
Kirche einen Glauben finden. Selbst bei den Ekstasen von Pop und Rock, die
Steiner ablehnt, ist für ihn eine schrille Überschneidung bemerkbar. Für ihn
übersetzen Künstler, Dichter und Musiker ein Etwas in lebendige und gelebte
Formen, die auf Gott oder Transzendenz verweisen. Er nennt den durch die dichte
Schicht alltäglicher Zusammenhänge dringenden Schimmer bereits Erkenntnis, ästhetische
Erscheinungen werden also zur formgewordenen Epiphanie. Dieser minimalistische
Gottesbeweis wird von der Frage getragen, was dieses Etwas in uns sei, wenn wir
Menschen meinen zu wissen, es könne ohne uns sein, über oder jenseits von uns,
wir aber nicht nachzuvollziehen wissen, wie es in uns gelangt ist. Wenn er gewissen
Anregungen des von ihm geschätzten Benjamin über das Zeitalter eines Zwangs zur
Nachahmung und ein ihm folgendes mit der Suche nach Ähnlichkeiten bereits der
Emanzipation unterstehenden Zeitalters gefolgt wäre, hätten sich vielleicht
jenseits des Gottesbezugs noch andere Unwägbarkeiten ergeben. Die einer
archaischen Mimesis unterstehenden Spiegelneuronen mögen privilegierte Momente
einer umfassenden Kommunikation eröffnen, uns mit einer Gesamtheit des
Bestehenden kurzschließen; sie sind das für die Erfahrung der Normalität
Ungreifbarste, weil gerade die dauernde Simulation der mit der Sozialisation
verinnerlichten Norm mehr oder weniger hilflos versucht, ekstatische Extreme
und jeglichen Überschwang auszuschließen. Musik als Energie stellt uns in eine
Beziehung zu jener Energie, die das Leben ist; wenn wir in ihr ein Nachklingen
der ursprünglichen Situation im Mutterleib erfahren, versetzt sie uns in einen
unmittelbaren Bezug zu jener abstrakt und verbal nicht zu kommunizierenden,
primären Tatsache der Lebendigkeit. Wenn Musik zu einer Bedeutsamkeit wird, die
gänzlich musikalisch ist, stellt sie für eine momentane Erfahrung jene
Ähnlichkeit von Welt und Musik her, dank der wir das Spannungsvolumen eines
Mysteriums somatischer und spiritueller Erkenntnis empfingen, obwohl es auf
einer anderen Ebene liegt, als alle biologische und psychologische Bestimmung.
Sowie diese Form der Kommunikation den Status des Heiligen streift, klingen in
ihr Kittlers ewige Schwingungen des Sinus mit. Für Bohrer scheint die
entscheidende Neuigkeit der Internetkommunikation die Aufhebung der Differenz
zwischen Sender und Empfänger, wenn in der Gleichzeitigkeit die Kommunikation
des einen mit der des anderen zusammenfällt
und damit die Zeit des ursprünglichen Jetzt gelöscht wird, in der man sich eben
aus der Zeitspanne des Alleinseins mit sich selbst besonders und anders fühlt.
Damit kommt er dem ursprüngliche Ansatz der ihn nicht überzeugenden
‚Aufschreibesysteme‘ recht nahe; das Medium ist die Botschaft, weil es bereits
unsere Wahrnehmung strukturiert, also darüber entscheidet, was wir vernehmen.
Aber er sieht wohl nicht mehr, wie sich nach einer ersten Emphase der Internetkommunikation
regelmäßig die Enttäuschung über die Nichtssagendheit und Leere bemerkbar
macht. Auch das ist ein Einfluss dieses umfassenden Aufschreibesystems – es
müsste den Konsumenten eigentlich zeigen, mit welcher Inbrunst sie dem Nichts
hinterher hecheln und prompt weichen sie in einen totalitären Aktivismus oder
in selbstzerstörerische Innerlichkeitsemphase aus. Dabei kann in den
biographischen Zusammenhängen des 21. Jahrhunderts die eine/n ergreifende
Erscheinung des Schönen eine Epiphanie des Göttlichen werden: Auf den
biomagnetischen Feldern des Heiligen wird das Schöne nicht allein als Erscheinung
zugänglich, an der sich das Begehren entzündet, sondern es zeigt eine Macht,
die die Intensitäten des Lebens stimuliert, die immer wieder neu in der Lage
ist, enorme Energien freizusetzen. Die Formulierung des jungen Schelling,
Schönheit sei die Sprache des Absoluten, kommt einer Wahrheit ganz nahe, die
wir nur für Sekunden ertragen, um dennoch an ihr zu gesunden. Der sinnliche
Impuls landet in der Amygdala, springt dann vom Gefühlskern des Gehirns zum
Hippocampus, um als Erlebnis verarbeitet und zu Erinnerungen geformt zu werden
– wenn uns dieses Ereignis ergreift, fördert es vor allem eine umfassende
Bejahung des Lebendigen mit allen dazu gehörenden Widersprüchen und Prüfungen.
Steiner
situierte sich in generationsübergreifenden Zusammenhängen der schützenden
Fürsorge, profitierte von Empfehlungen innerhalb gewachsener Beziehungen – auch
dieses Feld kann die Bereitschaft stimulieren, an ein gnädiges übergeordnetes
Sein zu glauben. Jenseits solcher privilegierter Kontexte kann der Autor als
Sozialisationsprodukt eines Hilfsarbeiters auf ganz konkrete Anlässe verweisen,
sei es eine Verführung, sei es ein Todeslauf, während denen er den Boden unter
den Füßen verlor und unter Qualen zu lernen hatte, zwischen mehreren Welten hin
und her zu springen, ohne noch in einer wirklich zuhause zu sein. Die Winke und
Ahnungen, die die Sozialisationsprodukte einer großbürgerlichen Elite in
Kunstwerken zu kennenzulernen hatten, später dann als kulturellen Urlaub vom
Realitätsprinzip aufzusuchen wussten, wurden häufig genug erst durch die Askese
gekeltert. Dabei verdankten diese Leute die genuine Erzeugung kultureller Werte
häufig genug den Süchten und Wahnvorstellungen von Exponenten ihrer Klasse, die
am Status Quo verzweifelten und die Last ihrer Familienverhaftetheit oder der
damit verbundenen Widerholungszwänge abzuwerfen suchten – also den
Restbeständen eines schamanistischen Erbteils. Die Massenunterhaltung liefert
seit geraumer Zeit jenseits der Zugangsriten der hohen Kultur fast kostenlos,
was wir für den Urlaub vom Ich und für manches Erhebungsmotiv benötigen – aber
dafür zahlen die Konsumenten solange mit Jugend und Enthusiasmus, bis im besten
Fall eine ausgepowerte Nüchternheit übrig bleibt und im schlechtesten das
hasserfülltes Ressentiment sexualgestörter Terroristen. Dabei könnten jenseits
einer Konsumwelt körpereigene Drogen aus der Erfahrung von Elend und
Ausgeliefertheit, wie schon vor Jahrtausenden, das Sprungbrett eines neuen
Glaubens machen, und wenn es der Glaube an göttliche Kräfte ist, die wir in
Grenzerfahrungen freisetzen. Man muss sich nur beschissen genug fühlen und völlig
am Ende sein: Die Gewissheit, dass es höchstens das Leben kostet, wenn es auf
einmal nötig wird, um das eigene Leben zu rennen, kann eine fast gleichgültige
Kälte gegenüber der Gefahr bewirken. Als mir jene Gewalten begegneten, hieß es,
die Spannung urweltlicher Kräfte zu halten, die Assoziationsmuster
durchzuarbeiten, bis anonyme Geistesblitze zündeten. Nun erwies sich, dass nur
ein befriedigter, mit sich einiger Körperbezug in der Lage ist, diese Kräfte zu
akkumulieren, ohne die Energie in Kurzschlüssen abzufahren. Wenn alles auf dem
Spiel steht, können auf einmal kleine Beobachtungen bei zufälligen Beobachtungen
bedeutsam werden – das Zittern eines Augenlieds, das Stocken und hässliche
Ratschen eines hohen Stöckelschuhs, die vibrierenden Pliseefältchen über der
Oberlippe der starken Frau, die hinter den intriganten Strategien eines
Professors stand. Die plötzliche Einsicht, die scheinbar nebensächliche
Begegnungen vermittelte, konnte eine gewaltige Ruhe und Stärke verleihen.
Bohrer nannte als Wirkungsgewalt von Ereignishaftigkeit, dass selbst banale
Vorgänge, wenn sie einen unter Spannung setzen, über die mutmaßliche Sinnlosigkeit
von allem hinwegtäuschen können. Selbst die tägliche Beobachtung von Personen
und Vorgängen kann in dem Augenblick, in dem sie als Fremde wahrgenommen
werden, einen phänomenalen Effekt auslösen. Wer nicht im eigenen Land lebt –
und ich hatte mich bereits in der Familie als Fremdkörper gefühlt und diese
Fremdheit in keiner der späteren Zusammenhänge verloren –, erfährt das Alltägliche
wie das Nichtalltägliche immer wieder unter symbolischen Vorzeichen. Die Sinne
stellen nur unvollkommene Bezüge zum eigenen Wissen her, produzieren dafür umso
mehr an Bedeutungen, umso mehr das Neue mit dem Symbolischen verknüpft wird.
Der Todeslauf, der mich aus fast allen gewohnten Lebensvollzügen heraus katapultierte
und unter enorme Spannungen setzte, weckte nicht nur andere Wahrnehmungsformen
und der Verfremdung entsprechende Schlussfolgerungen; die damit verbundene extreme
Entfremdung potenzierte zudem das Lernvermögen, befreite mich vom Zweifel an
der Sinnhaftigkeit meiner Existenz. Ein Paradox: Das Ausschlussverfahren
sprengte die Antriebsstörungen, die bis dahin in allen möglichen Lebenszusammenhängen
für jene Ungewissheit gesorgt hatten, die einen nötigen sollte, sich den
Verfahrensordnungen von Institutionen anzuvertrauen. Die durchschlagendste Erfahrung
war vermutlich, wie mit dem der Gleichgültigkeit und Kälte verdankten Aussetzen
der konfliktuellen Mimetik die Gesetzmäßigkeiten eines blankpolierten Spiegels
zu wirken begannen – jenseits eines Sich-wehren-Wollens, doch als Resultat der
aus einem Nichttun resultierenden Abstände. In Lebenszusammenhängen, die einen
dazu nötigten, jede Mark zweimal umzudrehen, weil den akademischen Intriganten
selbst für Hilfsarbeiten die Flüsterpropaganda nicht zu schade ist, kann es
erhebend sein, wenn einem der Wind mit einigen Fetzen aus der Tageszeitung
zuträgt, welche Einschläge auf der Gegenseite zu verzeichnen waren, wie es
wieder einen Delegierten der Krüppelzüchter umgehauen hat.
Wenn
es bei Steiner heißt, es bedürfe einer ungeheuren Stärke und Enthaltsamkeit
gegenüber dem Wiedererkennen, gegenüber einer impliziten Referenz, um die Welt
zu lesen und nicht den Text der Welt, wie er schon zuvor für uns enkodiert
wurde, mag das in den wohlgeordneten Abhängigkeiten so sein, aber nicht nach
Erfahrungen, die eine/n durch alle institutionellen Register rauschen ließen,
um die Gewissheit einzupflanzen, dass nichts gewiss ist. Wenn er spekuliert, es
könne sein, dass ein Vergessen der Frage nach Gott der springende Punkt jetzt
im Entstehen begriffener Kulturen sein werde, dass vertikale Bezüge auf höhere
Dinge, auf das Ungreifbare und Mythische, die noch immer in unseren Metaphern
oder in den Tiefen der Grammatik transportiert werden, aus der Sprache
verschwinden, übersieht er die Allgegenwart des Elends in unseren
Weltzusammenhängen. Es muss eine/n nur im entscheidenden Moment ergreifen, und
selbst der Computer wird zu einer metaphysischen Prothese. Schließlich ist an
der Verwandtschaft der religiösen Gefühle mit der von Kamper verfolgten Beziehung
zwischen Ausgeliefertheit und Fantasie – im Kerker werden die Träume
überlebensnotwendig – anzusetzen, um für eine Kunst der Phantasielosigkeit zu
argumentieren. Falls etwas verschwindet, wird es sehr wahrscheinlich der Niederschlag
jener wohlgefederten Abhängigkeiten sein, deren Schlagschatten seit ein paar
Generationen wieder den Nachwuchs ausbremst und klein hält. Währenddessen
kommen die tragischen Verwicklungen, die die großen Mythen transportiert haben,
nach und nach deutlicher zum Vorschein – in der Massenunterhaltung sind sie
bereits seit geraumer Zeit präsent. Es ist mehr als unwahrscheinlich, dass jene
Mutationen des Bewusstseins und des Ausdrucks in den Codes künstlicher Intelligenz
dafür sorgen, die ontologische Garantie der Bögen der Metapher und die Formen
ästhetischen Schaffens, wie wir sie gekannt haben, lahmzulegen. Viel
wahrscheinlicher wird ihre technische Reproduzierbarkeit, verstärkt dank einer
Perfektionierung durch Künstliche Intelligenz, ungeahnte sinnliche
Überzeugungsgrade erreichen. Schließlich bringt die Industrialisierung der
Fantasie durch eine rechnergestützte Filmindustrie und ihre Anknüpfung an
klassische Mythen enorme Erweiterungen zustande – die primären Inhalte eines
neuen Mediums waren immer die vorangegangenen Medien. Außerdem ist bereits zu
sehen wie Anregungen aus Subkultur, Comic und den mittlerweile dominanten
sozialen Medien Menschheitsthemen recyceln, die die Regression in den Dienst an
der Verarbeitung neuer Umweltanforderungen stellen.
Bohrer
wurde im fortgeschrittenen Alter von einer
erotischen Faszination gestreift, die die nackten Körper der Göttinnen
und der irdischen Schönen in der Kunstgeschichte auf den Betrachter ausüben,
doch das ist wohl weniger den Hormonen und mehr einem plötzlichen Staunen über
die Kodifizierung von Sehgewohnheiten zu verdanken. Während er an Baudelaires
Sprachkunst bewunderte, wie das Eine, die Fähigkeit zu spirituellen Sublimationen,
mit dem anderen, den geistfernen Empfindungen des wollüstigen Körpers,
zusammenhing, meinte er, in der ausgebreiteten Darstellung des weiblichen
Sexualkörpers eine Art Huldigung an etwas Erhabenes, Unheimliches entdecken. Im
Gegenzug begegnet er in Kunstausstellungen der Erkenntnis, dass nackte Schöne
erregen können, um dann die Komik zu bemerken, wenn Leute vor diesen
wunderbaren Leibern, vor ihrer erotischen, sogar sexuell einladenden Körperhaltung
mit ernster Miene stehen, als beobachteten sie lediglich Kunstwerke. Mit
Warburg drängt sich doch eher die Erklärung auf, sie schützen sich vor einer
Überwältigung durch den sinnlichen Reiz. Sie waren sicher nicht so befriedigt
und abgeklärt, dass bereits Malweise und Perspektive alle Aufmerksamkeit
okkupierten, sondern viel eher flüchteten sie in die Selbstdarstellung der Kennerschaft,
zogen also die Besetzung vom sinnlichen Objekt ab, um sie auf die zensierende
Beobachtung des eigenen Ausdrucks zu verlagern. Wie die Schreibe in der Lage
ist, mit jedem weiteren Bearbeitungsvorgang mehr von den Besessenheiten zu
mortifizieren, ist anzunehmen, alle künstlerischen Darstellungen leiteten dank
der formvollendeten handwerklichen Brillanz die Erregung um oder sogar ab.
Kunst in der richtigen Dosierung dient damit der Selbstimmunisierung der
Betrachter aufgrund der sedierenden Wirkungen eines ganzen Katalogs von
Betrachtungsanweisungen, während hochkomplizierte Pornographie, die trotz des
technischen Apparats eben die Herausgehobenheit in einen künstlerischen Rahmen
verleugnet, bereits die Gefahr der sinnlichen Überwältigung transportiert, sich
aufgrund eines dauernd frustrierten Triebgeschehens nicht beherrschen zu
können. Wenn ich Bohrer also weiterdenke, ist sein Staunen der späten
Erkenntnis zu verdanken, dass die Kunst dem Verpassen dient – in
literaturwissenschaftlichen Zusammenhängen der Avantgarde hatte er die
ästhetische Negativität sogar als Ausweichreservat vor dem ermüdenden
Alltagstrott und der standardisierten Wahrnehmungen wie der Normalität der
Empfindungen gekennzeichnet –, sie hat gerade das Erschrecken und den
Angstimpuls seiner in der Fiktion gesuchten Plötzlichkeit abzupuffern. Dagegen
erinnere ich mich noch recht genau, wie nach der Verführung mittels
holländischer Hochglanzmagazine durch einen Päderasten Pornos eine sekundäre
Sozialisation ankurbelten, die mich nach und nach zur intensiven Beschäftigung
mit sogenannter Hochkultur führte, die als Aufhänger oder Motor noch immer Sex
and Crime nötig hatte. Meine erste Begegnung mit dem Glück des
Unvorhergesehenen, denn unter den sozialen und finanziellen Einschränkungen und
Denkbehinderungen meiner Elternwelt wäre ich schnell abgestumpft und verkümmert
oder hätte mich in einem zeitbedingten, aber blinden Protest den verschiedenen
Selbstzerstörungen gewidmet. Mit der nötigen Übung wurde der ursprünglich unbeherrschte
sexuelle Impuls bis zur Sublimierung eines abstrakten Wissenwollens geführt.
Ich wollte immer noch sehen, das Geheimnis des Lebens, aber nun in jener
Potenzierung des antiken Sehers – und landete in der Philosophie. Doch alles
theoretische Wissen war nichts gegenüber der körperlichen Erfahrung mit einer
Frau, die aktiv am Ende der Freundschaft mit dem Päderasten beteiligt war. Sie
ließ die sexuelle Erfüllung heilsam auf die Freude am Risiko des Verbrennens am
entfesselten Antrieb einwirken, ohne tatsächlich zu wissen, welchen Zauber sie
damit ausübte. Als sie die unliebsame Konkurrenz des Päderasten ausgeschaltet
hatte, begann sie sich, ohne große Rücksicht darauf, ob es mich störte oder mir
wehtat, ihrem Egotrip zu widmen. Und ich spielte mit, um immerhin wieder und
wieder an einer Zaubermöse zu gesunden. Es gab sonst keine wirklich gemeinsamen
Interessen, für die Zeit nach der ersten Verliebtheit war es also alles andere
als gut gelöst, aber schon die freigesetzten Bindungskräfte bewirkten die
später im ‚Altpapier‘ dokumentierte Störversuche aus allen möglichen
Richtungen. Seltsamerweise hatten alle Leute, mit denen wir zu tun hatten,
beste Freunde oder Verwandte eingeschlossen, Interesse an der Störung dieser so
unkonventionellen Beziehung zwischen einer Beamtentochter und dem Sohn eines
ehemaligen Hilfsarbeiters, der sich bis zum Geschäftsführer einer Chemischen
Reinigung hochgearbeitet hatte. Vielleicht sorgte dieser unterschwellige, noch
nicht wirklich bewusst gewordene Kampf für weitere Bindungskräfte. Als ich mich
in Seminaren zu profilieren begann, zeigten sich auch im akademischen Umfeld
enorme Widerstände und libidinöse Versuche, die Beziehung durch lancierte Gegenbesetzungen
zu sprengen. Wie später nachzuvollziehen war, als die von interessierten Profs
vorhergesagte, akademische Zukunft bereits vor dem Start hinter mir lag, gehorchten
die Intrige und der Vernichtungsimpuls innerhalb der Abhängigkeitsverhältnisse
von Bildungsbeamten der geheimen Entwicklungslogik einer Großinstitution. Genau
die Fähigkeit, das Begehren zu binden, um aneinander zu gesunden, stellte den
institutionellen Anspruch in Frage, das Begehren zu diffundieren und für den
Apparat zu reservieren. So war es genau jene Kompetenz der erfüllenden
gegenseitigen Befriedigung, mit der es gelang, die Richtung einer
fremdgesteuerten Vernichtung umzukehren und auf jene Instanzen zurückzuleiten,
die uns zerstören wollten.
In
Steiners ‚Logokraten‘ habe ich einige Formulierungen gefunden, die diesen
Anspruch, über die Libido der Anempfohlenen zu verfügen, in den verschiedenen Abschweifungen
über die Musik verbergen. In den Büchern der letzten zehn Jahre wurde das
meiste an den verschiedensten Stellen bereits berührt, aber aus einer anderen
Perspektive. In gegen den Strich gelesenen, konservativen
Traditionszusammenhängen ist es erhebend jenen anarchistischen Interpolationen
zu begegnen, die mich bewegt haben. Wichtig ist dabei die Kennzeichnung eines
in der Musik ausgefochtenen, antagonistischen Verhältnisses der Geschlechter,
die Spiegelung des Verhältnisses von Musik und Poesie im Verhältnis von Natur
und Kultur und die virtuell immerhin mögliche, harmonische Übereinkunft in
Kontexten, die vor aller Semantik angesiedelt sind. Gerade wenn es um die
Beziehungen zwischen Sprache und Musik geht, sind die archaischen Mythen unserer
Kultur durch extreme Formen der Gewalttätigkeit gekennzeichnet. Später, in dem
Gespräch mit Ronald A. Sharp heißt es: Der Tod hänge eng mit dem zusammen, was
er als eine von der Musik transportierte Wahrheit empfinde. Der ursprünglich
durch die Konfrontation mit dem Tod ausgelöste Schrecken mag die Entwicklung
des menschlichen Bewusstseins befördert, komplementär dazu aber ein Gefühl für
das Ende der Zeit und des persönlichen Lebens eingeschrieben haben, das in der
Musik wieder präsent werde. Schweigen und Stille spielen nicht nur in der Redegewalt
eine entscheidende Rolle, sie unterstreichen die Bedeutsamkeit einer in sich
stimmigen Musik. Sie veranschauliche vor allem jene Kategorie des Sinns, die
man nicht übersetzen, nicht paraphrasieren, nicht in irgendwelche anderen
Termini übertragen kann, die aber zutiefst bedeutsam ist. Musik als die
aufregendste, zentrale menschliche Aktivität, die sich dennoch unseren
Erkenntnissen entzieht – in verschiedenen Zusammenhängen zitiert er
Lévi-Strauss, für den die Erfindung der Melodie das höchste Geheimnis alles menschlichen
Lebens ist. Die Wahrheiten eines ordnungsgebundenen Fühlens in der
musikalischen Erfahrung sind nicht irrational, aber sie sind nicht auf die
Ratio zurückführbar. Wenn das fundamentale Modell des Sinns die Übersetzung
ist, dann stellt sich die Frage, warum wissen wir, dass die Musik etwas
bedeutet, wenn sie nicht paraphrasierbar ist. Für Steiner sind Gott oder
kosmische Ordnung mit Warburg im Detail zu entdecken und die Bereiche des
menschlichen Wissens verschwindend gering gegenüber dem, was wir alles nicht
wissen können. Dagegen ist die Musik der Ort für einen intensiven Sinn, den wir
nicht verstehen, aber der uns ergreift und mitnimmt; sie bestätigt die
Stimmigkeit des Gefühls für ein mysterium tremendum in den Künsten. In
Literatur, Musik und Kunst werden Spuren oder Umrisse einer Gegenwart
transportiert, die dem Bewusstsein und der Rationalität vorausgehen, Überreste
einer prä-logischen, einer prä-grammatischen Ablagerung visueller und auditiver
Materie, die Anfänge der menschlichen Selbstgewahrwerdung vermitteln und in
gewissen musikalischen oder erzählenden Sequenzen noch immer transportiert werden.
Die Anfänge menschlichen Bewusstseins, die Entstehung von bewusster
Wahrnehmung, umfassten eine lange Periode der Kondensierung, in der sich um unergründliche
Knoten bei der Unterscheidung zwischen dem Selbst und dem anderen, während der
Entdeckung des Skandals, den der Tod darstellt, Wunder und Schrecken zwischen
Sein und Nicht-sein abgelagert haben.
Zwei
Jahre nach Abschluss der ‚Katastrophenpädagogik‘ stieß ich in einem Sammelband
auf eine erhellende Arbeit Runias, für den die Gesetzmäßigkeiten einer kulturellen
Evolution aus der Erfahrung mehr oder weniger selbst hergestellte Katastrophen
folgen. Nach Freud wird der psychische Apparat durch das Vermeiden oder die
Ableitung unlustvoller Spannungen reguliert. Die Gesamtheit psychischer
Aktivitäten folgt dem Telos, Unlust zu vermeiden und Lust zu verschaffen, wobei
Unlust aus der Erhöhung der Erregungsquantität, Lust dagegen aus deren
Verminderung resultiert. Diese ökonomische Gesetzmäßigkeit mag erklären, warum
Menschen, wenn man sie nur ließe, glücklich aber nahe am Verblöden und
Vegetieren wären. Freud weist allerdings in verschiedenen Zusammenhängen darauf
hin, dass es lustvolle Spannungen gebe, die, auf das relative Niveau der
Besetzungen bezogen, bewusst herbeigeführt und systematisch gesteigert werden. Erotische
Anziehungskräfte und sexuelle Techniken, den Reiz hochzukitzeln und für
Augenblicke ein Niveau kurz vor dem Zerplatzen zu erreichen, haben sicher
nichts mit der Reduzierung von Erregungen zu tun. Trotzdem führte die Frage
nach einem Jenseits des Lustprinzips zu der weiteren, warum Kulturarbeit an
Askese und Selbstzerstörung gebunden ist, warum die Menschheit sich das Leben selbst
schwer bis unerträglich mache. Runias ‚Kurzschluss in der Lustmaschine‘ stellt
einige überzeugende Argumente zusammen, die jene Ebene kennzeichnen, auf der das
Überleben des Menschen nicht mehr allein von der Anpassung an die äußeren
Umstände abhing und trifft sich mit dem konstruktivistischen Ansatz eines von
Foerster. Die ersten Funken sprühten bereits, als sich erwies, wie diese
Aufgabe wesentlich ökonomischer durch eine Zähmung der Umwelt umzusetzen war:
Sie war dem menschlichen Phänotyp anzupassen. Diese Umformatierung führte zu
einer selbst geschaffenen Umwelt, die als Kultur übertragen und vermittelt
werden konnte. Die Gesetzmäßigkeiten einer genetischen Evolution wurden
weitgehend stillgestellt und von einer kulturellen Evolution überlagert, die
kein zielgerichteter Prozess war, sondern nur im Rückblick eine Richtung, eine
diese Entwicklung fördernde Bestimmtheit besaß. Die kulturelle Umwelt
verlangsamte die Entwicklung nicht etwa, wie dies aufgrund des nachlassenden
Drucks zu erwarten wäre. Denn in dem Maße, in dem Menschen die Natur entwaffnet
haben, wurde ein Wettstreit zwischen Gattungen durch stets neue Formen des
Wettstreits innerhalb der eigenen Gattung ersetzt. Der Kampf gegeneinander und
die konfliktuelle Infragestellung erwiesen sich als vorteilhaft für die Entwicklung.
Damit entstand der Luxus einer unbeirrbaren Besessenheit, uns selbst das Leben
schwer zu machen und jene Selektivität, die wir der Natur genommen haben, im
Rahmen der Kultur zu potenzieren. Die kulturelle Evolution resultiert aus
Erfindungen, hinter die nicht zurückgegangen werden kann, die uns keine andere
Wahl lassen, als ihren Anforderungen zu entsprechen. Und ebendieser Zwang,
Anforderungen gerecht zu werden, die wir uns selbst aufgehalst haben, mag zum
Besten der Gattung dienen, solange sie die dabei entstandenen technischen
Möglichkeiten der Selbstauslöschung nicht ausreizt – leider aber nicht zum
Besten der Einzelnen.
Die
Zähmung der Natur, während die Selektivität bewahrt und das Unvereinbare
vereinig wird, macht die kulturell vermittelte Evolution zu einer mächtigen
Waffe – die Menschheit hat bisher mehr Gattungen ausgerottet, als größere
Kometeneinschläge. Dieser die Generationskette übergreifende Kopierprozess für
ethnosemantische Inhalte ist viel effizienter als langsame, genetisch vermittelte
Reproduktionen. Doch die zugrunde liegende Ambivalenz bleibt in allen daraus
folgenden Errungenschaften erhalten. Sie besteht
zum einen aus der Kompetenz, eine Umwelt zu schaffen, die die Menschen
vom Zwang zur Anpassung an die Natur
befreit, zum anderen aus der Aufrechterhaltung und Beschleunigung evolutionärer
Gesetzmäßigkeiten, indem Menschen untereinander in Rivalitäten verstrickt werden.
Die Menschheit ist für ihre Entwicklung selbst verantwortlich geworden, wird
aber in ihren Möglichkeiten durch deren Eigendynamik eingeschränkt, denn
vorausschauende Anpassung wie selbstauferlegte Selektivität sind von den daran Beteiligten
unabhängig. Geschichte als kulturell vermittelte Form der menschlichen
Evolution unterscheidet sich von der natürlichen Artenauswahl, weil wir uns als
Gattung ständig zwanghaft den Boden unter den Füßen wegziehen, also die uns in
die Zukunft treibenden Katastrophen selbst erzeugen. Die Entwicklung wird durch
Ereignisse vorwärtsgetrieben, die als Unfall oder der Katastrophe erfahren
werden, die sich seltsamerweise aber durch die Tatsache verwandeln, dass sie
geschehen, damit es kein Zurück mehr gibt. Die Mutationen, denen wir unseren
evolutionären Erfolg verdanken, stellen sich im Rückblick als Fortschritt dar.
Die von Benjamins Engel wahrgenommene, fortwährende Katastrophe sollte uns
nicht vor der Größe der eigenen Aufgabe zurückschrecken lassen und damit für
künftige Entscheidungen ausbremsen. Gerade wenn wir keine Wahl haben, wachsen
wir über uns hinaus, oft stellt sich nur dann das Glück des Unvorhergesehenen
ein. Aber was ist das Glück eigentlich anderes! Wir begegnen ihm nicht, wenn
wir reglementierenden Ratgebern für Bedürftige folgen, die psychische Ökonomie einer
zwanghaften Planwirtschaft unterstellen. Schließlich ist das Glück nichts, das
unserem Willen, der richtigen Strategie oder dem Sparsamkeitstick unterstellt
ist, sondern wir tauschen Erwartungen und Sehnsüchte, Ängste und Begehren gegen
etwas ein, das uns auf unvorhersehbare Weise überrascht.
Notwendige Entscheidungen, mit denen
die Umwelt unseren Bedürfnissen angepasst wird, beruhen häufig genug auf in
ihren Folgen nicht absehbaren Improvisationen, die Sprünge innerhalb der Kultur
anstoßen. Eigentlich sollten gewisse Vorgänge erleichtert werden oder sicherer
oder befriedigender zu erledigen sein, doch diese oft nur geringfügigen Änderungen
werden von einer drastischen Verschärfung der Selektivität begleitet, mit der
das Leben oder Überleben erst einmal erschwert wird. Je mehr die Folgen dieser Veränderung
von Erwartungsmustern und Handlungsroutinen überraschen, je weniger die dadurch
geschaffenen neuen Anforderungen zu verleugnen sind, desto mehr Komplexität
muss tatsächlich reduziert werden. Die Neigung, Überzeugungen, Werte und
Identität den tatsächlichen Folgen dieses Handelns anzupassen, sorgt erst
einmal für eine psychische Stabilisierung, oft werden diese Akkomodationen als Opferverhalten
oder Strafbedürfnis interpretiert und einfach akzeptiert. Die erzeugten Dissonanzen
dienen der Erhöhung von Komplexität und scheinen dazu angelegt, die weitere
Selektivität zu gewährleisten. Mit Luhmann wird das System durch die Entsorgung
von Risiken und die Lösung von Problemen in Gang gehalten, die es durch die
Entsorgung von Risiken und die Lösung von Problemen selbst erzeugt hat. Menschen
beginnen keine Revolution, um die Komplexität zu steigern, sondern einschneidende
historische Ereignisse motivieren Fluchtbewegungen in eine unbestimmte Zukunft.
Bewirkt wird dies durch das Gespür, ungewissere oder gefährlichere Umstände wären
mit einem Vorteil verbunden oder mit der Hoffnung, die Dinge außer Kontrolle
geraten zu lassen, um gegen Verwaltungsvollzüge und Ausbremsungen die Flucht
nach vorn anzutreten. Aus dieser Perspektive betrachtet stellen sich Revolutionen
als Blasen der Komplexitätserzeugung dar – in denen sich die Beteiligten wechselseitig auf immer höhere Stufen
der Selektivität treiben.
Der
beste Weg zur Komplizierung einer Situation besteht in dem Versuch, sie zu
vereinfachen. Man wirft alle Bedenken über Bord und reißt sich von einem in
Konventionen, überlieferten Auffassungen und anderen uns selbstverständlich
scheinenden Dingen los, verabschiedet Teile eines gespeicherten Systems der
Komplexitätsreduktion. In dieser kulturevolutionären Phase resultieren neue
historische Entwicklungsstufen nicht etwa aus vorgefassten Plänen, sondern aus
Ergebnissen der Taten, die wir taten, ohne recht zu wissen, was wir tun. Auf der
Gattungsebene werden einschneidende Ereignisse in einem Status der Abwesenheit
oder Zerstreuung geboren. Viele historische Größen haben gemeinsam, dass sie
sich in Ausnahmezuständen bestimmter Konventionen oder überlieferten Auffassungen
entäußerten. Diese hergestellte innere Leere kann, indem sie latent Gegenwärtiges
freisetzt, einschneidende historische Ereignisse bewirken, die die Komplexität
steigern und einen Bruch mit dem Selbstverständlichen darstellen. Im Resultat
ergibt sich in historischen Augenblicken eine Wiederverzauberung der Welt durch
eine Steigerung der Selektivität – wobei das Prinzip Hoffnung oft ganz nah am
Alptraum der Abgründe liegen kann.
Die
Schönen Künste haben sich als Veranstaltungen des gezähmten Schreckens erwiesen:
In Literatur und Kunst werden extreme psychische Besetzungen verarbeitet und
modelliert, um sie für Alltagssituationen ertragbar zu machen. Mit Bohrers
Thematisierung des Erschreckens kommen wir ganz nah an eine Wirkungsgewalt, die
mit variantenreichen Tricks und unendlichen Verfahrensordnungen wie Sindbads
Dschinn in einer verkorkten Flasche gefangen gehalten wird. Was uns erschrecke,
sei das transpsychologische Geschehen, die Plötzlichkeit überfahre das
Puffersystem der Wahrnehmungsgewohnheiten und sprachlichen Klischees – poetologisch wird die Metapher zum
Wahrnehmungsereignis. Je stärker die Metapher die Referenz verdrängt, desto
mehr gerät jeder Inhalt unter das Zeichen des faszinierenden und bedrohlichen
Signifikanten. Ein extremer, intensiv erschreckender literarischer oder
künstlerischer Inhalt verwandelt seinen Realitätsstatus; der Inhalt und damit
seine Wirklichkeit wird von einer Über-Wirklichkeit überlagert. Offenbar liegt
eine Ästhetik des Schreckens als plötzliche Epiphanie von Intensität und
Geheimnis der Kunst selbst als Bedingung zugrunde – jenseits der historisch-sozialen
Umstände. Genau diese Schlussfolgerung führt zu Warburgs kunsthistorischem
Interpretationsansatz: ‚Du lebst, aber Du tust mir nichts‘. Die Menschheit
verfügt über die Institution Kunst, damit Kunstwerke vor einer Überwältigung
durch den sinnlichen Reiz schützen. Fetischformen der magisch-animistischen Kulte stehen am Anfang der rituellen
Fernhaltung und Vergegenständlichung von Erregungsobjekten. Warburgs
Bildtheorie verortet jene Verarbeitungsmuster der Immunisierung auf einer
ästhetisch-symbolischen Achse. Nach und nach wurden Fetische zu
Zeichensystemen, mit denen wir die Welt strukturieren, um in ihr und über sie
zu kommunizieren. Bei jedem Fankult, bei politischen Propagandaveranstaltungen
oder ungesteuerten Massenpaniken wird jener durch affektneutralisierende
Abstraktionen aufrechterhaltene Mittelraum zwischen Fluten von Angst, von
Besessenheit oder überwältigendem Glück durchbrochen. Zeichen werden dann
wieder zu Kräften, jede kodifizierte Bedeutung kann unter solchen Einflüssen
wieder zur Kraft werden und energetische Bedeutsamkeiten entfesseln, die sich
verselbständigen.
In Zusammenhängen der
Subversion von Stillstellungsimperativen einer verwalteten Welt wurde einmal die
Kennzeichnung ‚Schreckliche Künste‘ geprägt. Gegenüber der Entmündigung und
Entlastung durch Institutionen war festzustellen, dass gewisse in der Erotik
gründete Gesetzmäßigkeiten des Paars bei den Funktionären der Ausbremsung
Gefühle der Ausgeliefertheit, Erschrecken und Erstarren freizusetzen vermögen.
Ein vergleichbarer Panikimpuls wird bereits von der erotischen Schönheit freigesetzt,
die einem den Atem nehmen oder das Herz bis zum Hals hochschlagen lassen kann.
Das ist kein willkürlicher Sprung, denn die Künste sind der erste und
naheliegenste Nebenkriegsschauplatz der Erotik, in vielen Fällen ist die Kunst
nicht nur durch puren Sex inspiriert, sondern wurde zu einer verlängernden
Objektivierung der ursprünglichen Ekstase. Woher kommt der Imperativ, eine Frau
erobern zu müssen, wenn bereits jeder nicht dem Verkauf oder reibungslosen
Geschäftsablauf dienende Flirt als Angstbewältigung zu interpretieren ist.
Richtig sortiert, in einer nachvollziehbaren Reihenfolge zusammengestellt,
sollte zu zeigen sein, wie der Anlass immer wieder die Zähmung biomagnetischer
Kräfte ist, die Eingrenzung und Kolonisierung einer vorpersonellen Magie, die
ungefragt über uns verfügen kann, wenn nicht im entsprechenden Rahmen dafür gesorgt
ist, sie zur Ader zu lassen oder uns den nötigen Abstumpfungen auszusetzen, uns
unwillkürlichen Immunisierungen zu unterwerfen. Bereits die großen
theologischen Gedankensysteme sind als Anstrengungen zu interpretieren, die auf
ein erfülltes Begehren zurückgehenden Formen der Magie zu pervertieren und in
Riten zu instrumentalisieren. Allerdingt neigen asketische und zölibatäre
Grundsätze in dem meisten Fällen dazu, Hingabe und Lassenkönnen zu verfluchen,
als Teufelswerk zu tabuisieren, als überkommenen Aberglaube abzuwerten. Auch
mit der religionskritischen Aufklärung hat sich an dieser Ausgrenzung des
Sich-Öffnens gegenüber allem anderen als der kanonisierten Lehre nichts
geändert; die im Gefolge entstandenen Wissenschaften definieren sich über die
Ignoranz möglicher Infragestellungen. Was passiert, wenn es zwischen Menschen
knistert – mit allen Folgen, wenn die Funken sprühen? Von hier aus erweist ein Blankpolierter
Spiegel in zwischenmenschlichen Beziehungen, besonders wenn es um Macht und Abhängigkeit
geht, eine Inversion der Gesetzmäßigkeiten schrecklicher Künste. Die Barrieren
der Abgebrühtheit und des Zynismus, der Routinen des Business as usual oder der
dumpfen Untertanenmentalität können in gewissen Augenblicken einfach
durchbrochen werden; die Sicherheit eines Amts wird weggesprengt – die Leute,
die ihre Macht bis dahin daraus gewonnen haben, andere zu behindern und auszubremsen,
ihnen die Lust am Leben zu nehmen, obwohl sie nur unterdurchblutete Arschlöcher
und Mitläufer sind, stellen im blankpolierten Spiegel eines ungerührten
psychischen Systems fest, wie machtlos und verquält sie aussehen, wie hilflos
sie einer erfüllten Sexualität gegenüber absausen. Wer die eigene Missratenheit
und Verstümmeltheit gelernt hat, auszuhalten indem er/sie jede Gelegenheit dazu
verwendet, andere mit diesem Manko zu schlagen, kann nicht schlimmer gestraft
werden.
Wir
müssen in der Lage sein, die Spannung zu halten, um in der Wirklichkeit des
Paars andere Prioritäten zu setzen. Dank der Lustpolitik sind Spannungen hochzukitzeln,
bis die Selbstimmunisierung ein energetisches Level erreicht, auf dem böse
Wünsche oder vergiftete Eingaben abprallen und nach Naheliegenderem, ihnen
ähnlichem zielen. Erfahrungen des sozialen Todes verdanken wir als
Schwellenwesen kreative Spielräume, komplexere Horizonte in einem Medium des
Dazwischen. Der begrenzte Rahmen des Lebens wurde zu einem schwingenden Gedächtnis,
das in der Lage ist, die Zeitachse zu manipulieren. Das Glück des
Unvorhergesehenen ist Ausdruck einer vorpersonellen Macht, über die nicht zu
verfügen ist, die Anschlüsse herstellt, aber nicht zu erarbeiten oder zu
erpressen ist, die man/frau nur gewähren lassen kann. Wobei hier nicht einmal
Kittlers technisches Relativitätsprinzip: ‚Nur was schaltbar ist, ist
überhaupt‘ herangezogen werden muss, denn bereits die Echtzeitanalysen
biologisch fundierter Wahrnehmungen beruhen auf diskreten Zeitachsenmanipulationen.
Für eine nachvollziehbare Umsetzbarkeit spricht der historische Standindex –
der Reversibilität des Computers verdanken wir zusätzliche Komplexitätssteigerungen.
Multimediale Prozesse beschleunigen das Lernvermögen, die Verabschiedung fester
Wertvorgaben führt zu einer reflexiv gefederten Fehlerkultur. Am Computer
verarbeiten sich erst einmal Erinnerungen, aber mit dem Dazwischenschießen
objektiver Fäden aus der Zeitgeschichte und den verschiedensten wissenschaftlichen
Abschweifungen, mit denen vor Jahrzehnten eine wacklige psychische Konstruktion
stabilisiert werden musste, werden mit jedem weiteren Durchgang, mit dem
Schneiden und Versetzen von Einheiten der Selbsterlebensbeschreibung, nicht nur
die damaligen Unvorhersehbarkeiten nachvollziehbar. Hin und wieder ist auch ein
Zipfel des Lacanschen Realen zu erhaschen und zu verarbeiten, um künftige
Unvorhersehbarkeiten vorhersehbar werden. Die Digitalisierung kommt jenem
Kurzschluss in der Lustmaschine auf die Spur, dem wir die dauernden Interventionen
des Imaginären verdanken. Es sind die Vorstelllungen, die uns der
konfliktuellen Mimetik ausliefern, mit denen wir den irrwitzigsten Zielen
nachjagen, nur um nicht bei uns selbst zuhause zu sein oder in den
Unwahrscheinlichkeiten der Beziehungsarbeit festzustellen, welche Unmenge
Scheiß wir bisher für uns selbst gehalten haben. Auch bei Kittler ist einmal von
einem Kurzschluss die Rede, der in diesem Fall von der Digitalisierung ausgelöst
wird, die durch eine Überbrückung alles Imaginären das Reale in seiner
Kontingenz für Manipulationen durch symbolische Prozeduren aufschließt. Das ist
vielleicht kein Zufall, denn was der erste Kurzschluss an sublimierender und
abstrahierender Kulturarbeit in die Wege geleitet hat, wartet ab einem gewissen
Level nur darauf, durch einen weiteren Kurzschluss korrigiert zu werden. Die
diskret gemachte Zeit erlaube manipulierende Verarbeitungen des Realen, wie sie
ohne den Computer nur innerhalb des Symbolischen möglich sind. Diese an den
Medien Film und Musik gewonnene Beobachtung ist sicher nur partiell
übertragbar, aber immer wenn wir uns für einen zeitlosen Moment in der Präsenz
aufhalten, bringen wir Bedeutsamkeiten mit, die die Selbsterlebensbeschreibung
um Gesetzmäßigkeiten bereichern. Baudrillard kennzeichnet den Computer einmal
als ein wundersames Instrument exoterischer Magie. Nicht nur läuft jede
Interaktion auf ein endloses Zwiegespräch mit der Maschine hinaus – auch diese
Selbstverschaltung wird als Kurzschluss gekennzeichnet. Sie sorgt zudem dafür,
über den Umweg der Maschine an sich selbst angeschlossen zu sein. Dieser
momentane und immer wieder gleichzeitige Anschluss an ein Informationsnetz
setzt Sinne frei, die unter den Bedingungen des Imaginären nicht zugänglich
wären. Ein Effekt äußerster Selbstreferenz bezeugt die Bedeutungslosigkeit der
Innerlichkeit, während der Kurzschluss, mit dem das Gleiche unvermittelt ans
Gleiche angeschlossen wird, taktile Oberflächenintensitäten freisetzt, mit
denen wir uns zu Wahrheiten vortasten, die die ausgeschnittenen, hin und her
kopierten Textfragmente ergeben. Wir wissen viel mehr, als uns bewusst sein
darf, wir müssen nur unter Zuhilfenahme der nötigen Verfremdungen, durch eine
exzessive Entsublimierung des Denkens, darauf gestoßen werden.
Die Chancen, die mit der Erfahrung
eines sozialen Todes verbunden sind, ergeben sich häufig aus der Fähigkeit, die
Erfahrung einer Ausgeliefertheit, eines Scheiterns, als Sprungbrett für eine
Repertoireerweiterung zu interpretieren. Die Möglichkeiten, auf einen anderen
Kontext auszuweichen, verweisen auf jene menschheitsgeschichtlichen Sprünge,
mit denen eine wache Intelligenz aus den gewohnten Lebensumständen unter
Schmerzen und dem Druck der Verzweiflung in den Kontext dieses Kontextes zu
wechseln wusste, wenn sie nicht bereit war, in ihre Auslöschung einzuwilligen.
Wenn Sloterdijk nachvollzieht, wie einst in Grenzsituationen der
Ausgeliefertheit gegenüber dem Unverständlichen des Jenseits der Geburt oder der
des Todes ein Kurzschluss zwischen den Bereichen kommunizierender Dunkelheiten
die erwachende menschliche Intelligenz puschte, erklärt er nicht nur das
ambivalente Faszinosum des archaischen Logos, das später durch Hochreligionen
und philosophische Metaphysik zum Jenseits rationalisiert wurde. Er deckt
damit jenen Zwischenbereich der Latenz auf, der in jedem Weltverständnis eine
archaische Integralrechnung vollzieht. Das Wort »Welt« bezeichnet mit
Wittgenstein alles, was der Fall ist – wobei Weisheit mit dem Bewusstsein
verbunden ist, stets mit den Möglichkeiten der Aktualisierung des aktuell
nicht Manifesten rechnen zu müssen. Schon in den Anfängen der Selbstreflexion
wurde auf die Tatsache Rücksicht genommen, dass der erfahrungsgesättigte
menschliche Intellekt nur über einen begrenzten Horizont an Wahrnehmungen und
Kenntnissen verfügt. Was diesem erschlossen ist, summiert sich zu dem, was
hinter einem Horizont an potenziell erfahrbaren Geschehnissen zu erwarten ist.
Die zugrundeliegende, primitive Integralrechnung verknüpft das Bekannte und
Manifeste mit dem Unbekannten und Latenten im Symbol Welt zu einer kompakten
Totalität. Die weise Mahnung, nie zu
vergessen, dass alles menschliche Wissen immer nur beschränkt sei, darf unser
Lernvermögen nicht unter der Vorgabe eines uneinholbaren Ganzen ausbremsen,
denn dieses Ganze ist ein Produkt der Vorstellung und wurde zum Machtmittel von
Priestern, Metaphysikern und Theologen. Selbst die Übersetzung ins Philosophische,
die uns in der Mitte zwischen den Göttern oben und den Tiere unten situiert,
setzt das Koordinatensystem einer imaginären Totalität voraus, das davon
abhalten soll, uns als Tiere mit göttlichen Fähigkeiten zu entdecken. Die
Projektionen auf ein Ganzes setzen jeweils eine Basisunterscheidung voraus, von
der ausgehend bereits ein beschränkter aber ausschließlicher Weltentwuf
durchgesetzt ist. Erst wenn wir uns auf die Gesetzmäßigkeiten des Lernens des
Lernens einlassen, fällt der imaginäre Bezug auf das Ganze oder Absolute weg. Die
Möglichkeit eines gelingenden Lebens wird durch Kontextsprünge eines virtuell
unbegrenzten Lernens angestoßen, das die Selbstimmunisierung gegen harte
Programmierungen freisetzt. Wie begegnen dem Glück des Unvorhergesehenen nur dank
einer um das Unbekannte ergänzten Welterfahrung, in der die Homöostase des familialen
oder sozialen Elends kein Mitspracherecht mehr hat. Sloterdijks Philosophie der
Latenz setzt im Weltbegriff die selbstheilende Vermittlung eines universalen
Integritätsgeschehens frei, dank dem die Möglichkeit eines gelingenden Lebens
erhalten bleibe, das offenkundige Unheil also nicht das letzte Wort habe.
In
solchen Zusammenhänge sind Beobachtungen oder Einschätzungen Steiners
bedenkenswert, gerade weil sie auch jenseits von Transzendenz und
Traditionsverhaftetheit greifen. Für ihn ereignet sich eine Modulation des
Semiotischen im Organischen durch den Zusammenprall materiell handhabbarer
Formen mit der prinzipiellen Andersheit von Bedeutungen. Unser Menschsein erweise
sich an dem Paradoxon, dass wir bei genauer Hinsicht nie wirklich wissen, was
es ist, was wir erfahren und worüber wir reden, wenn wir erfahren und darüber reden,
was ist. Kein menschlicher Diskurs, und sei er noch so analytisch, könne
letztlich den Sinn von Sinn selbst ergründen. Unsere Existenz übersteigt in
vieler Hinsicht jede Möglichkeit der Bewahrheitung. Weil die Unerklärbarkeit
der wesentlichen Setzungen den Imperativ zum strebenden Suchen impliziert, der
den Kern des Menschen ausmache, erkläre dies die enge Nachbarschaft zur Transzendenz,
deren Medium Dichtung, Kunst und Musik ist. Natürlich ist einzuwenden, solche
rhetorischen Floskeln transportierten, nachdem die Theologen nicht mehr in der
Lage sind, der Wahrheit oder dem Bedeuten Schönheit zuschreiben, noch immer ein
Stück Theologie. Selbst das Menschenbild des strebenden Suchens ist schon
deshalb fraglich, weil sowohl die Theologie wie der später an ihre Stelle
getretene wissenschaftliche Anspruch von dem Sendungsbewusstsein angetrieben
werden, den sinnlosen Wahn dieses Strebens abzustellen.
Für die Paradoxien des Wissens, für die Suche nach sicheren
Interpretationsanweisungen, lohnen sich einige Anleihen beim Konstruktivisten
von Foerster, der sich von der Absolutheit des Wahrheitsbezugs verabschiedet
hat und jeglichen argumentativen Rückzug auf das angeblich Tatsächliche infrage
stellt. Während er sich mit dem Rätsel des hermeneutischen Zirkels beschäftigt,
reklamiert er vor allem ein Missverstehen des Verstehensvorgangs. Wenn es
heißt, nach der Bedeutung der Wörter müsse im Satzzusammenhange, nicht in der
Vereinzelung des Wortes gefragt werden, stelle sich doch die Frage, wie der
Satzzusammenhang zu verstehen sei, wenn nicht durch die Worte? Diese
grundsätzliche Fragstellung der Hermeneutik, vor dessen Einschätzung als
circulus vitiosus bereits Heidegger gewarnt habe, thematisiere grundsätzlich
die Kompetenz des Verstehens. Wer den Verweisungszusammenhang als Teufelskreis
abwerte und danach trachte, ihn zu vermeiden oder als unvermeidliche
Unvollkommenheit zu empfinden, habe die Kunst des Verstehens von Grund auf
missverstanden. Von Foerster geht vom Menschen als
Kulturprodukt aus, das längst keine Anpassungsprobleme an eine Umwelt habe. Als
deren Erfinder und Erzeuger wird eben diese selbst geschaffene
kulturelle Umwelt ihnen keine Anpassung aufzwingen. Sie wissen effektiver und ökonomischer
damit umzugehen, ohne aufgrund der Selbstverständlichkeit überhaupt zu wissen,
wie diese Kompetenz zustande gekommen ist. Er nennt die genetische Erkenntnistheorie
eines Piaget, die Konstruktion der Wirklichkeit in der kindlichen Entwicklung,
als gutes Beispiel für die Auflösung der Problematik des Verstehens. Erst wenn wir
glauben, die Bedeutung entziehe sich uns, schlüpft sie durch unsere Maschen –
es geht uns damit, wie Augustinus gegenüber der Frage nach dem Wesen der Zeit. In
der Regel merken wir nicht das Unglaubliche, das Rätselhafte, das
Ungeheuerliche, das Erstaunliche, das Wunderbare in den alltäglichen Gesprächen
und Reflexionen. Erst wenn dieser Strom von Selbstverständlichkeit gestört
wird, stehen wir staunend vor einem Wunder, das erst durch die verschiedensten
Assoziationsmuster der Kognitionsgeschichte aufzulösen wäre. Bateson hat den
Schlüssel der notwendigen Einheit von ‚Geist und Natur‘ auf den Nenner
Mustererkennung gebracht – und wenn Jahrzehnte später feststeht, mit welchen Erkenntnisleistungen
künstliche Intelligenz unsere theoretische und praktische Arbeit bereichert,
hat die Mustererkennung einen wesentlichen Anteil daran. Das Ganze ist mehr als
die Summe seiner Teile, doch die einzelnen Teile erfahren ihren Sinn, ihre
Funktion erst über holografische Muster des Ganzen. Doch eben weil die
Fraglichkeit des Verstehens erst aus der Distanz der Infragestellung entsteht,
aus der Entfremdung und der Befürchtung, aus der Schöpfung herausgefallen zu
sein, sollte der Konstruktivismus durch Gesetzmäßigkeiten der psychischen
Ökonomie und des symbolischen Tauschs ergänzt werden. Adorno setzte den Prozess
der Entfremdung bis zur Verdinglichung dem Tod im Leben gleich, und genau an dieser
Argumentation ist anzusetzen, wenn statt der aus dem unerfüllten und auf
abgenutzte Klischees reduzierten Leben quellenden Todesangst das wohlige
Behagen des Verklingens tönen sollte. Die Menschen wären ausgeglichener und
würden den Tod weniger fürchten, außerdem hätten sie die Kraft zur
Zivilcourage, einfach Nein zu vielem zu sagen, das gewohnt ist, sie einfach als
verwertbare Objekte zu verwenden. Wobei für die Wirkungsweisen des Symbols kein
Besuch im Planetensystem der Aquinaten nötig ist, wie es das Durchdenken der
Religion von Trias nahelegt. Sondern dafür ist nur an den biblischen Terminus
des Erkennens zu erinnern: Der Geschlechtsverkehr ist das ursprüngliche Modell
des Zusammenfügens zweier getrennter aber zusammenpassender Hälften. Mit
Benjamins sprachesoterischem Symbolbegriff oder der soziologischen Konzeption
Baudrillards sind die Fraglichkeiten unserer multimedialen Jetztzeit viel
besser zu parieren, als mit den Fluchtbewegungen einer Reaktualisierung der Scholastik.
Anderthalb
Jahrtausende haben die Kirchen das Wissen verteufelt. Die Menschen sollten
glauben, Versuche des Verstehens grenzten bereits an Ketzerei. Diese
Basisprogrammierung hat sich unter den verschiedensten Verkleidungen der
Autoritätshörigkeit von der Aufklärung bis zur Wissensgesellschaft
durchgehalten. Die durch die Massenmedien verbreiteten Predigten der Normalität
erledigen für die meisten Menschen jedes strebende Suchen; wenn die
Grundbedürfnisse erfüllt sind, können sie mit irgendwelchen Ablenkungen oder
Besessenheiten die Zeit totschlagen und schließlich konsumgesättigt in den
Verzicht einwilligen. Für jene, die damit nicht stillzustellen sind, stehen die
nötigen Süchte und Manien bereit, an denen sie sich bis zur Erschöpfung
abstrampeln bis sie verzweifelt aufgeben. Die wenigen, die nach den
anfänglichen Versuchen, sich das Paradies zu ervögeln, dann während der Übungen
zur allmählichen Erschaffung junger Götter Ekstasen erreichen, die das Begehren
für eine gewisse Zeit löschen, erübrigt sich die Frage nach dem Sinn des
Unternehmens. Die kurze Zeitspanne, in der wir zwischen Geburt und Tod ohne Handbuch
oder passable Arbeitsanweisung an der Verkörperung von Lebendigkeiten
experimentieren, schreit vor allem nach Sinn dieses Unternehmens, nach einer Angst
und Unsicherheit auflösenden Bedeutung, solange uns ein unerfüllbares Begehren
antreibt. In der Regel krallen sich gerade die am Leben fest, die nichts
Erfüllendes mit ihm anzufangen wissen. Sie scheinen zu hoffen, noch dem zu
begegnen, was sie während vieler Jahre verpasst haben, sei es aus Unfähigkeit,
sei es weil sie den falschen Voraussetzungen geglaubt haben. Solche
Besessenheiten legen eine inverse Übersetzung der Wirkungsweisen eines
blankpolierten Spiegels nahe.
Derridas Dekonstruktivismus und Rortys hermeneutischer
Pragmatismus mögen Widerstände gegen die abweisenden Leere eines absurden kosmischen
Geschehens hervorrufen oder die Klage über eine damit verbundene unerbittliche
Sinnlosigkeit des Lebens. Doch dafür wären die richtigen Ansprechpartner
theoretische Physik, Kosmologie und Evolutionstheorie, und die schwachsinnigen
Folgen eines Tabus auf wissenschaftlichen Erkenntnissen werden in den USA immer
deutlicher. Sowohl ‚Die Zukunft der Religion‘ von Rorty & Vattimo wie der
Sammelband ‚Die Religion‘ von Derrida & Rorty werden von der Lust an der
Erkenntnis getragen und laden im Raum menschlicher Erkenntnisgrundlagen zur
Spurensuche ein, stellen ungewöhnliche Interpretationsanweisungen des uns
möglichen Wissens zur Diskussion. An manchen Stellen kommen sie dem Ansatz, die
Erfahrung des Heiligen aus dem hormonellen Geschehen abzuleiten, Erleuchtung
und Ekstase unter einer neurophysiologischen Perspektive zu verstehen, recht
nahe. Wir brauchen keine bombastischen Institutionen des Glaubens, die ihren
Bestand durch eine fortwährende Verdummung zu gewährleisten meinen, wenn stattdessen
ein Halt im Leben durch orgiastische Fundierungen der Körpererfahrung zu
gewinnen ist. Während Derrida die Aporien von Kants Religion innerhalb der
Grenzen der bloßen Vernunft durchkaut, ergibt sich die Frage, ob eine
Offenbarkeit früher als die Offenbarung anzusetzen wäre. Aus dieser ontologisch
stimmigen Fragestellung resultiert allerdings die Schlussfolgerung, dass sie
damit von allen Religionen unabhängig sein würde – womit wir bei der
allmählichen Verfertigung junger Augenblicksgötter angekommen sein könnten. Was
in einer philosophischen Begründung als Weglosigkeit zugleich richtig und
falsch ist – die Aussage eines Kreters, dass alle Kreter Lügner sind –,
verwandelt sich in den biographischen Mustern des Individuums zu einem
Double-bind, der zwar enorme Energien freisetzen, aber zu einer gefährlichen
Desorientiertheit führen kann. Doch was setzt die Liebe anderes in Bewegung,
solange sie ein Produkt der Abwesenheitsdressur ist und aus einem Begehren Idealisierungen
destilliert, die dann ganz im Sinne des Verzichts noch generalisiert werden. Was
wäre mit einer Botschaft der Liebe anzufangen, wenn sie nicht in verblasene
Konstrukte der Imagination gefiltert würde, sondern den konkreten, leiblichen
Funktionen der Orgasmologen unterstellt werden könnte? Sicher keine Wirtschaftsysteme,
die nur bei unbegrenztem Wachstum funktionierten, sicher keine unerbittliche
Ausbeutung der planetaren Ressourcen, sicher kein Ausweichen vor der Lösung der
auftretenden Probleme in Konflikte und Kriege… Ansätze finden sich im Beitrag
Garganis, dem es darum geht, die religiöse Erfahrung neu zu denken, jene
Zeichen und Bedeutungen wiederanzueignen, die ihrer Geschichte immanent sind. Er
macht sie zu Figuren einer Perspektive der Lebensdeutung, die diese auf die
Ebene einer außerordentlichen symbolischen Kraft transportiert. Damit wendet er
sich gegen die unsensible Vorgehensweise innerhalb religiöser Institutionen,
die eben diese symbolische Kraft verleugnet, um moralische Forderungen
durchzusetzen, die der Ausbremsung und Entkräftigung gewidmet sind. Moralismus
ist für ihn der Begriff für jene Verzerrung, die für die Herabwürdigung einer
Verkündigung der Kraft verantwortlich war, die die Liebe freizusetzen in der
Lage ist, auf eine Sammlung von Vorschriften für menschliches Verhalten. Tatsächlich
hat das Wort einen Hallraum, als käme es aus der Ferne, aus einem Hintergrund
des Schweigens, der das Sagbare erst möglich macht. Einem Moralismus als Verhaltenskodex
fehle vor allem die von der Liebe freigesetzte Energie der Selbsttranszendenz
und Ekstase; um die religiöse Erfahrung reduziert wurde er Selbstzweck der
Institution. Für Gargani ist der Zugang zur religiösen Erfahrung eine
Initiation in eine vorgegebene Interpretation subjektiver Erschütterungen und
zugleich eine von Unvorhersehbarkeit und Schmerz gekennzeichnete Erwartung –
für jemanden, der Kirchen und die ihnen nachfolgenden Institutionen
kompromisslos ablehnt, bleibt dieser Zugang für die Intensitäten der
Beziehungsarbeit des Paars reserviert. Zu Beginn wurde als Geheimnis der
christlichen Religion eine Liebe verkündet, die sich der linearen Abfolge der
Zeit entzieht und zwischen den Zeiten existiert. Eine paradoxe Passion, die es
schafft Verzweiflung wie Unmöglichkeit des Heils menschlicher Erfahrungen zu transzendieren,
die sich der Negation entzieht, obwohl sie zugleich die unvermeidlich mit der
Beziehung zum anderen einhergehende Spannung aufdeckt. Doch mindestens so
paradox endete dieser kulturelle Lernprozess in Kreuzzügen, Folter und
Inquisition. Aufgrund desselben Schematismus, der konkrete Gefühle und
Erfahrungen durch Prinzipien ersetzt, der auf den Glauben an die Institution pocht,
der individuelle Überzeugungen durch Dogmen ersetzt, versanden auch alle späteren
der Emanzipation gewidmeten Revolutionen in Terror und Opferkult.
Für Rorty und Vattimo hatte die Menschheit vor der
Aufklärung Pflichten gegenüber Gott, während sie nach der Aufklärung in der
Pflicht der Vernunft landete. Sowohl das »Zeitalter des Glaubens« als auch das
»Zeitalter der Vernunft« schlugen den falschen Weg ein, und zwar nicht, weil es
ihnen nicht gelungen wäre, die Gesetzmäßigkeiten der Dinge zu erfassen, sondern
weil sie die korrekte Repräsentation eines wahren Wesens jenseits der
menschlichen Sphäre anzielten. Dem Pragmatismus Deweys und der Hermeneutik
Gadamers entnehmen Rorty und Vattimo die Grundlagen für ein »schwaches Denken«,
das in der Lage ist, diesen metaphysischen Zwang beiseite zu lassen. Die
theologische und platonische Unterscheidung zwischen »dem Ewigen und dem
Zeitlichen«, zwischen »Wirklichkeit und Schein«, zwischen »Sein und Werden« zu
überwinden, heißt: Dazwischen gibt es einen Weg, der das alte europäische
Konzept des »Seins« oder die Idee eines »ontologischen Status« auflöst, um
sich weder einem göttlichen Stellvertreter zu verschreiben, noch individuelle Besessenheiten
zu totalisieren. Dieses durch Verweisungszusammenhänge abgefederte Denken
eröffnet alternative Perspektiven und bedient sich zugleich an den tragfähigen Werten
der Tradition. Kultur speist sich nicht mehr aus einer idealisierten
Überlieferung, also der Erbschaft eines unantastbaren Wissens, sondern aus
einer beständig erneuerten Selbstbeschreibung, die in eine existentielle
Selbstschöpfung mündet. Die Kritik eines objektivistischen Selbstverständnisses
der Geisteswissenschaften führt zu einem Verständnis von Kultur als Bildung,
mit dem die Menschheit in ein »Zeitalter der Interpretation« eingetreten ist. Das
Denken wird von Anliegen bestimmt, die nicht exklusiv in die Zuständigkeit der
Wissenschaft, der Philosophie oder der Religion fallen, sondern die eine Kultur
des Dialogs prägen. Sie sollte zur Kultivierung jener Lebensformen einladen,
die der Mensch mit Blick auf eine Steigerung des allgemeinen Glücks selbst
hervorbringt. Dieser philosophische Ansatz ersetzt den obsoleten Begriff der Objektivität
durch einen Bezug auf die intersubjektive sprachliche Übereinstimmung der
Beteiligten.
Erst in der Folge der Französischen Revolution
lernten Menschen, sich ohne das Stützkorsett ewiger Werte zunehmend auf ihre
eigenen Kräfte zu verlassen. Nach dem Ende der Metaphysik ist das eigentliche
Ziel philosophischer Forschung keine fundamentale Absicherung mehr durch den
transzendenten Bezug. An die Stelle eines unabhängig von uns existierenden Gottes
tritt das Prinzip Bildung, der Prozess einer unendlichen Formung und
Optimierung der Gattung Mensch. Eine Erneuerung der Philosophie durch das
sprachliche Apriori unterstreicht, dass unsere Erfahrung wesentlich sprachlich
geprägt wurde und unsere Existenz historisch geworden ist. Die Notwendigkeit,
mit dem Jenseitsbezug einen Zugang zum Ganzen namens Realität zu finden,
entfiel mit der sprachlichen Orientierung an Lernvermögen und
Wissensvermittlung – noch dazu erwies sich die Realität im Fluss und abhängig
vom dem für die Wahrnehmung präsenten Erfahrungsmustern. Bereits bei Dewey
findet sich die Feststellung, dass erst der Verzicht auf jegliche metaphysische
Kultur, auf den Glauben an nichtmenschliche Mächte und Kräfte, die nötige
politische Reife garantiere.
Rortys Neopragmatismus und Vattimos Hermeneutik übernehmen
die Aufgabe einer Dekonstruktion der Wahrheit als intuitiver Evidenz. Das bedeutet
vor allem das Ende des Logozentrismus, durch den einem endlichen Subjekt das
Sein zugänglich werde, also jenes Privilegs, das ein metaphysisches Denken der
Stimme als Verkörperungen des Logos und der Präsenz eingeräumt hatte. Dank
dieser radikalen Disseitsorientierung spielt sich Wahrheit nicht mehr auf der
Ebene postulierter Tatsachen, sondern allein auf der von Aussagen ab, womit
dies einem kulturellen Moment entspricht, mit dem das Ende der traditionellen
Metaphysik mit dem Dialog zwischen Natur- und Geisteswissenschaften,
analytischer und kontinentaler Philosophie, Atheismus und Theismus,
zusammenfällt. Ort der Begegnung für diesen Dialog ist die Sprache. Wenn der
Streit zwischen Religion und Wissenschaft nach und nach abgeklungen ist, dann
deshalb, weil beide Parteien sich immer weiter von den rationalistischen
Motiven der modernen Kultur und ihrer ausschließlichen Vorliebe für die
Erkenntnisproblematik entfernt haben. Sobald man dank der Hermeneutik erkennt,
dass jeder entscheidende Gedanke innerhalb einer geschichtlichen, ihn ermöglichenden
Situation aufkommt, die seinen Nährboden und begrifflichen Rahmen liefert,
sobald die Gewordenheit allen Wissens erkannt wird, beginnt die Grenze zwischen
wissenschaftlicher und humanistischer Kultur durchlässig zu werden. Über die
Metaphysik hinauszugehen bedeutet folgerichtig, auf die Frage zu verzichten,
was wirklich und was nicht wirklich sei; es bedeutet einzusehen, dass wir etwas
umso besser verstehen, je mehr wir darüber sagen können. Wo immer eine Autorität auftritt, die in Gestalt
einer wissenschaftlichen oder kirchlichen Gemeinschaft etwas als objektive Wahrheit
durchsetzen will, hat die Philosophie die Pflicht, diese Wahrheit ironisch zu
zerlegen. Das Resultat menschlichen Forschens und Wissens kann niemals
Objektivität sein, sondern ist immer ein interpersonaler Dialog, der im Teilen
einer Sprache wirksam wird. Eine Sprache zu teilen bedeutet nicht,
Objektivitäten zu teilen, sondern gemeinsame Vorlieben zu haben. Die
Übereinstimmung, die mit Hilfe dieser Vorlieben erzielt wird, kann zur
Entstehung eines neuen Paradigmas führen, eines neuen »Sprachspiels«, das die
Möglichkeit eröffnet, die Forschung aus der Gefangenschaft in einem einzigen
Vokabular zu befreien. Das ist gut so: Dem wären nur noch die nötigen
Wahrheiten des Körpers hinzugesellen und daran zu erinnern, dass in den
verschiedensten Zusammenhängen gezeigt werden konnte, warum die Stimme als
Verkörperung des Logos nicht nur dazu taugt, finanzielle Umsätze zu bewegen. Sie
ist auch in der Lage, jene Wahrheiten pragmatischer Handlungsvollzüge in die
Wege zu leiten, die erweisen, dass sie nicht nur das Produkt von Sätzen sein können.
Nachdem die bisherigen Ausführungen mehrfach das
selbstheilende Glück des Unvorhergesehenen bemüht haben, darf eine weitere Abschweifung
dessen Bedeutsamkeit unterstreichen. Sloterdijks legte in ‘Über Verborgenheit’
dar, warum eine Philosophie der Latenz gegen das offenkundige Unheil in der
Welt ein Aufgebot des Glaubens ist. Er zeigt, wie die klassische
Metaphysik als Allgemeine Immunologie reformulierbar ist, damit aber dem Unheil ein
Recht auf das letzte Wort abspricht. Dieses urtümliche Prinzip Hoffnung geht
auf generationsübergreifende Kopierprozesse für ethnosemantische Inhalte zurück
– doch es rehabilitiert die Grundlage oder Voraussetzung für Allgemeinbegriffe.
Je weiter ein Konzept verbreitet ist, desto allgemeiner scheint
die in ihm abgesunkene Schematisierung alltäglicher Routinen präsent zu sein. Aus
diesem Grund sind Konzepte der Verborgenheit und Unsichtbarkeit anzunehmen, die
bereits vor der Archivierung eines versprachlichten Wissens jene Kehrseite der
Universalität handhabten. Wer im Licht des Daseins Fuß zu fassen vermochte,
befand sich trotz des Alltags menschlicher Gemeinschaften zwischen
zwei Dunkelheiten. Lange vor der Artikulation metaphysischer Konzepte als
lexikalischer Resultate erfahrener Handlungen umschreiben das Woher der Geburt
und das Wohin des Todes ein gemeinsames Feld, das zur Entschlüsselung und Erforschung
von Verborgenem und Unerwartetem auffordert. Magisch-animistische Partizipation
und praktische Untersuchungen führen zu ambivalenten Zeugnissen jener
Protodramen der Natur, die entscheidende Fragen freisetzen: Was war vor der
Geburt, was wird sich nach dem Tod abspielen.
Die
Sprachen der alten Völker gelangten durch Metaphorisierung konkreter
Vorstellungsbilder zu vorphilosophischen Weltbegriffen, die mit philosophischen
Systemen mehr gemein haben, als heute etymologische Rückführungen erweisen.
Sie sind nicht nur Resultate generalisierender Übertragungen, die einer
ausgreifenden Imagination den Sprung in ein Ganzes ermöglichten. Sondern sie
halten das weise Bewusstsein an, Respekt vor einem Unbekannten zu haben, das
nicht nichts ist. Denn die Realien hinter dem Horizont werden nicht präsent,
sondern immer nur erschlossen und geglaubt. Nicht nur die Erotik spielt mit
einem zeigenden Verbergen und einem verbergenden Zeigen, um uns mit dem
Versprechen einer Ganzheit zu fesseln. Das Spiel von Verborgenheit und
Entbergung deckt für ein waches Denken im Weltbegriff selbst ein universales
Integritätsgeschehen auf. In einer um das Unerwartete, Unvorhersehbare und
Fremde ergänzten Welterfahrung findet sich wie in der Liebe alles, worin die
Möglichkeiten eines gelingenden Lebens enthalten sind; diese
Integrationsgeschehen steht für eine Ganzheit, die ein Immunitätsversprechen
höchster Stufe gewährt. Wenn noch so viele Fälle von Misslingen manifest
werden, hält sie Gegengifte gegen die Überhöhung des Scheiterns bereit, weist
das Sein als selbstheilende, immunisierende Vermittlung auf einen Sinn hin, auf
eine Ergänzung im buchstäblichen Sinne des Wortes.
Für
Steiner, der ekstatische Benetzungen und mimetische Überformungen dem Bereich
der ultimativen Negation zuordnet und damit ausschließt, resultiert die
unvordenkliche Logik der Beziehungen zwischen Musik, Dichtung und Kunst auf dem
Affront des Todes. Im Tod erhält die schwer zu greifende Konstanz des anderen,
auf die wir nicht einwirken können, ihre deutlichste Verdichtung. Die
Faktizität des Todes mache uns zu Grenzgängern, weil sie sich Vernunft, Sprache
und Selbstoffenbarung widersetzt. Aus diesem Grund könnte zu schließen sein,
dass bereits der „kleine Tod“ eine Vorschule jener Gelassenheit ist, der es auf
den Tod nicht mehr ankommt; die Erfahrung eines sozialen Todes vergrößert die
Abstände zu jener hysterischen Todesverhaftetheit, von der vor allem jene
Großinstitutionen profitierten, die die Menschen mit Paradiesvorstellungen
geködert haben, um über sie als Letztmaterie zu verfügen. Wenn wir im Leben
nicht auf den Dreh kommen, uns hinzugeben um den Augenblick auszukosten, wird
es uns auf die Dauer nur hart und böse, egoistisch und unerbittlich machen.
Doch genau das hilft nichts, denn alle Verleugnung sorgt auf die Dauer für die
unerbittliche Wiederkehr dessen, was verdrängt werden sollte. Die
Angstbewältigung sorgt mit jedem Durchlauf für den Zwang einer höheren
Dosierung und damit für eine Bestätigung der Angst. Aus diesem Grund versuchen
sich Menschen durch irgendwelche kulturellen Artefakte mit der Unaufhaltsamkeit
des Todes zu versöhnen, indem sie Werke schaffen, in denen sie sich verewigen.
Für Steiner erzeugt die luzide Intensität der Begegnung mit dem Tod in
ästhetischen Formen jene Aussage von Vitalität und Lebensgegenwart, die ernstes
Denken und Empfinden vom Trivialen und Opportunistischen unterscheiden. Der Tod
räume den Künsten Gelegenheiten auserwählter Begegnungen ein, besser noch, diese
üben den Zwang aus, ihm Werke abzupressen, wie dies weder Wissenschaft noch
Politik zustande bringen. Nehmen wir noch einmal die Argumentationsfigur der
Komplexitätsreduktion des Süchtigen auf, so bietet sich allerdings eine lebensfähigere
Alternative zu diesen stellvertretenden Figuren des Opfertods an. Angemessener
wäre es in jedem Fall, sich auf die Gegenwart einzulassen und ein vertretbares
Maximum an Empfindung und Erfahrung auszureizen – allerdings muss man/frau die
Produktivität einer exzentrischen Positionalität erst einmal gelernt haben.
Steiner
schreibt der sublimierten Schönheit Wahrheiten und Bedeutungen zu und hält sich
an einer Resttheologie fest. Tatsächlich machen viele Einsichten, die verschiedensten
Fakultäten entstammen, nachvollziehbar, wie die Theologen erst mit der Tabuisierung
der Sexualität jene ursprüngliche Überzeugungskraft erotischer Schönheit
usurpieren konnten. Dafür mussten sie deren Wahrheit, die einer Logik der
Todesverhaftetheit überlegen war, durch die Ontologisierung der Begriffe von
allem Schmutz körperlicher Bindungen befreien. Allerdings hat sich erwiesen,
wie die Fundierung aller Bedeutungen in Gefühlen geleistet wird. Wenn es heißt,
erst die Form verbürge die Verweisung oder Selbstverweisung auf eine
transzendentale Dimension, wobei dies Kunst von Anfang an geprägt habe, ist
bereits jener Zwangsmechanismus vorausgesetzt, der vom
man-muss-sich-eine-Form-geben bis zur Einsetzung eines Gottesstaats reicht. Der
Phallozentrismus mag ursprünglich einer Erektionssublimation entspringen, doch
in Großinstitutionen wird er zum Potenzersatz sexuell Behinderter. Was bleibt
von einer Freude an der Lebendigkeit, von den wachen und aufmerksamen Vollzügen
einer Mimesis, mit denen erst eine Welt entsteht, in der die Möglichkeit
gegeben ist, mit der sich der Mensch als Schöpfer dieser Welt entdeckt und
trotzdem das ozeanisch Gefühl des Einsseins und der Verschmelzung mit dem
anderen oder einer Ganzheit der Welt kultivieren kann.
In
‚Von realer Gegenwart‘ steht der Bereich der Musik im Zentrum der Sinnerfahrung
des Menschen – mit der Frage, was ist der Mensch? werden Mensch und Musik zu
Synonymen. In ‚Blaubarts Burg‘ heißt es, dass die Musik von Kierkegaard und
Nietzsche als Hauptträger von Energie und Sinngebung eingeschätzt wurde, dass
nach der Bloßstellung aller Sprachverlogenheit durch Psychoanalyse und
Massenmedien die Musik im Begriff stehe, ihren uralten Boden wiederzugewinnen –
jenen Boden, der ihr durch die Dominanz des Wortes entrissen worden sei. In diesem
Zusammenhang könnte die Biochemie ein tragfähiges Fundament liefern, die
subliminale Wirklichkeit der Peptide. Ergänzend zu dem in den Ausführungen zu
‚Lust- gegen Machtpolitik‘ interpretierten kulturschwulen Motor des Orpheusmythos
verweist Steiner auf das Koordinatensystem der ursprünglichen Motive, welche
die Verfassung des Künstlers und des Werkes, seiner Schöpfung und dessen
Rezeption kennzeichnen. Wir sind Sprach- und Bildtiere, unsere Anfänge und die
Überlieferung des Mythischen bewohnen die Sprache bereits, bevor wir ins Leben
entlassen werden. In den meisten Fällen wird der größere Teil unserer
persönlichen und gesellschaftlichen Existenz bereits in Sprachgirlanden
vorweggenommen, muss nur durch Lernprozesse und Erfahrungen angeeignet werden. Und
doch sind wir offen für Neues, partizipieren an einer welterobernden Kapazität,
die uns Künstler und Wissenschaftler vormachen. Doch dieser Lernprozess ist
nicht ungefährlich, denn für alles Neue durchlaufen wir Phasen des Absterbens:
Wir müssen für einen Moment vergessen, was uns wichtig sein sollte, verraten,
was wir geliebt haben, verlieren, an was wir einmal geglaubt haben.
Den
narzisstischen Dichter gefährdet die Todessehnsucht, denn der Tod prägt die Bedeutung
und verspricht ihm Unsterblichkeit – während beim Wissenschaftler
Konkurrenzdenken und Machttrieb über Umwege vergleichbare Besetzungen der
Selbstzerstörung stiften. Aber beiden gestattet dieser Antrieb zugleich, dem
Vergessen und der Negation des Seins zu trotzen. Außerdem illustriert der
narzisstische Bezug das grausame und zwiespältige Mysterium des vom Orpheusthema
thematisierten Zusammenstoßes zwischen Mann und Frau: Den Widerstreit zwischen
Eros und Tod, Sehnsucht und gegenseitigem Hass. Auf dem Terrain der Poiesis,
für welche die Frau häufig Ursache und Zerstörerin zugleich ist, werden Intuitionen
freisetzt, die zu den ursprünglichsten Erfahrungen der Menschwerdung
zurückführen – ein wesentlicher Schritt auf dem Weg der Kulturalisierung wurde
durch die sexuelle Sozialisierung des männlichen Nachwuchses geleistet. Zugleich
werden Erinnerungen an früheste Konflikte zwischen einem auf der Gefühlsebene
klingendem Gesang und der objektivierenden und damit distanzierenden Sprache freigesetzt,
ganz früh ist dies der Widerstreit zwischen Musik und Poesie. Zu den Ambivalenzen
zwischen Gestaltbild und sprachlich kodifizierter Bedeutung passt bereits Steiners
Beobachtung, dass sexuelle Begegnungen in einer anderen Sprache einen anderen
Eros freisetzen – der Atemrhythmus variiere in den verschiedenen Sprachen, beeinflusse
das Vorspiel wie den Sexualverkehr. Im parasympathischen Nervensystem verzahnen
sich Leib und Denken ineinander. In diesem osmotischen Feld vermutet er die
teils bewussten, teils unbewussten Rezeptionsformen der Sexualität, die nicht
nur auf visuelle Reize, sondern bei den meisten Menschen auf verbale
Stimulierungen ansprechen.
Die
griechischen Sänger, Dichter und Metaphysiker des Seins gehen als Kinder der
Musen von der Weisheit aus, eine harmonische Musikalität als Grundlage der
auf Eintracht zielenden politischen
Verfassung, der würdigen Architektur und selbst der wohlgeordneten Kriegsführung
zu setzen. Die Kennzeichnung der Erinnerung als Mutter der Musen zeige eine fundamentale
Einsicht in das Wesen der Kunst und des geistigen Vermögens, denn die
Kultivierung eines gemeinsamen Erinnerungsvermögens setze eine Gesellschaft in
ein natürliches Verhältnis zu ihrer eigenen Vergangenheit. Sie bilde durch die
Überlieferung sogar eine Schutzimpfung für den Kern der Individualität, für Picht
ein immunisierendes Puffersystem der Psyche. Im Konflikt zwischen sinnlicher
Empfindung und kodifiziertem Sinn spekuliert Steiner nun, der Dichter, Musiker
und Schamane Orpheus befreie Eurydike durch seinen Gesang aus der Unterwelt,
aber diese wende sich an der Schwelle zum Licht ab. Sie bewahre in der
Erinnerung eine Musik, höre diese von den fernen Schatten aufsteigen, die für
die Seele noch verführerischer, noch reizvoller sei, als die des Orpheus. Diese
Verführung geht von der Perfektion und Stimmigkeit eines Zustands aus, der vor
den Nöten, Bedürfnissen und Begehrlichkeiten der Lebendigkeit anzusiedeln ist –
wir haben noch einen Rest davon in jenen Rauschzuständen, denen die Metapher
stoned zu verdanken ist: Als Sein ungerührt, perfekt aber tot zu sein, von
Veränderungen nicht erreicht zu werden. Im Kontext der Zerstückelung des
Orpheus vermutet Steiner eine mörderische Polemik zwischen einer Kunst, in der
Wort und musikalischer Klang verschmelzen, also sprachliche Grammatik und
musikalische Syntax zu einer Einheit werden, gegenüber einer reinen, totalen
Musik der Stimmentfaltung, die frei von aller sprachlichen Semantik ist. Die
Schreie der Bacchantinnen, das Bellen Kassandras bei Aischylos, die
rhythmischen Schreie der Bacchusjüngerinnen bei Euripides sind Beispiele dieser
totalen Ergriffenheit. Der reine und unverfälschte Klang widerrufe die sprachliche
Menschlichkeit im ekstatischen Namen von allem, was älter ist als der Mensch:
Töne ohne Worte, Schreie der Liebe und des Krieges. Die brutale Unschuld des
Organischen wird durch die nicht weniger grausame apollinische Klarheit verdrängt,
womit der sadistische Triumph des Mythos den Übergang der Musik zum Sagen
verkündet. Vergeblich opponiert die mimetische Verspottung der menschlichen Stimme,
die imitative Verherrlichung des Gesangs der Vögel dagegen. Mit der Wendung
gegen den unreinen, aber unverfälschten Klang, der noch lange keine Musik ist,
wird jene Schwelle zum Licht gekennzeichnet, die die Abwendung Eurydikes
erklärt: Der Verrat am Klang zugunsten von Sinn und Bedeutung. Mit dieser Erinnerung
an die Niederlage einer in kreisläufige Naturprozesse eingebundenen weiblichen
Mimetik gegenüber den Abstraktionsleistungen einer stumpfen, männlichen Welteroberung.
entfernt sich eine abstrahierende Welthaltung, die mit Wert und Bedeutung einem
Vektor folgt, immer weiter aus den natürlichen Lebenszusammenhängen. Apollons
Kunst und Ästhetik verkünden wie der Gesang eines Orpheus die Einheit der Musik
und der Sprache, von Klingendem und Logos. Im Kampf einer sprechenden Musik
gegen die nackte Tonalität, eines menschlichem Maßes gegen den unregulierten,
aber umfassenden Klang, siegt die mathematische Last des grammatischen Sinns
als Absage an die Universalität eines ewig klingenden Sinus. Vergleichbar
verleihen die Sirenen der Natur als Schwestern von Stimme und Vers die harmonische
Ordnung eines höchsten und vollkommenen Einvernehmens: Ihr Gesang suggeriert
selbst noch, alles von Odysseus zu wissen und ihn alles erfahren zu lassen, was
geschehen ist, was geschieht und was sein wird. Demgegenüber hat die Dame
Vernunft die Lügenhaftigkeit dieser Verheißung zu offenbaren und an eine der
Sprache und der kodifizierten Bedeutungen zu erinnern. Für Odysseus‘ gefesselte
Aufmerksamkeit, eines Mannes der Sprache und der Listen des Logos, verwandelt
sich der göttliche Gesang der Sirenen in ein Trugbild, eine Bedrohung, die die
Abstände erhöht Sein Mangel an Resonanz stürzt sie in jene Verzweiflung, die
bis dahin den Menschen vorbehalten war, sie gehen in der Tiefe ihres Gesangs
unter. Der Mythos thematisiert den gewaltsamen, infernalischen Charakters des
Gesangs, aber er läutet das Bündnis zwischen Musik und Sprache ein, indem er
ihre ursprünglichen Rivalität auf den Nenner bringt, den Todeslauf ihrer Koexistenz
in jeder Vertonung des Wortes. Doch das ist nicht alles, sondern Resultat einer
extremen Epoché unserer natürlichen Verhaftetheit, denn tatsächlich bleibt
davon etwas erhalten. Was ist mit der Sprachmelodie, mit der von Barthes gekennzeichneten,
körperliche Wahrheiten transportierenden Rauheit der Stimme, mit dem
spezifischen Klang unseres Sprechens, an dem sich Echtheit, Individualität und
Inkommensurabilität erweisen?
Die früheste
Erfahrung einer Einheit liefern uns die Töne und Rhythmen der ursprünglichen
Symphonie des Geschehens im Mutterleib, deren Erforschung sich Tomatis im
‚Klang des Lebens‘ gewidmet hat. Wir hören die umfassende, körperliche
Lebendigkeit unserer ersten Bezugsperson, sind durchdrungen von ihrem Sound,
sind also für das Gefühl einer Einheit unseres Selbst nicht auf spätere, immaterielle
Rückwirkungen eines Spiegelbilds angewiesen. Dieser Sound wurzelt im Ursprung
unserer Paradiesvorstellungen, auch wenn er gelegentlich von stressigen
Kakophonien und dramatischen Panikattacken überlagert wird oder sich später
während verschiedenster Emanzipationsbestrebungen als ausbruchssicheres
Gefängnis einer verhärteten Identität erweist. Im Leben verhören wir uns gar zu
gern, um diesen Basisprogrammierungen nachträglich ein Recht einzuräumen, das
uns keines mehr lässt. Eine von Sonnemann angeregte Korrektur verweist vor
allem auf das Labyrinth des Ohrs, dessen einschließender und bannender Wirkung
wir nur mit einer Ariadne gewachsen sind – die Liebe als Aktualisierung der
verdrängten Erinnerung an einen gemeinsamen Körper ist in der Lage, die
ursprüngliche Abhängigkeit zu sprengen; sie verflüssigt die libidinöse
Verhaftetheit, öffnet Passagen in die Erfahrung einer Welt, die neue und
dynamische Selbsterfahrungen jenseits von identifikatorischen Besitzansprüchen
und Machtfantasien des Ich ermöglicht. Tatsächlich taucht der aus dem Labyrinth
führende Faden in einem kulturellen Rahmen auf, der ex negativo die Beziehungsarbeit
der Geschlechter als Oberbegriff vorgeführt hat. Das tragische Fundament der
abendländischen Kultur hat aufbewahrt, wie diese Gesetzmäßigkeit nur die Frau beherzigt
hat, während der Mann als kultureller Heros meinte, sich mit Hilfe des
Frauenopfers über eine der umfassendsten Weisheiten hinwegzusetzen – für Kamper
haben die Folgen der daraus entstandene Schuld offensichtlich zur Perpetuierung
und zu Wucherungen des Opferverhaltens in der patriarchalischen Kultur geführt.
Saner unterstrich mit der ursprünglichen Verschwisterung der
weiblichen Wesen Liebe und Tod die Spekulation, der Mythos von der todesbezwingenden
Kraft von Liebe und Musik sei älter als der männerrechtliche Systemwechsel der
Kultur, den der Orpheus-Mythos dokumentiere. Die den Menschen ergreifende Musik
übersteigt wie die Schönheit die Kraft der Worte, sie stifte eine Welt jenseits
der Antagonismen und Zwiste. Dagegen modifizieren die klassischen Versionen des
Orpheus-Mythos das Ergebnis durch den unaufhebbaren Antagonismus von Liebe und
Tod, nichts weist mehr auf ihre Verschwisterung hin. Musik oder Kunst werden
umso ergreifender, umso mehr sie sich der vergeblichen Liebe, der Trennung und
Abwesenheit der Geliebten widmen, geraten zum wehmütigen oder schwülstigen
Surrogat des realen Vollzugs. Bohrer hat die ‚ästhetische Negativität‘ als
Ausweichbewegung gekennzeichnet, die eine aus verpassten Vereinigungen der Liebenden
resultierende Melancholie in ästhetisches Pathos und die Wollust der Darstellung
der erfahrenen Schmerzen transformiert. Seit dem der Mystik verdankten Erhebungsmotiv
der abendländischen Lyrik, mit dem die Ursprünge der modernen Subjektivität
entstehen, werden Geliebte umso begehrenswerter, umso unerreichbarer sie sind. Mit
der romantischen Liebe hat sich der Liebeswunsch im schmachtenden Begehren derart
zu verzehren, dass jede Erfüllung nur mit Enttäuschungen aufwarten kann, ihr
aus diesen Grund durch Partnervermeidungszwänge ausgewichen wird. Dabei ist die
Regel der Entmaterialisierung uralt: Orpheus wird im noch jungen Patriarchat
bereits durch die Versuchung, den Logos zu transzendieren, zu den
Verzichtleistungen der kulturschwulen Vereinigung geführt, die schließlich mit
der Vernichtung des Heros endet. Die Rettung Eurydikes misslingt aufgrund des
kontrollierenden Blicks zurück – für Lacan ein Beispiel für die notwendige
Verfehlung des Anderen, denn das Auge will beherrschen. Dieser narzisstische
Machtanspruch ist ein Resultat der Mutterabhängigkeit, betrifft gerade deshalb
das geliebte Objekt. Orpheus‘ Versuch, unter Verzicht auf die weibliche Welt
mit Jünglingen ein der sublimierten Kunst Apollons gewidmetes Leben zu
gestalten, nimmt ein tragisches Ende durch den Dionysos begleitende, rasende
Mänaden: durch orgiastische Frauen! In diesem gedoppelten Scheitern könnte eine
Bedienungsanleitung aufgeschlüsselt werden, wie die Spätfolgen eines Kampfes
der Geschlechter zu bearbeiten sind. Vorerst ist hier nur zu unterstreichen, warum
dem Sänger der apollinischen Musik ein dionysisches Schicksal bereitet wird.
Der Vater des Gesangs hätte ein verfeindetes Doppelreich von apollinischen und
dionysischen Energien harmonisch zu organisieren gehabt – maximale Gegensätze
in einer Harmonie zu vereinen, macht den Reiz und die Kraft großer Kunst aus,
die damit noch immer an der Weisheit eines Heraklit partizipiert. Was
unauflösbar in Gegensatz und Streit verflochten ist, wird sich auf die Dauer
aber unbarmherzig gegen jeden Orpheus wenden, der sich für nur eine der beiden
Seiten entscheidet. Der Kampf der Geschlechter kann dagegen über ein Lernen der
Gesetzmäßigkeiten des Lernens immer wieder lustvoll verpuffen, wenn sich auf
einer Ebene, die bereits den Regeln von Batesons Lernen 3 entspricht, Kontraste
und Gegensätze zu einem momentanen harmonischen Ganzen zusammenklingen.
Musik
als rhythmische Modulation des Lautstroms oder als instrumentale Bearbeitung
von Objekten ist ein universelles Faktum der menschlichen Geschichte. Jahrtausende
vor der Erfindung der Schrift dienten Mythen und Fabeln der Überlieferung
religiöser und magischer Lehren, wurden Zaubersprüche und Verfluchungen mündlich
weitergegeben, wobei Rhythmus und Wiederholung als Erinnerungshilfen dienten. Etwas
auswendig zu können bedeutete, von dem Gegenstand Besitz zu ergreifen aber
auch, von ihm besessen zu sein. Die Musik war das grundlegende Medium für
Sensibilität und Sinn. Ein großer Teil der Menschheit musste sich mit rudimentären
Aufzeichnungen begnügen, wobei Lesen und Schreiben getrennte Routinen waren;
selbst als es Handschriften und erste Bücher gab, blieb dies wenigen
Berufszweigen vorbehalten. Mit Worten nach etwas zu fragen, das vielleicht vor
den Worten liegt, wie das Ding-an-sich vor der semiotischen Verarbeitung
scheint unmöglich; doch Musik tut genau dies: Deshalb wurde gesungen und
getanzt. So staunt Steiner in den verschiedensten Zusammenhängen immer wieder,
warum niemand je erklärt habe, aus welchem Grund Lévi-Strauss die Erfindung der
Melodie als das höchste Geheimnis allen menschlichen Wissens bezeichnen konnte.
Vielleicht liefert die Alternative zur Fixierung auf Sprache, Schrift und kodifizierte
Bedeutungen bereits eine brauchbare Erklärung – alle performativen Formen, mit
denen die Sinne angesprochen werden, mit denen keine Konvention die Vielfalt
der Interpretationsmöglichkeiten ausklammert, haben an diesem Geheimnis teil.
Während Musik einerseits in ihrer Tongebung höchst metaphysisch ist und am
tiefsten in die erleuchtete Nacht der Psyche eindringt, ist sie zugleich der
fleischlichste, der somatisch am ehesten nachweisbare aller bedeutungstragenden
Akte.
Die
sokratische Form charakterisiert eine Methode des gesprochenen Wortes, das
durch Gestik und Mimik unterstrichen wurde, also eine Zusammenkunft von
Gesprächspartnern voraussetzte. Der charismatische Zauber eines Sokrates beruhe
auf Stimme und Haltung, auf Szenarien der Exzentrizität, die seine Botschaft in
vielen Varianten schillern ließ und sie mit einem eigenen Leben versah. Der
geschriebene Text dagegen impliziert durch seine fixierte Überlieferung
Autorität, beanspruchte einen Sinn zu transportieren, der unumstößlich war. In
ihrem tiefsten Wesen ist die Schrift normativ, Autor und Leser sind durch einen
Halt und Wahrheit verheißenden Sinn verbunden. Schreibakte bringen Gewaltakte
und das Resultat ihrer Anerkennung als Macht zum Ausdruck. Die Tatsache, dass
ein Text im Besitz einer herrschenden Elite ist und von ihren Priestern und
Verwaltern verwendet wird, impliziert Autorität, ist ein Synonym für Macht.
Noch heute machen Menschen die Erfahrung, dass die Schreibe mortifiziert, dass
sie Erregungen zur Ader lässt und jenes abgeklärte Maß an Distanz zu erreichen
hilft, dank dem bösartige Strategien oder verwunschene Wiederholungszwänge
nicht an den Betroffenen hängen bleiben, sondern sich ein Ziel suchen, das
ihren negativen Spannungen eher gehorcht. Aus diesem Grund wird der Schreibakt
im Sinne eines symbolischen Tauschs auch gegen diese Kulturtechnik der
Mortifikation einzusetzen sein. Jeder
Sprech- oder Schreibakt entspricht einer Encodierung, deren performative
Elemente eine Formalisierung beanspruchen und innerhalb gewisser Grenzen eine
systematische Entzifferung ermöglichen sollen. Solche Voraussetzungen versagen
allerdings entscheidend in jenen menschlichen Zusammenhängen, in denen
Bedeutung zu formalisiert ist, denn alle menschliche Geschichte ist eine
Geschichte des Bedeutens. Keine Formalisierung ist in der Lage, die semantische
Breite und Tiefe einer Kultur gerecht zu werden, dem Reichtum an Denotationen,
Konnotationen, tonaler Registerbreite, impliziter Bezugnahme und tabubedingter
Auslassung. Wenn wir die Komplexitätsreduktion verabschieden und uns auf das
Spiel der Wissensweisen einlassen könnten, wäre der explikative Kontext, der
umfassende Horizont relevanter Werte, die die Bedeutung der Bedeutung jedweder
verbalen oder schriftlichen Äußerung jeweils umgeben, der des Universums,
soweit es von Menschen als sprachbegabten Wesen bewohnt wird.
Nach
und nach mag deutlich geworden sein, warum sich im Laufe der Jahre symbolischer
Tausch und Gerechtigkeit als die eigentlichen Grundlagen der Lebendigkeit
erwiesen haben. Bateson hat einmal das grundlegende Organisationsprinzip auf
den Nenner gebracht: Jenseits der Subjekt-Objekt-Dichotomie und der
Einkerkerung des Denkens in vereinzelten Köpfen ergibt das Gefühl oder Gespür
für Mustererkennungen ein Muster der charakteristischen Muster eines Kontextes.
In vielen zwischenmenschlichen Zusammenhängen führt dieses Metamuster auf den
symbolischen Tausch, obwohl jeder Krüppel ohne Mühe oder große Schmerzen
täglich dagegen verstoßen kann. Damit erweisen sich die zugrunde liegenden
Gesetzmäßigkeiten als die der Wirklichkeit des Paares, selbst wenn sie sich in
vielen Fällen nur ex negativo aus der Verleugnung erschließen lassen. Der symbolische
Tausch arbeitet für uns mit, prägt ein in der Beziehungsarbeit entstehende Feld
der Präsenz einer durchdringenden, von den Haarwurzeln bis zu den Zehenspitzen
reichenden Geistesgegenwart. Wenn wir versuchen, seinen Gesetzmäßigkeiten zu
gehorchen, wird schnell klar, dass wir vieles erst anhand unserer Fehler und
Irrtümer entdecken. Von alleine geben sich die Muster nicht zu erkennen, bis zu
einem gewissen Alter und auf einem relativ geringen Energielevel handelt es
sich um ein sehr fehlertolerantes System – erst auf dem Weg zur Ranghöhe einer
personellen Macht wird ein makelloses Verhalten notwendig. Wer erst einmal auf
die wichtigen Unterscheidungen gestoßen ist, kann feststellen, dass einigen
Biographien das Zurückschrecken vor dem Vergleich und vor der Verdinglichung
abzulauschen ist. Das Bejahen des Unvorhergesehenen ist keine Selbstverständlichkeit,
sondern das Resultat der Erkenntnis, dass das ‚Ich‘ ein Anderer ist und häufig
genug der wachen Lebendigkeit im Weg steht, damit also der Beginn eines Läuterungsprozesses.
In
der sympathischen Tugendlehre Seels, die ein harmonisches Austarieren der mehr
oder weniger ambivalenten Folgen von über 500 Tugenden und Lastern empfiehlt,
finden sich mehrere Anknüpfungen an Aristoteles‘ Nikomachische Ethik. Bei den
Differenzierungen des Begriffs der Gerechtigkeit sind Anklänge an die Wirkungsweisen
der Erfahrung des symbolischen Tauschs zu bemerken. Einerseits wird
Gerechtigkeit als eine unter anderen Tugenden verstanden, allerdings als ein
gewichtiger Teil der Tugend. Andererseits wird sie aber auch als Inbegriff der
Tugend aufgefasst. In dieser allgemeinen Bedeutung gilt sie als diejenige
Tugend, in der die dem Menschen erreichbare Vortrefflichkeit kulminiert, weil
sie die Trennung von Selbstsorge und Fürsorge übergreift – den Selbstbezug also
in Erkenntnis- und Verhaltensformen der Selbstdistanzierung verwandelt. Die
Notwendigkeit einer solchen Distanzleistung wird auch von Sennetts Analyse der ‚Tyrannei
der Intimität‘ unterstrichen. Die durch den Wachstumsimperativ der
Überflussgesellschaft geförderten Narzissmen setzen nicht nur Umsatz frei,
sondern als Folgeschaden werden große Teile der westlichen Gesellschaft in Suchtverhalten
und Selbstbezogenheit getrieben, der sie weitgehend unfähig zu Hingabe und
Lustempfinden macht. Der Narzissmus produziert die Ambivalenz, zum einen das
Begehren und die Bedürfnisbefriedigung des Selbstbezugs zu verstärken und zum
anderen eine wirkliche Erfüllung zu blockieren. Der Konsum als Existenzbeweis wird
zu einer Form der Selbstzerstörung, während die erotischen Quellen göttlicher
Energien versiegen. Im Rahmen eines von Boehm herausgearbeiteten ‚Radikalen
Universalismus‘ wird Gerechtigkeit als umfassende Reziprozität die einzige Idee
genannt, der es gelingen könnte, nihilistische Aspekte des Rechts und der
Ökonomie zu überwinden. Die Errungenschaft des Monotheismus liege nicht etwa in
den enormen Abstraktionsleistungen, die aus den vielen Naturgottheiten den
einen Gott geformt haben, sondern in der Erkenntnis, dass die Gerechtigkeit
noch über diesem einen Gott anzusiedeln sei. Ein ungerechtes Gesetz taugt nicht
zum Gesetz, ein Profit ausspuckender ökonomischer Tausch widerspricht den
Gesetzmäßigkeiten des keine profitablen Reste abzweigenden symbolischen
Tauschs. Die Auszeichnung der Gerechtigkeit verweist auf das dynamische
Verhältnis der vielen Tugenden und Laster, wenn sie miteinander in einem Mobile
verknüpft, zu einem gemeinsamen Leben in Selbstbestimmung und Selbstachtung
befähigen sollen. Die Verwandlung dieser Bewegungen zwischen Extremen zu einer
abstrakten Theorie hat zwar etwas Verführerisches, aber nur, wenn sie
ambivalent und offen bleibt, ein Motiv oder Antrieb des Denkens. Wir leben in
keiner starren und hierarchisch geordneten Welt mehr, in der die Freiheit und
Selbstdefinition einer kleinen elitären Gemeinschaft durch ein Sklavensystem
ermöglicht wurde. Doch sehr wahrscheinlich durfte der symbolische Tausch schon
damals weder ertrickst noch erzwungen werden, er untersteht keiner planbaren
oder berechenbaren Strategie, sondern zeigt unter den genannten Einflüssen eine
schelmische, unerwartete und unwahrscheinliche Form der Gerechtigkeit, die die
Konstellation völlig verändert und sich innerhalb des Signifikantennetzes wie
von selbst einzustellen scheint. Er kann sich in eine
Waffe verwandeln, wenn von einem selbst keine Negation ausgeht, keine bösen
Wünsche, kein verlogenes Theater, kein selbstgerechtes Auftreten. Aber das Geschehen
ist längst nicht steuerbar und sucht seine eigenen Wege, wenn unwillkürlich
Kräfte freigesetzt werden und bei Leuten reinschlagen, bloß weil sie eine/n ein
bisschen ärgern wollten oder uns im falschen Augenblick in einer Wolke von
Eifersucht oder Neid über den Weg gelaufen sind.
Mit
Žižek
ist eine weitere Erdung jener ursprünglichen theologischen Setzungen
nachvollziehbar; er liefert sogar Zugänge und Anregungen zur Verkörperung göttlicher
Energien. Das Verhältnis zwischen Polytheismus und Monotheismus muss nicht
unbedingt als das zwischen der Vielheit und seiner tyrannischen Totalisierung
durch das ausschließende Eine verstanden werden. Gegen den Machtanspruch
kirchlicher Dogmatik setzt der Polytheismus eine Vielfalt existierender Göttern
voraus, während nur der Monotheismus die Lücke als solche, die Lücke im
Absoluten selbst thematisiert, die nicht nur den einen Gott von sich selbst
trennt, sondern die Lücke, die der Gott ist. Unter dieser Perspektive wird der Monotheismus
zu einer konsequente Theologie der Zwei – die Gesetzmäßigkeiten jener Einheit
des Paars folgen aus einer radikalen Differenz des Einen im Hinblick auf sich
selbst. Als Lehre aus der Dreieinigkeit ist also für Žižek
zu folgern, dass Gott völlig mit der Lücke zwischen Gott und Mensch
koinzidiert, weil er diese Lücke ist. Wenn wir einer Feuerbachschen Schematik
folgen, beruht diese Gottesvorstellung auf der Projektion jener
Gesetzmäßigkeiten der Beziehungsarbeit, für die man/frau sich selbst zu klein
und nicht verantwortlich fühlt. Dann bietet sich sogar die Folgerung an, dass
das, was das Leben lebenswert macht, ob wir nach seinem Bilde geschaffen sein
sollten oder nicht, ein Gottesbild jene energetischen Besetzungen vertritt, die
für uns den Exzess des Lebens bedeuten. Das Bewusstsein, dass es etwas gibt,
für das man bereit wäre, sein Leben zu lassen, dieser Exzess kann Freiheit,
Ehre, Würde, Autonomie heißen, doch nur wenn wir bereit sind, dieses Risiko auf
uns zu nehmen, sind wir wirklich lebendig.
In
der von Benjamin angeregten Interpretation Agambens der paulinischen Liebe
zählt nicht die Tilgung oder destruktive Negation des Gesetzes, sondern seine
Vollendung im Sinne von ‚Aufhebung‘, bei der das Gesetz gerade durch seine
Suspendierung als untergeordneter (potentieller) Moment einer höheren
tatsächlichen Einheit bewahrt wird. Der Bezug auf Carl Schmitts Begriff des
Ausnahmezustands ist offensichtlich, denn die Liebe besitzt die Struktur eines
Ausnahmezustands oder Notzustandes, welcher die normale Funktionsweise des
Gefühlslebens außer Kraft setzt. Aus der Sicht von stillgestellten
Ordnungsfanatikern gerät das psychische Gleichgewicht wie im Krieg durcheinander;
das normale Leben wird aus der Bahn geworfen, Logos verwandelt sich in
Pathologie, das neutrale Reflexions- und Urteilsvermögen geht verloren. Alle
der Autonomie gehorchenden Fähigkeiten werden unter der Wirkung eines
hormonellen Cocktails suspendiert; der Erwartungshorizont des eigenen Lebens
wird von einer/m Anderen überformt, die/der als singuläre Allgemeinheit jede
Alternative ausschließt und dem Ziel seiner/ihrer Eroberung unterordnet.
Wenigstens macht sich dies in Weltzuständen des Mangels an Erfahrung mit dem
anderen Geschlecht oder der sexuellen Ausgehungertheit so bemerkbar. Doch entgegen
der totalitären Rechtssetzung Schmitts gibt es gerade in der Entfesselung biomagnetischer
Kräfte eine anarchistische Variante des Ausnahmezustands. Sie widerspricht dem
Recht nicht nur, um eine stabilere Renovierung des Rechtssystems in Gang zu setzen,
sondern setzt die Kräfte des Subjektiven frei, um jenseits von
Indoktrinierungen und Verboten anzukommen, die tatsächlich jene Besessenheiten
über uns verfügen, mit denen wir im falschen Bewusstsein einer freien Wahl in
die Unfreiheit einwilligen. Im Gegenzug zum vorhistorischen Schuldzusammenhang
des gesellschaftlichen Fundaments der konfliktuellen Mimetik braucht es ein
lustvolles Geschehen, das die Liebe wach und aufmerksam erhält, weil sie das
Kraftwerk des Selbst befeuert, das Bewusstsein erweitert, die Aufmerksamkeit
füreinander freisetzt und damit die energetische Kapazität ankurbelt. Die
Metapher der Seele steht für nichts anderes als für ein Medium des
unzerstückelten, des ganzen Körpers. Aus diesem Grund wächst sie mit den
positiv kodierten Erfahrungen, die sich der Routine eines umfassenden Ja
verdanken, einer Intensität der Selbstverschwendung, die sich aus der
Notwendigkeit ergibt, den Imperativen der Verführung oder der Zerstörung von
Bindungsenergien standzuhalten. Entscheidend ist eine Beziehung zwischen
Gleichen, die sich nicht gleichen, ein symbolischer Tausch, der
Reibungsenergien freisetzt und für ein energetisches Spektakel sorgt, demgegenüber
dem narzisstischen Selbstbezug die Luft ausgeht. Ab einer gewissen Spannung
springen die Funken über; mit der nötigen Übung wird eine Ranghöhe erreicht,
die Geistesblitze freisetzt. Im besten Fall sind wir zu selbsterfüllenden
Prophezeiungen in der Lage, mit deren Hilfe die biographischen Verwicklungen in
Aufgaben münden, die fast von allein zu einer Lösung finden. Es ist eben nicht
nur Bions Katastrophe, sei es Verzweiflung oder extreme Ausgeliefertheit, die
zum Wirkungsgeschehen Schneller Brüter führen: Ein die körpereigenen Drogen
befördernde Spiel mit den Partialobjekten kommt zu ähnlichen Ergebnissen. Die
Wirkungsweisen eines schnellen Brüters setzen Energie frei, die bis dahin von
den Bindungskräften der Konvention absorbiert wurde. Wenn diese fluktuiert,
wird die Welt für Augenblicke leicht und hell; wir beginnen zu lachen, wenn auf
einmal die lächerlichen Wahrheiten zu durchschauen sind, um die bisher ein Mordszinnober
gemacht wurde. Von einem Bezug zwischen Witz und Geschlecht geht bereits Durrell
aus. In der Regel bezieht sich die Trennung
zwischen sinnlicher und kognitiver Wahrnehmung auf ein bestimmtes Objekt oder
Objektfeld und dessen kognitive Kodierung. Wenn die Besetzung abgezogen wird,
gibt es nicht unbedingt eine Kettenreaktion, denn wir neigen dazu, den
verlorenen Halt zu kompensieren und uns sofort an neuen Objekten festzukrallen.
Damit sich die Gesetzmäßigkeiten eines Schnellen Brüters verselbständigen, also
immer mehr Besetzungen abgezogen werden und eine immer größere energetische
Masse zur Verfügung steht, sind noch andere Voraussetzungen einzuhalten, die
Durrell spielerisch auf einen Nenner gebracht hat: „Der Akt der
sexuellen Zusammenkunft als Geist-Entfalter, als Ideen-Ausbrüter ist die Quelle
aller Wissenschaft, aller Kunst, aller Informationen, deren der Geist als
Nahrung bedarf. Das seelische Wachstum wird durch ihn gefördert. Er reinigt den
Geist, schärft die Intuition, führt die Zukunft herbei. Doch um sich selbst und
seine Aufgaben zu erfüllen, muss er Teil eines doppelten Akts sein, eines
harmonischen Akts. Am stärksten ist seine Wirkung, wenn er von dem Tier mit den
zwei Rücken praktiziert wird.“
Wenn ich Baudrillard weiterdenke, machen
wir mit dem Vertrauen auf die bewusste Realisierung des hormonellen Geschehens
das Göttliche zu einem Spieleinsatz, mit dem wir nur gewinnen können. Mit dieser
Ergänzung unseres Aufenthalts in der Sprache durch Wahrheiten des Körpers wird mehr
als die Äquivalenz von Wertsystemen angestrebt, also ein Prozess, der den
ökonomischen Tausch überschreitet und in den Bereich der Magie und Bezauberung
reicht. Pfallers ‚Interpassivität‘ mag für manchen Geschmack zu viele von der
französischen Psychoanalyse unterfütterten Umwege und zeilenschindenden Wiederholungen
bemühen, um die schlichte Tatsache auf den Nenner zu bringen, dass für
Arschkriecher der Satz Was-sollen-denn-die-Leute-denken ein ganzes Lebenssystem
des Verpassens beschreibt. Doch die Mechanismen einer gesellschaftlich geforderten
Sozialisation zur Stillstellung, dank denen Desensibilisierung und Antriebsstörung
als Normalität propagiert werden, hat er in „Die Illusionen der anderen‘ pointiert
auf den Nenner gebracht. In diesen Zusammenhängen findet sich sogar die
bestätigende Anregung: „Den sogenannten ‚Wilden‘ scheint es klar zu sein, was
sie tun, wenn sie zaubern. Die sogenannten ‚Zivilisierten‘ zaubern, ohne es zu
bemerken.“ Schon an jeder Verliebtheit ist zu sehen, warum die symbolische
Wirksamkeit die Existenz eines anderen Zirkulationsmodus der Zeichen und
Zuwendungen voraussetzt. Wenn der Funke überspringt, magnetisiert die
Verführung die psychische Ökonomie. Die Macht und Wirksamkeit des
Äquivalenzgesetzes ist zu diesem Zeitpunkt längst überformt, wird in den besten
Fällen zugunsten eines anderen Spielfelds zurückgelassen. Sammler und Spieler,
Huren und Stars repräsentieren eine Faszination, die eine Ahnung davon
vermittelt, wie abgeleitet und sekundär der ökonomische Tausch tatsächlich ist,
wie parasitär und destruktiv Geld als bare Münze des Apriori die symbolischen Kreisläufe pervertiert. Das
generalisierte Tauschmedium funktioniert nach wie vor aufgrund der
ursprünglichen Gesetzmäßigkeiten des symbolischen Tausches: Achtung und
Vertrauen. Die Stabilität des Werts, die Reziprozität der Bezüge und der Bezug
auf das rechte Maß entsprechen der Bedeutsamkeit des verhandelnden Gegenübers,
der Aufmerksamkeit, die wir füreinander reservieren. Sie können vergessen,
übersehen oder mit Füßen getreten werden, wenn Abstraktion, Generalisierung und
Spekulation die Ablösung von den realen Vollzügen durchgesetzt haben, aber sie
verschwinden nicht aus der Welt. Der symbolische Tausch – Gabe gegen Gabe und
damit der Bezug auf Reziprozität, volles Sprechen und einlösbare Gebrauchswerte
– ist mit Sicherheit in der Erfahrung des erotischen Paar fundiert, wobei das
Erfolgsrezept von Psychotikern und Simulanten der Selbstheit darauf beruht,
blind und taub für diese Gesetzmäßigkeiten zu sein. Hin und wieder bringen
Paare eben doch jene Vereinigungsmenge zustande, in der Haben und Sein
zusammenfallen, also eine personale Identität jenseits der verabsolutierten
Rollendefinitionen befördert wird. Die Masken fallen, die Rollen werden in
ihrer Funktion offensichtlich, die aus diesem Prozess resultierende psychische
und emotionale Nacktheit mündet in einer Bindungsintensität, die auf den
konventionellen Halt verzichtet und nichts Äußerliches mehr hat.
Ein
symbolischer Tausch der Worte, Versprechen und Eide funktioniert nur dann
wirklich ohne Rest und Stolperstein, wenn auf der sexuellen Ebene die Gesetzmäßigkeit
des vollendeten Austauschs gefunden worden ist. Im besten Fall der jauchzenden Selbstverschwendung wird der
symbolische Tausch wieder in sein ursprüngliches Recht versetzt. Wenn Bolz die
lacansche Resignationsformel für das Fehlen eines Verhältnisses der Geschlechter
mit der Behauptung unterschreibt: „Es kann einfach nicht gehen“, beruht diese akademische
Einwilligung auf der vorausgesetzten Subjekt-Objekt-Dichotomie und der
nachträglichen Einwilligung in die Kompensation des Verzichts durch Kinder.
Wenn das Begehren immer das Begehren des anderen ist, soll das Scheitern schon
darin begründet liegen, eine Anerkennung unseres Begehrens zu erwarten. Ein vom
Bild der bürgerlichen Persönlichkeit geprägtes Modell, dessen Suche nach einer
Ganzheit tatsächlich von narzisstischen Projektionen unmöglich gemacht wird.
Wenn allerdings davon auszugehen ist, dass Partialobjekte miteinander spielen
und im wechselseitigen Konsum einen gemeinsamen Wahrheitsgehalt freisetzen, der
jenseits des eingemauerten Subjekts in den interobjektiven Wirkungsweisen eines
evolutionären Geschehens verankert ist, ist es nicht zwingend, sich auf die
Folgen des Spiegelstadiums, auf Bilder und Projektionen zur Selbstvergewisserung
zurückziehen. Sex ist vorpersonell und wird während einer Erfahrung der
Reziprozität zur Teilhabe an der Erfahrung des Göttlichen, das uns in der Welt
und nicht in ihrem Jenseits begegnet. Wenn diese Erfahrung sich im Feld des
symbolischen Tauschs entfaltet, ergeben sich unmittelbare Zugänge zu den
Lebendigkeiten; es werden jene Intensitäten freigesetzt, die den Spiegel blank
putzen, uns von der Verstrickung in imaginäre Leidenschaften erlösen. Erst die
Bildwelten und Projektionen, die sich dem Verzicht und dem Tabu verdanken,
haben jene Charakterstruktur der Persönlichkeitsdarsteller geprägt, der es auf
Besitz und Verfügungsgewalt ankommt.
Die Negativität, die uns angetan worden ist und die wir blind
übernommen haben, um uns gegenseitig zu behindern, gilt es dahin
zurückzuschicken, wo sie hergekommen ist. Nicht als Kritik, nicht als
Auseinandersetzung mit Funktionsträgern, die allein aufgrund ihres Amtes in der
Lage sind, uns zu Kompromissen zu nötigen, obwohl sie im Unrecht sind. Wenn sie
im Nachhinein, wenn es zu spät ist, mit brechender Stimme sagen, man hätte doch
über alles reden können, plaudern sie nur aus, wie sie sich bisher an der Macht
halten konnten. Reden heißt in ihrem Sinne Zerreden; mögen sie Schuld auf sich
geladen, anderen einen irreparablen Schaden zugefügt haben, war das vielleicht
bedauerlich, im Regelfall aber nicht zu ändern und solange sie über die Schwere
des angerichteten Schadens verhandeln durften, blieb an ihnen nichts hängen.
Wenn dem Prinzip Delegation eine Technik des blankpolierten Spiegels antwortet,
werden die Mandatsträger der großen Institutionen mit genau jener produktiven
Imagination entmachtet, die diese einmal hervorgebracht haben. Natürlich wird
eine Souveränität dokumentiert, die nicht von dieser Welt ist, wenn ein
Religionsgründer zum Start den Satz: „Vergib ihnen, denn sie wissen nicht was
sie tun!“ in die Welt wirft. Doch das ist noch immer leicht gesagt, wenn man
danach stirbt. Aber wenn man in dem Bewusstsein weiter leben soll, dass niemand
für die Schmerzen und Demütigungen zahlen wird, die einer/m angetan wurden,
bietet sich vielleicht auch der Modus einer überzeugenden Ignoranz an. Warum
überhaupt mit diesem ganzen Schwachsinn, diesen Zeugnissen der Minderwertigkeit
beschäftigen. Das biblisch-theologische Menschenbild war derart pessimistisch,
dass sich schon wieder alles rechtfertigen ließ – wozu hatte man den Teufel.
Die durch die Hochreligion vorgenommene Delegierung ist das schönste Modell
späterer Systemtheorien, sie können gar nicht zynisch genug sein. Je armseliger
das Menschenbild war, je besser taugte es zur Legitimierung der Hierarchien, je
nützlicher sorgte es für die gewissenhafte Verinnerlichung der Ordnungsmächte:
Was den Menschen auszeichnet (als Aufgabe, nicht als Ruhepolster der Einzigartigkeit),
sein Orientierungsbedürfnis und Lernvermögen, musste in einer typisch
psychotischen Verkehrung als Mangel ausgegeben werden. Also braucht es immer wieder
neue Varianten, mit denen die verschiedensten Institutionen den Leuten
vorbeten, was sie zu wissen und was sie zu empfinden haben, wenn sie das tun,
was mehr oder weniger alle tun (sollen). Dieser Zugriff auf fundamentale Bedürfnisse
der Selbstvergewisserung lässt sich beliebig totalisieren. So groß die Chance
ist, die hier verborgen liegt, so wenig scheint sie in Zeiten zu nutzen, die
nicht die ganze Energie ins Überlebensnotwendige investieren müssen.
Der Anspruch, die
eigene Existenz durch Andere zu bestätigen, beruht auf dem Konformismus eines
auf Sprache angewiesenen Wesens. Sprache dient nicht nur zur Weltorientierung
und Selbstdefinition; über die Grammatik und das transportierte System von
Werten und Moralvorstellungen bewohnt sie uns, sorgt für eine mehr oder weniger
unterschwellige Entfremdung von den Intensitäten aller Echtheit, die der Körper
transportiert. Dieser Mangel an Abgrenzung untersteht einer eigentümlichen
Drohung. Weil unsere soziale Existenz mit der Namensgebung bestätigt wurde,
sorgt die damit gegebenen Widerrufbarkeit für Ausgeliefertheit und Willfährigkeit.
Eine latente Angst imprägniert den Bezug auf Andere, weil Sprache die eigene
Existenz nicht nur als aufhebbar erweist, sondern uns in permanente Konflikte
verstrickt. Die Wirkung archaischer Ausschlussverfahren, der durch einen
Voodoozauber bewirkte Vagustod, zeigen im Extrem, warum das Leben ab einem
gewissen Grad der Unsichtbarkeit schwindet. Diese Anfechtbarkeit muss nicht
bewusst werden, aber sie wirkt und macht sich in einer ständigen Bereitschaft
bemerkbar, irgendwelche Zugeständnisse zu machen oder Liebgewonnenes zu opfern.
Die Verwobenheit unserer Selbstdefinition mit der Anerkennung durch andere ist
für eine konfliktuelle Mimetik verantwortlich, die in persönlichen Belangen für
böse Verwundungen sorgt und in manchen sozialen Zusammenhängen erst hinter der
Vernichtung haltmacht. Also sollten wir früh genug lernen, in verschiedenen
sozialen Kontexten, also in mehreren Welten, zugange zu sein.
In Sloterdijks 'Der Denker auf der Bühne' kann das Risiko des
sozialen Todes in einem ersten Schritt noch relativ harmlos in „Exzesse der
Ernüchterung“ münden. Die Welt ist voller Inkompetenz, Simulanten der Selbstheit
führen ständig vor, was jenseits des Schauspiels nur unerreichbar und in vielen
Fällen zu schmerzhaft wäre. Damit diese Show des Als-Ob glaubhaft rüberkommt,
haben sich Lügner mit Lügnern auf die Wahrheit geeinigt, Lügner Lügner zu
nennen, um sich von diesem Urteil aufgrund ihres so treffenden Urteils
ausnehmen zu dürfen. Dagegen setzt eine
existentielle und philosophische Infragestellung die notwendige Trennungsarbeit
und Distanzleistung frei, die in ein dauerndes Einsamkeitstraining mündet.
Währenddessen erfahren wir, warum das Bedürfnis, alles gefühlt Lebenswichtige
erst einmal selbst zu entwickeln, in den institutionalisierten Bildungs- und
Behinderungssystemen unerwünscht ist, weil unter solchen Einflüssen kein
Zusammenspiel zwischen kollektiven und persönlichen Lebenslügen mehr rund oder
sogar Gefahr läuft, ins Stocken zu geraten. Doch gerade die Kennzeichnung
gemeinsamer Werte als Resultate von Unredlichkeit und Verlogenheit, auf deren
konformistische Einigung der soziale Frieden und ein geregeltes Zusammensein
von Schopenhauers Stachelschweinen erzwungen wird, offenbart gewisse Tricks,
mit denen dem Selbstschutz gehorchende Ventile des Solipsismus zu schließen
sind: Der Wichtigste ist, sie wörtlich zu nehmen und damit den Konformismus auszuhebeln.
Eins allein ist eine Null – die Zahl, die alle anderen erst groß und mächtig
macht –, aber eine weitere Eins schließt bereits die Unendlichkeit auf. Aus diesem
Grund befähigt das eins & eins als Triade – die Kopulation sollte immer als
gleichberechtigtes Relat akzeptiert und nicht einfach ausgeblendet werden – bereits
die Lernvorgänge und Erfahrungen eines Paars. Nach und nach stellt sich eine
Ebene jenseits der Panzerungen des bürgerlichen Individuums ein, auf der beide
Beteiligte die Inkommensurabilität und Singularität akzeptieren und in
kreativen Prozessen der Beziehungsarbeit adäquat umzusetzen versuchen.
Im Gefolge solcher Lernprozesse sind biographische Stolpersteine
wegzuräumen und institutionelle Behinderungssysteme zu sprengen. Wer sich nach
Sloterdijk auf einen „psychonautischen Zirkel“ einlässt, um sich jenseits von
Lebenslüge und Verzicht zu finden, wird mit der Erfahrung des sozialen Todes
konfrontiert. Dann hilft
kein Festhalten an Benimmregeln oder Lebensweisheiten, kein
aufmunterndes Zureden
von Mitläufern, keine Flucht in die Abstraktionsleistungen des von allen
Lebensvorgängen abgehobenen Allgemeinen. Es helfen lediglich die Routinen des
bereits habitualisierten Einsamkeitstrainings, die eine/n eben nicht zur
Einsamkeit verurteilen, wenn die Erfahrung des Paars zu einem Neuanfang
jenseits des gesellschaftlichen Ausschlussverfahrens befähigt: Zwei, die sich
in ihrer Einsamkeit gegenseitig stützen und beschirmen. Die Singularität biographischer
Zusammenhänge resultiert eben nicht aus einer solipsistischen Abkapselung,
sondern aus einer intensiv durchdrungenen Vernetzung aller entscheidenden
Einflusssphären der Biographie. Wir eroberten eine Offenheit für die
Inkommensurabilität der eigenen Lebendigkeit zurück, indem die Organisation
unserer Erinnerungen auf Sinn einzustellen und über Speichermedien an diesem
Sinn zu arbeiten zu arbeiten begannen. Gerade weil sich die Befriedigung
ursprünglicher körperlicher Bedürfnisse für Augenblicke zwischenmenschlicher
Erfüllung dem Geldnexus zu entziehen vermag, erhalten sie eine Bedeutung, die
sie außerhalb aller Vergleichbarkeit situiert. Noch dazu bestätigten verschiedene Beobachtungen, wie
die Abstände zu den Leuten, die uns abpassten oder in ihren Abhängigkeiten verwickeln
wollten, größer und größer wurden, je weniger diese von einem impotenten Begehren
angetriebenen Begegnungen ein reziprokes Begehren freisetzten. Während in Not
und Ausgeliefertheit das Gewahrwerden des Außergewöhnlichen und Inkommensurablen
durch die Wahrnehmung eines Bebens im Körper, eines staunenden Schauders,
Einlass fand, wurde die Welt auf einmal leicht, die Farben bunter,
kontrastreicher und heller. Dank einem freudigen Gefühl, an der Erfahrung von
Einzigartigkeiten teilzuhaben, begannen uns Inkommensurabilitäten zu schulen,
wir spezialisierten uns auf maximale Unwahrscheinlichkeiten. Mit jeder
bestandenen intriganten Prüfung, jedem abperlenden Verführungsversuch, näherten
wir uns für Augenblicke einem optimalen Status menschlicher Unwägbarkeiten. Die
Feststellung, wirklich zu denken heiße, keiner Tradition mehr verhaftet zu sein,
mag stimmen. Doch das bedeutet noch lange nicht, selbst zu denken, sondern
vielmehr, sich in den verschiedensten Konstellationen und Verwandtschaften
wiederzufinden. Die Erfahrung des sozialen Todes bringt den Vorteil mit sich,
den solipsistische Status des Denkens verlassen zu müssen. Mit Bateson ist
daran zu erinnern, dass ein Großteil des Denkens außerhalb der Singularität des
Kopfes in kulturellen Archiven und institutionalisierten Techniken zu Hause ist
– ein weit lebendigeres und beweglicheres Denken, als es die Konzeption eines
objektiven Geistes bei Hegel zuließ. Das erfahrbare Selbst ist erst einmal
Konverter der energetischen Besetzungen von Memen und Bedeutsamkeiten, die jene
Blase ausmachen in der jemand aufgewachsen und gewohnt ist, sich zu bewegen. Subliminal ist die früher als
Seele bezeichnete Instanz ein Fließgleichgewicht jener körpereigenen Drogen,
das im besten Fall wie eine gelungene musikalische Improvisation auf die
Grundlage der im Laufe eines Lebens dichter und tönender werdenden Harmonie
antwortet, im schlechtesten Fall aber eine Homöostase des Elends als Kakophonie
dröhnen lässt. So, wie sich die Vernetzungen stabilisieren
und Bahnungen einbrennen, mag die erfahrene Welt sicherer wirken, aber der
Preis dieser scheinbaren Geborgenheit ist, dass sie immer enger und kleiner
wird. Authentizität gehorcht selten den tradierten Bedeutungen, aber Neubeginn
und Selberfühlen entspringen den Bedeutsamkeiten, die an Partialobjekten
ansetzen. In diesen Konstellationen und putativen Bündnissen gelingt es hin und
wieder, hinter dem Wahn der Selbstheit aufzutauchen: In der Synthese von
Kreativität und Beziehungsarbeit – der Rest werden dann neu erworbene
Gewohnheitsmuster sein. Nach der Verabschiedung eines Substanzdenkens wird die
sprachliche Orientierung weit mehr vom Ausdruck, von Gebärden und Bewegungen,
von unwillkürliche Assoziationen ausgelöst oder von körperlichen Erregungen
bestimmt werden, also von impulsiven Kräften in den Echokammern des Selbst.
Einer/m Einzelnen erschließen Herzklopfen, Hitzewellen, Atemrhythmen oder Kälteschauer
nur in seltenen Augenblicken ihre Bedeutsamkeit, doch in den Erfahrungen des
Paars ist diese immer wieder als Heiligkeit des Augenblicks gegenwärtig. Die in
den Hochreligionen verdinglichten Theologismen, die einmal den Schauder und das
Beben auf den Nenner der Substantialisierung zu bringen hatten, können mit dem
hormonellen Register für ganz andere Trainingsläufe umgesetzt werden.
Für Bohrer enthält
Nietzsches Definition des Dionysischen die entscheidenden Merkmale der
plötzlichen Zeitlichkeit des Kunstwerks: Schrecken und Auflösung des
Individuationsprinzips. Lyotard erklärte das Erhabene des modernen Kunstwerks
nicht mit der Plötzlichkeit, sondern ging vom Jetzt eines Ereignisses aus.
Kennzeichnend für beide wird die Erfahrungen einer von allem Inhalt entleerten
Entität, während die von keiner Reflexion getrübte Wahrnehmung zählt, dass es
sich ereignet, die existenzielle Notwendigkeit des reinen Jetzt. Für Bohrer
geht es eben nicht um die Erfahrung einer stabilen Ich-Identität, sondern um
ein spezifisches Verschwinden der Ich-Gewissheit hinter Empfindungen eines
gesteigerten Daseins, die eine/n erfassen und überwältigen, deren Evidenz einer
Erfahrung eine komplexe Wollust ohne das Dazwischentreten einer moralischen
Zensur freisetzt. Eine Chemie des plötzlichen Ereignisses befördert jenes Glück
des Unvorhergesehenen und das hat viel mit den Gesetzmäßigkeiten der Sprache zu
tun, die wesentlich mehr weiß, als wir mit ihr verbinden, weil gerade das
Eigentümliche der Sprache ist, dass sie sich wesentlich um sich selbst kümmert
und ihre Verweisungszusammenhänge die kodifizierten Bedeutungen weit hinter
sich zurücklassen. Was das Eintreten des Unvorhergesehenen in den Texten
Schlegels und Kleists in Bewegung setzt, vollzieht sich bei Hölderlin als
erhabenes Sprechen. Der Gedanke eines überraschenden Ereignisses gewinnt für das
Verständnis des richtigen Lebens immer mehr die Oberhand. Diese Konzeption trifft
sich mit unserem Glück des Unvorhergesehenen – zu Zeiten der Arbeit am
Altpapier, während denen sich das Unvorhergesehene als wesentlicher Antrieb
unserer gemeinsamen Geschichte erwies, haben wir Bohrer vielleicht im
konservativen Kontext von Poetik und Hermeneutik zur Kenntnis genommen, aber
längst nicht daran gedacht, mit seinen Texten zu arbeiten. Für Bohrer war es
erst einmal eine an Heine und Baudelaire gewonnene nostalgische Idee, die
Langeweile des bürgerlichen Lebensalltags, die Inhaltsleere der Normalität
durch Fantasien von anarchistischen Erscheinungen zu unterlaufen. Es ging
letztlich nicht um kulturelle Urteilskriterien, sondern um das Selbst in einer
unerträglich gewordenen Übermacht der Alltäglichkeit, gegen die es Gefühle
einer maximal gesteigerten Lebendigkeit des Lebens beschwor oder freisetzte.
Das obsessive Interesse an der Fantasie machte eine ganz andere Begierde
deutlich, nämlich nach dem, was man das ‚höherer Leben‘ nannte. Die Gegenwart
müsse um ihrer selbst willen erlebt werden, sie dürfe keinem Zweck, also auch
nicht der Zukunft unterworfen werden.
Es sind die Abstände zu dem, was als konventionalisierte Welt der
Fall sein soll und sich in vielen Fällen als Resultat eines Sammelsuriums
sinnentleerter Phrasen erweist; es ist das von all dem warmen Wind ausgelöste Befremden,
das uns mit der Materialität der Erfahrbarkeit in Verbindung bringt. Distanz heißt das Zauberwort;
paradoxerweise ermöglicht erst der richtige Abstand, an Intensitäten eines
Augenblicks teilzuhaben, sich der
unvermittelten Nähe einer/s Anderen auszusetzen. Ab diesem Repertoire von
Erfahrbarkeiten beginnen Eigenzeit und Eigenarbeit wertvoll zu werden. Wer
völlig in einer Tätigkeit aufgeht, selbstvergessen mit den Routinen
verschmilzt, die der Materialität eines Gegenstands oder den Gesetzmäßigkeiten
einer Situation entsprechen, überlässt sich vorindividuellen, mimetischen
Impulsen. Schon diese Routinen taugen zur infinitesimalen Annäherung an die
Unmittelbarkeit der Präsenz, während die geduldige Übung am Sex pur näher an
die Punktualität des Jetzt herankommt. Ein emphatisches Tun und Erleben
überformt den Verweisungszusammenhang zwischen gleich und geradeeben, bis das
Subjekt in einer Woge des Mitgerissenwerdens verschwindet. Was einmal als Seele
bezeichnet wurde, ist als Fließgleichgewicht jener körpereigenen Drogen zu verstehen,
das im besten Fall wie eine gelungene musikalische Improvisation auf die im
Laufe eines Lebens dichter und tönender werdenden Harmonien antwortet. Im
schlechten Fall reproduzieren wir als Kakophonie eine dröhnende Homöostase des
Elends. Eine katastrophale Erfahrung der Nichtung des Ichs bewirkt dagegen den
Absturz in eine unendliche Stille, die immerhin gelegentlich die Chance einer
Erleuchtung transportiert.
Der konstatierte Riss zwischen der
Aktualität der Präsenz und ihrer Repräsentation in Wahrnehmung und Bewusstsein
muss kein hoffnungsvolles Verpassen, kein wahnhaftes Hinterherrennen prägen,
wenn traditionelle Besessenheiten dank medialer Spielräume jenseits der
Gutenberggalaxis zu verabschieden sind. Die ursprüngliche Abwesenheitsdressur
der Schrift erfüllte sich an den ins Imaginäre abfließenden Bindungsenergien, wobei
die von ihr beschworenen Vorstellungen für die Angst sorgten, vom leiblichen
Gegenüber enttäuscht zu werden oder gar auf eine Reaktion der Enttäuschung zu
stoßen. Die von der Literatur gespeisten großen Erwartungen sorgten häufig
genug für Ausweichmanöver, für eine Vergrößerung der Abstände und eine Liebe
aus der Ferne. Mittlerweile haben soziale Medien diese Formen der
Abwesenheitsdressur in einem Maße potenziert, mit dem deren Glaubwürdigkeit nur
aufgrund der naiven Bedürfnisstruktur eines pubertären Überdrucks und dem
Mangel an echter Erfahrung aufrechterhalten werden kann. Im Gegenzug sind
allerdings aufgrund der technischen Entwicklungen digitale Systeme entstanden,
mit denen die Inkommensurabilität des Individuellen zu speichern ist. Ein
Antidot gegen imaginäre Ausweichmanöver und die Flucht ins Ungefähre der
Vorstellungen; Aufzeichnungen beugen auf einer fundamentalen Ebene dem
Vergessen vor. Wir müssen nicht mehr ständig Jetztzeit gegen die Arbeit an
Erinnerungsmalen tauschen; außerdem hat die durch das Internet ermöglichte,
jederzeit abrufbare Gegenwart pornographischer Bildwelten den Stecker aus den
schriftlich induzierten Vorstellungswelten gezogen. Libidinöse Energien bringen
ohne den Knebel der Ehe oder den moralischen Bann der Kirche in den wenigsten
Fällen eine ernstzunehmende Bindung zustande; schließlich offenbaren die
Möglichkeiten der Wahl, an wie vielen Schauplätzen der Besessenheit man/frau
sich zu Beginn austoben kann. In einigen Fällen wird sich, obwohl das
traditionelle Erpressungssystem Schwangerschaft an Zugkraft verloren hat, doch
das Bedürfnis nach einer/m exklusiven Partner/in einstellen. Vor allem werden
die Protagonisten nicht zwanghaft durch eine mögliche Entscheidung blockiert oder
unversehens mit der Angst vor dem Zusammenstoß mit der Wirklichkeit
konfrontiert. Haptische und rhythmische Erfahrungsmuster führen in Routinen der
Präsenz zurück; unterschwellige Wahrnehmungen, freie Assoziationen,
unwillkürliche Erinnerungen befördern Fähigkeiten wie Achtsamkeit,
Körperbewusstsein, Geistesgegenwart, die die Abstraktionsleistungen der Schrift
und die Generalisierungen der Wissenschaften ausgedünnt haben. Der Arbeit mit
digitalen Speichersystemen verdanken
wir die Einsicht in Gesetzmäßigkeiten der bisherigen Lebensgestaltung. Die
offensichtliche Hohlheit und Verbogenheit eines Zwangssystems aus Verboten und
Geilheitsdressuren stellt ex negativo Regeln zur Verfügung, mit denen eine
Neuformatierung biographischer Wiederholungszwänge möglich wird. In Zusammenhängen der geduldigen Wiederholung und des
Durcharbeitens, nach
der dem Durchlaufen unzähliger Ergänzungen und Überarbeitungen des
gespeicherten Materials verdankten Distanz, wird ein Kontext des biographischen
Kontextes greifbar, es entsteht ein aktueller Rahmen für eine nonkonfliktuelle
Ausrichtung von Gesten und Sprachformen. Noch dazu werden
multimediale Intensitäten des Jetzt zugunsten der Arbeit an den eigenen
Geschichten ausgehebelt; Der
Stellenwert kreativer Eigenarbeit bekommt ein ganz anderes Gewicht, wenn wir
regelmäßig für kleine Ewigkeiten die andere Seite des kulturellen Lattenzauns
aufsuchen. Die erfahrenen Intensitäten bewirken eine Umkehrung des verdrängten
aber unterschwellig wirksamen Opferkults. Die damit verbundene Grenze der
Trauerarbeit verläuft mitten durch alltägliche Belange; ästhetische Erfahrung
gestaltet die Grenze in Metaphern der Überschreitung, doch dank der erotischen
Praxis eines Paars wird die gemeinsame Gestaltung des Hier und Jetzt als
Resultat von Passagen und Wiedergeburten möglich.
Rougemonts antiquierte Gegenüberstellung von Agape und Eros lieferte
zu Beginn unserer gemeinsamen Produktion mit einer seltsamen Formulierung den
Hinweis auf eine der Beziehungsarbeit verdankte Form von Souveränität. In ‚die
Liebe und das Abendland‘ hieß es, Agape räche sich an Eros, indem sie ihn erlöse,
weil sie nicht zerstören könne, selbst das nicht, was zerstört. Sie stehe für
ein Wissen, demzufolge das irdische und zeitliche Leben weder angebetet noch
getötet, sondern angenommen zu werden verdiene. Was ist das für eine Rache, die
erlöst, statt zu rächen? Erinnert dieses Schema nicht an eine Überlegenheit,
die wir im Laufe der Zeit immer häufiger der Erotik verdankten? Keinem Eros,
der sich in einer begehrenden Dürftigkeit verzehrte, manische Vorstellungen und
die Besessenheit antreibende Sprachfiguren produzierte. Sondern dank Sex pur aus
der eingegrabenen Spur einer mimetischen Rivalitätsstruktur zu springen, also
keinen Delegationen mehr zu gehorchen, sondern ihren Antrieb zu durchschauen.
Dank einer erfüllten Körpererfahrung frei von Negationen zu sein, den rechten
Augenblick zu nutzen, um im Hier und Jetzt Fuß zu fassen, die Fähigkeiten Vertrauen
und Gelassenheit weiter zu kultivieren. Zum Paradox Bergpredigt wäre der
Verdacht anzumelden, dass die Forderung nach Gewaltlosigkeit unter den Vorgaben
der Institution Kirche zur Verkennungsanweisung für Subalterne und Dumme
geworden ist. Erst einmal muss durch die nötigen Institutionen jenseits von
Waffengewalt und Krieg gewährleistet sein, dass die Gewaltlosigkeit als
Entscheidung überhaupt akzeptiert wird. Wenn eine/r dann wirklich die andere
Wange hinhält, ist von einer wirklichen Überlegenheit auszugehen, Beleidigungen
als Witze behandelt und über Einschüchterungsversuche lacht, wer schlicht keine
Resonanz auf Kränkungen oder Demütigungsversuche zeigt, wird sich auf der Ebene
der Mimesis in ein ungreifbare Bedrohung erweisen. Was macht ein Aggressor, der sich unterlegen
und ausgeliefert vorkommt anderes, als in Formen der Selbstbestrafung auszuweichen.
Wenn also von einer/m keine Negation ausgeht, wenn das Richtige zu tun und
abzuwarten ist, bringen sich mit der nötigen Geduld die Leute mit den bösen
Wünschen selbst zur Strecke. Das ist ein Mittel, mit dem souveräne
Machttechniken der Kontextebene wirken, die der Volksmund zwar zur Sprache
bringen kann, aber unter den schlechten Einflüssen autoritärer Institutionen
nicht beherzigen darf: Wer anderen eine Grube gräbt, fällt selbst hinein! Auch
jene Definition des Eros als Leidenschaft, als Verlangen nach dem, was uns
verletzt und vernichtet – eine Beziehung, die uns nicht das Leben kosten kann, sei
nicht viel wert –, streift wieder ein Geheimrezept uralter Kontextwahrheiten im
Modus des Verpassens! Noch die Formel: Liebe deine Feinde, verweist eher auf
die Neutralisierung der negativen Kräfte, als auf eine libidinöse Besetzung
bösartiger Invektiven. Wer eine/n Betreffenden hasst, wer einen Todeswunsch auslebt,
identifiziert sich schon deshalb, weil man/frau sich im Focus von deren Aufmerksamkeit
wähnt, damit aber der Wirksamkeit des symbolischen Tauschs untersteht. Der
narzisstische Bezug erklärt, weshalb ein Teil der Negation überspringt; Hass
und Rachegelüste sind mimetische Standleitungen; man/frau muss sie Gott oder
dem Signifikantennetz überlassen, sonst nehmen sie einer/m auf Dauer die Luft zum
Atmen. Wer nicht reagiert, wer keine negative Reaktion zeigt, setzt eine
positive Resonanz voraus, wer verzeiht oder eine Erklärung findet, warum die
Negation auf einem Irrtum beruht, gibt die Möglichkeit vor, sich einigen zu können
– doch wenn weiterhin Negationen produziert werden, wird der Sender mangels
Resonanz von ihnen zerfressen. Für unsere Welt der informalisierten und
allgegenwärtigen Abhängigkeiten, hinter denen die alten Machttechniken verborgen
wirken, hat das Prinzip blankpolierter Spiegel ganz unerwartete Folgen. Er erweist
sich als mindestens so unsichtbar, wie die Zugriffsformen der Macht: Wer sich
mit den Möglichkeiten einer das Begehren stillenden Beziehungsarbeit für
entscheidende Augenblicke in einen blankpolierten Spiegel verwandelt, umgeht
die schuldhafte Verstrickung, schaltet die aus Abhängigkeitsbeziehungen
resultierende mimetische Rivalität aus, lässt die Kräfte der Aggressoren für
sich arbeiten. Die älteste Weisheit des Menschen resultierte bereits aus der Umsicht,
Feinden und Gefahren so gut es ging aus dem Weg zu gehen. Bewusst vorgenommene
Abstände gegenüber der Verstrickung in den Abhängigkeiten einer Bildungsbehörde
haben noch immer Teil an dieser Weisheit. Der blankpolierte Spiegel resultiert
aus einer Kunst der Distanz, die in der Fähigkeit fundiert ist, sich
befriedigenderen Tätigkeiten zu widmen. Erst wenn die psychischen Besetzungen
nicht mehr von der Frage warum-tun-die-das-überhaupt abhängen, wenn die nötige
Lustpolitik dafür sorgt, die von Neidern oder Intriganten ausgehenden
Negationen nicht zur Kenntnis zu nehmen, ergibt sich wie von allein die
Möglichkeit, ihnen zu präsentieren, wie schlecht sie in ihrer Bosheit aussehen.
Putative Bündnisse – vor allem zwischen den Geschlechtern, denn nichts hat den
genealogischen Ordnungshütern solche Angst gemacht, wie gerade diese
Möglichkeit, eine andere Ordnung zu setzen, indem zwei einander erkennen im
Sinne des Alten Testaments – stellen mit einer Formulierung aus Rilkes Briefen eine
Form der Wiedergeburt auf einem anderen Signifikantenniveau dar: Zwei
Einsamkeiten, die einander schützen, grenzen und grüßen. Den bisherigen Abhängigkeiten
werden die Zugriffsmöglichkeiten entzogen, der gemeinsame Bund genügsamer
Gelassenheiten erweist sie wie die Invektiven als nichtig.
Die Kunst, Gegner oder Behinderer ins
Leere laufen zu lassen, setzt eine rückhaltlose Beziehungsarbeit voraus, denn
solange wir unsere Träume, Sehnsüchte, Ängste und Vorbehalte noch schonen, sind
wir viel zu leicht zu verletzen. Erst wenn die imaginären Fühlfäden des
Begehrens geklärt sind, wenn keine offene Nabelschnur mehr nach der
idealisierten Steckdose sucht, damit also der notwendige Resonanzraum wegfällt,
bringen sich selbsternannte Gegner mit dem Schwung der ihnen eigenen, der
Rivalität gehorchenden Dummheit und Boshaftigkeit zu Fall. Entgegen einer von
der kulturschwulen Mimesis vorausgesetzten fehlerhaften Identifikation bejahen wir
die Unterschiede, benutzen die Reibungsenergien; eine Anerkennung des sexuellen
Dimorphismus wie die Anerkennung einer wechselseitigen Ergänzung sind immer
schon weiter, als der zwanghafte Versuch, durch Vereinheitlichung über tatsächliche
Vielheiten hinwegzutäuschen, durch Opfer zu identifizieren, das Außen zu
leugnen oder die/den Andere/n durch klebrige Familienabhängigkeiten zu
vereinnahmen. Wenn keine Negation, keine bösen Wünsche, keine zwanghafte
Anähnelung von den leiblichen Zentren der Beziehungsarbeit ausgehen, wenn zwei
sich in ihren Unterschieden zu genießen wissen, bleibt auch keine Negation
hängen, dann fallen die bösen Wünsche auf ihre Urheber zurück. Blankpolierter
Spiegel und Beziehungsarbeit bedingen sich gegenseitig: Die an den eigenen
Geschichten entzündete, gemeinsame Trauerarbeit stellt die innere Leere her,
jenseits von Bildwelt und Angstbewältigung. Auf diese Weise wird die von Girard
in ‚das Heilige und die Gewalt‘ herausgearbeitete dritte Instanz, aus der der
nachahmende Wunsch entspringt und die sich über den Umweg des Subjekts selbst begehrt, ausgeschaltet. Die mimetische Instanz des Prinzips Sippe,
Gemeinschaft oder verjüngt: Familie steht in Konkurrenz zum Dritten jener kommunikativen
Prozesse, dank denen ein Paar sich dank den Sprachen der Körper zusammenrauft, also
nach und nach eine Vielzahl von Ambivalenzen integriert. Aus der Beziehungsarbeit
entwickelt sich eine Form der klugen Selbstverteidigung, die zwar gewaltfrei
ist, aber gerade durch die Selbstgenügsamkeit der Beziehung, durch den vermittelten
Mangel an Resonanz, durch die Unerreichbarkeit und Ungerührtheit der
psychischen Ökonomie dafür sorgt, dass sich Aggressoren und Störenfriede aus
Gründen der Angstbewältigung selbst bestrafen, verstümmeln und zu Fall bringen.
Der Teufel einer konfliktuellen Nachahmung produziert reihum Delegierte. Er steckt
im Fundament aller Institutionen und expandierte laut Böhme seit dem 18.
Jahrhundert mit Hilfe der Einbildungskraft. Nach der Familiarisierung der Welt
durch die Massenmedien ist er allgegenwärtig, darf sich aber nicht mehr blicken
lassen – deshalb fürchtet er nichts so sehr, wie
die Nennung seines Namens, die Begegnung mit dem Ebenbild der bösen Wünsche im
Spiegel der Kommunikation.
Beziehungsarbeit wird zum Fundament einer kritischen
Aufmerksamkeit, die nicht mehr auf magische Konsensimperative hereinfällt. Die
Fähigkeit, nein zu sagen, kann einen funktionalen und relationalen
Identitätsbegriff begründen. Wir wissen oft nicht, was wir wollen, manchmal
können wir dies gar nicht wissen, weil es ein Wissen ist, das erst aus der
Zukunft auf uns zu kommt – bei Sartre heißt es, jede Gegenwart habe ihre
Zukunft, die sie erleuchtet, ihr utopisches Gestimmtsein, das wieder mit ihr
verschwindet. Aber wir können in der Regel sehr genau angeben, was wir nicht wollen.
Der empfundene Mangel hat an Antizipationen teil und liefert die Grundlage,
stellt die erste konkrete Negation dar, schon daraus resultiert das Wissen,
welchen überflüssigen Plunder wir nicht brauchen, auf welche Techniken der
Abwesenheitsdressur besser zu verzichten ist. Gegenüber Charakterlosen charakterlos
zu sein, ohne sich mit diesem Mangel zu identifizieren; Zyniker zynisch
abfahren zu lassen, ohne durch den Ähnlichkeitsbezug zu verhärten; Infantile
wie bockige Kinder zu behandeln, ohne sich von ihrer Verblödung durch den Ärger
über diese Zumutung anstecken zu lassen – zu diesem Repertoire gehört natürlich
die von Machiavelli empfohlene hohe Kunst, Betrüger mit ihren eigenen Mitteln
auszutricksen. Die bürgerlichen Charaktermasken beruhen nicht nur auf einer anmaßenden
Simulation von Wahrheit, die tatsächlich lebensfremd ist; sie schreiben zudem
einen Selbstbetrug immer weiter ein, der im Medium des schlechten Gewissens
willfährige Untertanen modelliert. Wir sind Spiegel, wir sind Masken, eines
nicht ohne das andere. Der Mensch ist ein Relationswesen, Schnittpunkt von Kräftefeldern,
dialektische Durchgangsstation von Informationsströmen. Aber er ist auch ein
unendlich fein vernetzter Wissens- und Erinnerungsakkumulator. Diese Funktionen
werden durch die Fähigkeit nein zu sagen, aufeinander abgestimmt. Eine der
ältesten Weisheiten der Menschheit könnte reformuliert heißen: Beuge dem
Vergessen vor, meide Abhängigkeiten – popularisiert: Fliehe die Dummheit, nichts
ist so ansteckend – postmodern: Lerne Machtspielen aus dem Weg
zu gehen. Wenn eine/n die Negativität der anderen nicht mehr trifft, wenn all
ihren Verwünschungen ruhiger Gleichmut antwortet, vielleicht sogar ein Lächeln
und unverrückbar gute Laune, dann fällt diese Negativität aufgrund des
blankpolierten Spiegels mit unverminderter Kraft auf sie zurück. Sie bestrafen
und behindern sich selbst; es dauert nicht lange, und sie erschrecken schon,
wenn sie eine/n nur sehen.
Vor allem die Bewährung in Alltagssituationen
wird bei diesen ständigen kleinen Bewährungsproben wichtig. Der Bezug auf lebensferne
Ideale, eine abstrakte Moral oder großen Vorbilder erweist sich als Fluchtbewegung
vor der Auflösung biographischer Inkliniertheiten, als Schulungsgang des
pragmatischen Zynismus: Lebensfremde Werte zu beschwören, um den eigenen
Schweinehund auszuhalten, der Tag für Tag in nebensächlichen aber auch
bedeutsamen Belangen ständig gegen kleinste Ansätze verstößt, diese Werte zu
beachten. (Du sollst nicht lügen, aber wie soll unter
dieser Voraussetzung ein Selbstwertgefühl aufgebaut werden. Du sollst nicht Ehebrechen,
doch wie soll sonst eine Ehe auf Dauer auszuhalten sein. Du sollst kein
falsches Zeugnis ablegen, aber wie soll unter dieser Voraussetzung eine
Karriere als Arzt, Anwalt oder Politiker zustande kommen. Du sollst nicht
stehlen, doch unter solchen Bedingungen wird niemals ein nennenswerte Vermögen vorzuweisen
sein. …) Auf mystische Offenbarungen oder extraordinäre Grenzerfahrung kann
man/frau ein Leben lang warten, um die in der Biographie versteckten
Möglichkeiten der Erweiterung und Veränderung der eigenen Rolle und deren
Spielräume nur um so gründlicher zu verpassen. Priester, Dichter oder Stars,
Gurus oder Gelehrte liefern dank ihrer Position der Stellvertretung alle Gründe,
die Rhythmen und Erfahrungsformen der eigenen Lebendigkeit zu verpassen oder
gar zu fliehen. Das fällt ihnen nicht einmal schwer, denn die Angst vor der
Verantwortung für das eigene Leben sorgt für die verschiedensten Umwege und
Entschuldigungen, um selbst noch das Genießen und die Befriedigung zu delegieren.
Dabei muss man/frau genau dies selbst und eigenverantwortlich zustande bringen,
Möglichkeiten der Veränderungen stehen gerade an den kleinen Begebenheiten zur
Verfügung, an den in alltäglichen Zusammenhängen notwendigen Änderungen der
eigenen Wahrnehmungsmuster und Verhaltensgewohnheiten – in vom gewohnten
Kontext abweichenden Handlungen, modifizierten Gesten und Sprechweisen. Am Rande
der symbolischen Ungewissheiten, die sich zwischen beengenden und einander
widersprechenden Schemata ergeben, ist das Glück des Unvorhergesehenen zu
finden. Der Stellenwert kreativer Eigenarbeit kann nicht hoch genug angesetzt
werden, wenn die Erfahrung des soziales Todes auf diese Umkehrung des in
Familie und Institution verdrängten und deshalb ständig wirksamen Opferkults
bezogen ist. Ekstase und Kreativität sind Formen einer Trauerarbeit, die aus
Erfahrungen der Grenze resultiert: der soziale Tod demonstriert, wie die Grenze
durch die alltäglichen Belange verläuft; ästhetische Erfahrung gestaltet die
Grenze in Metaphern der Überschreitung, erotische Theorie als Resultat von
Passagen und Wiedergeburten wird erst an dieser Grenze möglich. Wenn allerdings
statt der Grenze das Dazwischen wirksam werden kann, beginnt das Kraftwerk der
Liebe Energien zu liefern: Vermutlich hat das dank der Beschäftigung mit Witz,
Komik und Humor entfesselte Potential eines Schnellen Brüters, der die
Imperative von Antriebsstörung und Melancholie spaßig und lustvoll verpuffen
ließ, bereits die Stufen auf dem Weg zu einer Konzeption blankpolierter Spiegel
bereitgestellt.
Die Bejahung der
Kräfte der eigenen Lebendigkeit sollte also immer der Oberbegriff sein, nicht
die Betonung der Mauern und Panzer des Ich. Lebens- und Betätigungslust, Freude
an den Intensitäten des Augenblicks, ein Optimismus, der eingedenk aller Fraglichkeiten
und Bedrohungen von der erotischen Erfüllung gespeist wird. Unter diesen Voraussetzungen
zeigen sich bereits mit Bataille Wege ins Ungewordene und Unregulierte, deren
Gesetzmäßigkeiten bislang unter den kulturellen Anleitungen nur geflohen werden
sollten: Die Bejahung des Lebens bis in den Tod hinein führt zu einer souveränen
Form der Verweigerung von Macht. Bataille hat den Souveränitätsbegriff mit der
Subversion verklammert! Die Entscheidung für das Leben und Überleben stellt jenseits
der Klage „Das-kann-man-mit-mir-nicht-machen“ Techniken zur Verfügung, dem Opferkult
ein Schnippchen zu schlagen. Die notwendigen Tricks, dem verordneten Tod oder
dem programmierten Untergang auszuweichen, stellen sich erst unvorhergesehen
ein. Entgegengesetzten Kräftepfeile oder Tendenzen sind also miteinander zu
verspannen und für die Qualitäten des Subjektiven stark zu machen – was in den
verschiedensten bedrohlichen Lebenssituationen als Gesetzmäßigkeiten eines
Blankpolierten Spiegels zu erfahren war, hat diese Regelhaftigkeiten zum ersten
Mal auf einen halbwegs zusammenhängenden Nenner gebracht. Im Kontext der
Arbeiten, aus denen die in Dresden vorgestellte Neukonzeption für das ehemalige
Becher-Literaturinstitut entstanden ist, findet sich bereits ein Schlüssel. Der
Sparsamkeitstick der Autonomie und die Verschwendungssucht der Souveränität
sollten parallel ausgeübt werden. Aber eben nicht, um einander in Schach zu halten,
sondern um auf verschiedenen Ebenen die Anpassungszwänge des gesunden Menschenverstands,
wie die Verführungen des Kapitalmarktes in ihre Schranken zu weisen. Anhand des Geldes zeigte Hörisch, wie gültiges Erkennen zur
Täuschung über Sachverhalte wird, wenn das Konstitutionsverhältnis der
Erkenntnis ein Verweisungszusammenhang der Verkennung ist. Die Komplexität des
Geldes erklärt sich durch den Bezug auf ein Symboldenken, das ursprünglich aus
der ambivalenten Erfahrung des Heilig/Verfluchten erwächst – das Symbol ist
kein Werkzeug der Rationalität, sondern ein Kennzeichen des Sakralen. Die Überzeugungskraft
des Geldes resultiert weniger aus dem Tauschwert, als aus der Potentialität,
für alles stehen zu können und damit aus seiner Beziehung zur Macht, die menschheitsgeschichtlich
im Sakralen verwurzelt ist. Dagegen sind die elementaren Formen des Denkens
Epiphänomene des Äquivalententauschs, womit eine Kritik der politischen Ökonomie
zur Kritik der unreinen Vernunft werden sollte. Wir haben nicht nur vergessen,
warum der pure Sex die Verwirklichung des Symbols ist und es um das schmutzige
Heilige im Leben geht; wir sind sogar noch dazu verdammt worden, dieses Vergessen
gründlich zu vergessen. Damit diese Verkennungsanweisungen aufzulösen
sind, muss sich eine geistesgegenwärtige Erfahrung des Körperbewusstseins
einstellen. Eine Einheit, die Zwei ist und zwar als Drittes! Der Ich geht in
einer Beziehung verloren, um eben für diese Beziehung eine Autonomie zu
erlangen, die gegenüber den Anforderungen einer wahnwitzigen Welt und den
Verführungen Zukurzgekommener, anmaßender Psychotiker einen neuen Status der
Souveränität gegenüber allen Anpassungsimperativen ermöglicht.
Freiheit als
Autonomie mag sich in ein Wettrüsten der Emanzipationszwänge verfangen – Freiheit
als Souveränität ins anomisch Monströse übergehen. Die Zuordnungen von Souveränität
als unbeschränkter Verfügungsgewalt theatralischer Selbstinszenierungen zum
Feudalismus und die von Autonomie als Selbstbestimmtheit und Abstraktion von
der Freiheit des Anderen zur bürgerlichen Gesellschaft, spielt mit einem
Erklärungsanspruch, der eben nicht einlöst, was er verspricht. Für Kamper erweist
sich der Riss zwischen rechtlicher Autonomie und singulärer Souveränität, Authentizität,
Individualität als der Grund-Riss einer Subjektivität, in der das Fremde wuchert
und das Eigene abnimmt. Für die Freiheit der Souveränität taucht der Feind oder
Gegner nicht an der Grenze zum Anderen auf, sondern schon an der historischen Gewordenheit
einer Zerrissenheit des Selbst. Dagegen unterstreichen die Neurowissenschaften
diesen Riss als Chance, wenn sie den Determinismus physikalischer Prozesse
nicht als Aufkündigung des Freiheitsbegriffs akzeptieren, sondern an die
chaotischen Zustände erinnern, die im Gehirn ein ausreichendes Maß an Freiheit
gewähren. Neuronale Impulskonfigurationen nehmen mimetische Rollen in Kommunikationsprozessen
ein, sollten zudem verschiedene Vorstellungswelten in einem Clash konfundieren,
erweisen sich unvorhersehbare Lernsprünge als möglich. Die damit entstehenden
Freiheitspielräume hängen entscheidend von der Semantik ab; sie sind erst durch
sprachliche Deutungen einzulösen und damit zu objektivieren. Autonomie und
Souveränität als die beiden Arten der menschlichen Freiheit sind nicht auf
einen gemeinsamen Nenner zu bringen, weil die Prozesse der Selbsterhaltung und
der Selbstverschwendung nicht verwechselt dürfen, nicht miteinander verrechnet werden
können. Sie sind in ganz verschiedenen Lebensbereichen zu Hause, auch wenn sie
im ambivalenten Fetisch der Macht eins zu werden scheinen. Die immanenten
Spaltungen und Verdopplungen der Souveränität haben im Gegenzug ein
selbstabschließendes Geschehen der Autonomieanstrengungen des bürgerlichen Individuums
in Gang gesetzt. Zur Lippes Kennzeichnung jener Zwänge, durch die Autonomie und
Selbstzerstörung zwangsneurotisch verklammert werden, findet in der
historischen Verhaltensforschung manche Bestätigung. Die Entwicklung der
letzten zweihundert Jahre zeigt zudem, dass es eben die Fröste und Einsamkeiten
der Moderne sind, an denen das Modell der absolut gesetzten Autonomie des
Individuums zu Bruch geht. Die Demut, die mancher Konservative als Remedium
dieser Entwicklung anempfiehlt, klingt mir zu sehr nach Anpassung und
Arschkriechertum – wenn wir wieder bei einer ausschließenden Alternative
Glauben oder Wissen ankommen, werden subjektive Kräfte und anarchische
Sehnsucht nach einer anderen Form von Leben und Welt ausgeschlossen.
Eine argumentative
Zuspitzung, die gegen Institutionstheoretiker gerichtet ist – nicht nur gegen
den einer bürgerlichen Demokratie, in der die Rede das Handeln ersetzt, sondern
auch gegen den autoritärer Regime, bei denen ein blinder, den Mächtigen
gehorchender Aktionismus die Rede unterdrückt – ist Carl Schmitt zu entwenden.
Souverän ist, wer in Situationen, in denen keine Wahl mehr möglich scheint, über
den Ausnahmezustand entscheidet. Als alle Sicherheiten weggeflogen waren,
stellte sich wie von alleine jene energetische Struktur ein, die aus
subliminalen Wahrnehmungen Begegnungen machte, also Beobachtungen förderte, die
Wahrheiten transportierten. Ich war oft kurze Zeit vor jenen Leuten zur Stelle,
die eine Falle für uns aufbauen sollten, reagierte sogar pünktlich auf
Schreiben, die gar nicht abgeschickt, auf Telefonate, die nur fingiert worden
waren. Bei alltäglichen Begegnungen verraten die Leute wesentlich mehr über
sich, als trainierte Selbstdarstellung und sprachliches Repertoire gängiger
Klischees verdecken können – gerade diese Begegnungen versorgten uns mit einem
Wissen, das unter der Bewusstseinsschwelle den Generator für böse Witze und
kluge Zynismen speiste. Wir schrieben einen Beschwerdebrief, in dem wesentlich
mehr stand, als wir zur dieser Zeit wussten, an einen Volkshochschuldirektor,
dessen Vorstand sich mit den von der Uni Stuttgart delegierten Störungen
durchschaut und bedroht fühlte. Ich brachte gegenüber der Chefin des
Buchhandels, in dem ich vor allem jobbte, um vom Buchhändlerrabatt zu
profitieren, die gegen meine Freundin inszenierte Intrige auf einen Nenner,
kapierte aber erst aufgrund ihrer Reaktion, dass sie befürchtete, ich könnte mit
meiner Analyse ihre eigenen Machtspiele gemeint haben. Einem Literaturwissenschaftler,
der mich regelmäßig abpasste, erzählte ich, warum für mich keine
wissenschaftliche Laufbahn erstrebenswert war, ohne zu bemerken, wie damit die
von ihm lancierten Intrigen bereits als Argument verwendet wurden. Wir lernten
erst nach und nach an den Reaktionsformen, welche unliebsamen Wahrheiten wir mit
mehrdeutigen, humorvollen Formulierungen in die Welt setzten, wie oder warum unsere
selbsternannten Gegner sich davon provoziert oder bedroht fühlten. Dabei mussten
wir erst einmal akzeptieren und verstehen, warum es jene Erfahrung der
Ausgeliefertheit im Angesicht der psychischen Vernichtung war, die uns von den
institutionalisierten, gewohnt gewordenen Wissensweisen abnabelte, zugleich
aber ein energetisches Level zur Verfügung stellte, auf dem Sätze in die
Wirklichkeit zu entlassen waren, die eine personelle Macht freisetzten und einen
energetischen Wirbel der Weltsetzung zugänglich machten. Man/frau muss die
Ambivalenzen aushalten, in die Bereitschaft einwilligen, über den
Ausnahmezustand zu entscheiden, denn sonst wird über sie/ihn entschieden., denn
normalerweise verfügen eben jene schizoid-paranoiden Systeme der
Ausgeliefertheit über die Regeln, mit denen Menschen ins Vergessen oder die abdämmende
Medikamentisierung gestoßen werden. In dem Augenblick, wenn man/frau Ja zu
einem Lernen jenseits der Scheuklappen der Normalität gesagt hat, beinhaltet dieses
Ja die Verantwortung für das eigene Leben – solange keine Konsequenzen damit
verbunden sind, reicht es eben nicht, zu kritisieren und alles besser zu
wissen. Nachdem uns klar gemacht wurde, dass wir der Vernichtung unterstellt waren
und es nun nur noch von unserer Findigkeit, von unserem Überlebenswillen
abhängen würde, ob wir durchkommen konnten, stand eine Souveränität der
Entscheidung zur Verfügung, rückhaltlos und ohne falsche Vorbehalte ins eigene
Überleben zu investieren.
Als
es drauf ankam, war alles zu verabschieden, was uns einmal wichtig gewesen ist.
Ich musste geistesgegenwärtig und aufmerksam genug sein, um Linkheiten zu
umspielen, Verführungen zurückzuspiegeln und dabei noch die Kraft haben, die
Liebe meines Lebens nach einem Burnout wieder ins Leben zurückzuholen. Ich
agierte, wie ich einmal gelernt hatte, Tischtennis zu spielen: Ein erweiterter
Fokus der Aufmerksamkeit parierte jeden Zug und jeden Schlag, indem das, was
ich einmal den Ich hatte nennen sollen, nun nur noch dieser Schläger war, der
in die Hand überging und vom federnden Fließgleichgewicht der Reaktionsbereitschaft
des ganzen Körpers gesteuert wurde. Wie ich damals an der Qualität meiner Gegenspieler
gewachsen war, gab es selbst zu diesem späten Zeitpunkt noch die direkt in
Produktionslust übergehende, positive Erwartung: Wenn es die besten Namen waren
und die größten Gegner, konnte ich lernen und mich bewähren, mein Repertoire
erweitern, meine Techniken verbessern. Während andere an dem Gedanken erstarrt
wären, um ihr Leben zu spielen, beschäftigte mich bereits der Hintergedanke,
die durch einige zufällige Funde erahnbaren Gesetzmäßigkeiten eines
Blankpolierten Spiegels genauer zu erkunden: Nicht zu reagieren, nicht zu tun,
das Ganze an sich vorbei rauschen zu lassen und sich den wesentlichen Dingen zu
widmen. Dabei waren es nur Nadelstiche, mit denen uns nach und nach der Schneid
abgekauft und die Lebenslust vergiftet werden sollte – wir mussten eben mit
einem gewissen sportlichen Ehrgeiz lernen, viele Nadelstiche einfach wegzustecken,
indem der nötige Humor die zugrunde liegende Impotenz oder Frigidität auf einen
Nenner brachte. Die von diesen Leuten praktizierte Verbindung aus gerissener
Bauernschläue und verbiesterter Dummheit entwickelte mit der Zeit ein
surrealistisches Format und war beeindruckend; doch egal was sie oder ihre
Delegierten sich alles einfallen ließen, den Erfolgswillen und die Ausgeglichenheit
nach einer Dosis Sex pur konnten sie nicht beeinträchtigen. Das intuitiv
erworbene Schema wuchs vor allem an überzeugenden Rückmeldungen, wenn Quälgeister
in irgendwelche Selbstzerstörungen absausten, weil wir auf absurden Schwachsinn
nicht reagierten. Es entbehrte nicht der Komik, wenn uns der Wind zutrug, dass in
einer konventionellen Ehe frustrierte Spießer, die zur Kompensation verbiestert
versucht hatten unsere Beziehung zu stören, plötzlich wieder Single waren; dass
Leute, deren Lebensinhalt die Musik war und die dafür gesorgt hatten, die
Überlastungsstruktur für einen Burnout zu inszenieren, von einem Tag auf den
anderen tot waren. Intellektuelle Cracks hatten ausgegeben, einer ihrer Schüler
sei außer Kontrolle geraten; ein größenwahnsinniger Idiot, der auf den Boden
der Tatsachen zurückgeholt werden sollte. Nachdem sich die angeleierte Intrige ohne
Erfolg verselbständigt hatte, agierten sie verbissener, um der anfänglichen
Verwünschung zur Einlösung zu verhelfen und ihr Renommee unter den Kollegen nicht
aufs Spiel zu setzen.
Ich kam nicht auf die Idee, mich bedroht zu
fühlen, bis die hochgekitzelten Virulenzen meinen gerade drei Jahre alten Chow
Chow erwischten; er starb qualvoll an einer Magendrehung. Von da ab war der
Traum vom freien Schriftsteller abgehakt; es ging nur noch darum, die nötigen
Einnahmequellen aufzutun, um von den universitären Hysterisierungen unabhängig
zu werden. Der Ehrgeiz, sich jenseits all der subalternen Krüppel effektiv und
erfolgreich zu bewähren, war einfach zu streichen – es ging nun um Geld und
damit war alles andere zu vernachlässigen. Das psychische System hatte makellos
zu sein, durfte von keiner Negation getrübt werden, auch Ehrgeiz war nur eine
Einfallpforte für Wut oder Rachegedanken. Das beste Herrschaftsinstrument war
schon immer ein schlechtes Gewissen – aus diesem Grund werden an
Machtpositionen meist Leute installiert, die aufgrund irgendwelcher
Verfehlungen unter Druck zu setzen sind. Wer Machtspiele, sexuelle Übergriffe
oder ähnlichen Scheiß nötig hat, ist erpressbar und zu nötigen. Wer dann auch
nur zögert, kleine Gefälligkeiten zu garantieren, erfährt eine geballte, ihm
demonstrierende Negation: Gib auf, du bist allein, wenn du nicht spurst und
machst, was wir von dir erwarten. Deshalb die Betonung der Makellosigkeit, aus
diesem Grund der Wert, der einem als blankpolierter Spiegel wirkenden
psychischen System beizulegen ist, den kein Schatten trübt. Wer wirklich etwas
durchsetzen will, wen diese Einsicht aus der Zukunft trifft, nachdem ihr/ihm
aufgegangen ist, zu was dieses Leben künftig getaugt haben wird, ist zu keinem Zugeständnis
bereit, dem Modus vivendi aus Lebenslüge, Verleugnung und Ersatzbefriedigung zu
huldigen. Klar war auch, warum ein Blankpolierter Spiegel sich in Nebensächlichkeiten
zu bewähren hatte, denn oft werden große Aufgaben mit Bravour erledigt, während
kleine Fehltritte dann das Tor für Selbstbestrafungen öffnen. Selbst wenn das
von den Auftraggebern nicht so gedacht war – sie hatten den Erkundungswillen, die
produktive Neugier, die Übung der perfekten Nummer oder die Suche nach der
Weltformel, was aufs gleiche rauskam, mit dem nötigen Drive versehen.
Der Clash verschiedenster Impulssysteme, die Aktivierung der durch subliminale
Wahrnehmungen transportierten Informationen legen eine Katastrophenpädagogik nahe,
die dank des Blankpolierten Spiegels dafür sorgt, an der Größe der Gegner oder
den Fehlern ihrer Delegierten zu wachsen.
Als Grundvoraussetzung
erwies sich die Nähe zum Material, die Selbstvergessenheit in den Vollzügen…
man/frau hat mit so viel positiver Erwartung und orgiastischem Nachhall erfüllt
zu sein, dass die bösen Verwünschungen und üblen Nachstellungen an der transportierten
Negation irre werden, also hilflos zu ihren Urhebern zurückstreben. Solche Erfahrungen
sorgen dafür, virtuelle Kräftepfeile und energetische Konstellationen vor dem inneren
Auge zu sehen, die Fronten werden klarer. Natürlich ist es kein Wunder, wenn
sich weitere Apologeten der Antriebsstörung darauf einschießen, diese Beziehung
zu stören, denn nichts stört ihren Machtanspruch mehr, als ein funktionierendes
Paar, das eine Lustpolitik ausbaut, auf die sie zugunsten der Macht Verzicht
geleistet haben. Die offensichtlich werdenden Machtstrategien zeigen aber auch,
unter welchen Voraussetzungen das ursprüngliche Bild vom eigenen Ich
hergestellt wurde, welchen Verfügungen der Lüge, Verleugnung und Überformung es
gehorcht haben muss. Was lag also näher, als eine maximale Distanz zu den
eigenen Prägungsmustern aufzubauen, im Gegenzug die individuellen Antriebe der
gemeinsamen Beziehung zu unterstellen. Die unter Bedingungen der Normalität
unlösbare Aufgabe lautete: Zu wissen und zu kapieren, was jene selbsternannten
Gegner planten, ohne sich auf sie einzustellen; die täglich notwendigen
Angelegenheiten zu klären und zu erledigen, zugleich aber geistesgegenwärtig zu
reagieren, einen Schritt beiseite oder
neben sich zu treten, während die Gründungsmythen des Ich einer
geballten Negation ausgesetzt waren. Das mag wie ein maximaler Widerspruch sein:
Krüppelzüchter zu durchschauen, indem man sich, weil sie einen nicht interessieren,
nicht mit ihnen beschäftigt, doch genau so funktioniert ein Blankpolierter
Spiegel. Diese Darsteller gebildeter Persönlichkeiten investierten eine derartige
Kraft in die Selbstdementierung, dass es schon reichte, nicht auf Schmierenkomödien
reinzufallen, die sie suggerierten. Am besten stellte man/frau sich nichts vor,
kein fixiertes Selbstbild, keine konkreten Zukunftspläne, vor allem nicht, was
kommen würde. Ein maximaler Fehler wäre gewesen, sich auf das einzustellen, was
die Simulanten von einem erwarteten. Statt dass uns imaginäre Ziele ausgebremsten,
erwies sich das Hier und Jetzt als tragfähig, noch dazu trug uns gelegentlich
ein Anruf aus der Zukunft wichtige Informationen zu. Mit dem Telefonmarketing gab
es einen neuen Markt, der noch weitgehend unreguliert war, mit Desktop-publishing
und Print on demand entstand ein neuer Verlagszweig, der unabhängig von
universitären Netzwerken liefern konnte, keine Lagerkosten verursachte und das
unnütze Fällen von Bäumen sparte. Aber erst einmal galt es, die eigenen Angelegenheiten
zu erledigen, das nötige Geld für die monatlichen Ausgaben zu organisieren. Nur
darum ging es, alles andere waren zu diesem Zeitpunkt Furzideen. Tragfähig waren
vor allem ein konkretes Ziel, das keine Kraft und Aufmerksamkeit für
Hysterisierungen übrig ließ – manchmal
kam sogar der Gedanke auf, ob wir an einem Status jenseits Geschwätzwelt und
pseudofamiliärer Abhängigkeiten ohne Störfaktoren vielleicht auf die Dauer an
der Ökonomie der Aufmerksamkeit gescheitert wären. Hatten wir als Paar
vielleicht nur deshalb das Arrangement gefunden, uns zu einigen, weil Neider
und Intriganten sich permanent mit uns beschäftigten und noch dazu die
Entlastung von Überdruss oder gegenseitigen Vorwürfen lieferten? Dass wir
wichtig sind, selbst wenn man uns vernichten möchte, dass man uns wegwünscht
und dies nicht gelingt – war das nicht der zusätzliche Kitzel? Schließlich
bewarb ich mich noch während der Aushilfe als Bankbote auf alle möglichen geisteswissenschaftlichen
Stellenausschreibungen deutscher Unis, um in meinen Anschreiben vor allen
Dingen Informationen zu streuen, zu dokumentieren, dass ich nicht einfach im
Schweigen verschwinden würde. Eine der frühen Einsichten hatte gelautet: Die
Leute, die es sich in den Kopf gesetzt haben, über dich zu verfügen, haben ein
ungeheures Bedürfnis, dass du dich mit ihnen beschäftigst. Denn nur dann sind ihre
Delegationen gewährleistet und zünden. Warum willst du ihnen, wenn du noch
nicht einmal weist, was sie wirklich wollen und ob das Theater nicht nur ihrer
Selbstdarstellung dient, den Gefallen tun! Damals verdankte sich dieser
Geistesblitz bereits einem befriedigten Status der inneren Leere, er musste also
nur noch verallgemeinert und an die Intriganten weitergeleitet werden: Sollte
Sie sich doch weiterhin mit uns beschäftigen. Fast ein dreiviertel Jahr jobbte
ich als Bankbote einer internationalen Bank, um die monatlichen Ausgaben
abzufedern, in den letzten Monaten brachte ich mir learning by doing rhetorische
Tricks beim Telefonmarketing bei, die ich bis dahin nur verachtet hatte und erwirtschaftete
im folgenden Jahr bereits ernstzunehmende Umsätze. Beim Geldverdienen waren
keine Vorbehalte in Sachen Moral und Selbstdarstellung mehr zu berücksichtigen,
nachdem ich die Erfahrung gemacht hatte, dass mir selbst kleine Jobs eines
Hungerkünstlers streitig gemacht wurden. Dann eben eine oder zwei Etagen höher,
auf einer Ebene, auf der man mit einem niedlichen MCM-Timer für tausend Mark
seine Termine festhielt und sich zur Belohnung für Vertragsabschlüsse, die
jenseits des Jahreseinkommens der vergangenen Jahre lagen, gelegentlich eine
außerordentliche Antiquität oder eine anspruchsvolle Luxusuhr leistete… Ich entwickelte
mich nicht freiwillig zu einem der Topverkäufer eines Luxusmagazins, hätte mich
lieber einem nächsten Manuskript gewidmet, auch deshalb war es egal, wie ich
rüberkam und was die Leute von mir dachten. Vielleicht hatte ich dieses Pensum
an Zynismus gebraucht – die Gier wollte gespiegelt werden, das ich-bin-wichtig,
das sich noch in der Werbung für ein Produkt multipliziert, wollte bestätigt
werden. Diese Bestätigung kam besonders überzeugend rüber, wenn sie durch einen
blankpolierten Spiegel vermittelt wurde: Weil es mir Wurst war, weil ich mich
in keinster Weise in Relation zu den Leuten setzte, denen ich eine Metaphysik
der Verheißung des Erfolgs verkaufte, sahen sie keinen Grund, an meiner
Glaubwürdigkeit zu zweifeln. Sehr wahrscheinlich mussten die Grundlagen dieses
umfassenden Zynismus erst einmal auf einer internationalen Bank erworben werden.
Entscheidend
sind die medientheoretischen Gesetzmäßigkeiten, die dieser Draht zur Welt
vermittelt hat. Eine Konzentration auf die symbolische Form des Mythos kodiert
die körperlichen Energien und die hormonellen Ströme als Emanationen des
Göttlichen in der Welt. Dieser Schematismus kann dem Wirkungsgeschehen der
klassischen Tragödie abgelauscht werden, komplettiert durch eine Ökonomie der
Bedeutsamkeit durch eine solche der Schuld und des Opfers. Damit ist er noch
vor den Gesetzmäßigkeiten der Hermeneutik zu verorten, es geht nicht um kodifizierte
Bedeutungen, sondern um Relationen der Bedeutsamkeit. Im mythischen Strukturieren
der Weltwahrnehmung spielt der Körper nach Cassirer die Funktion des Koordinierungszentrums,
und genau das kehrt in potenzierter Form mit den elektronischen Medien wieder.
Der Körper wird zum Medium der Person, zum Resonanzboden der sinnlichen
Gegebenheiten und materialisiert die schwer zu fassenden Empfindungen. In den
sozialen Medien dient er als Ausdrucksmittel, mit dem zusätzlich zur konventionalisierten
Sprache eine Botschaft übermittelt wird, die nicht oder nur unvollständig, mit
großen Hemmungen in Worte gefasst werden kann. Ein Shitstorm oder eine Massenhysterie
sind vielleicht unliebsame, aber recht überzeugende Beispiele für das, was in
anderen Zeiten als Wirken des Göttlichen identifiziert wurde. In diesem
Zusammenhang ist daran zu erinnern, dass gewisse Gesetzmäßigkeiten wirksam
werden, wenn wir uns vom Begehren verabschieden. Natürlich soll das Telefon
dazu dienen, Umsatz in Bewegung zu setzen, doch wenn eine Nummer nach der
anderen abtelefoniert wird, ist recht schnell einen Status des interesselosen
Abstands erreicht. Damit stellen sich die Wirkungsweisen eines Blankpolierten
Spiegels ein, der schließlich nur eine Metapher für das gesamte kommunikative
Geschehen ist. Ein Spiegel ist tatsächlich ein optisches Instrument, während in
den hier wirksamen subliminalen Prozessen akustische und taktile Reize verarbeitet
werden. Für Foucault führt das ‚Ich-denke‘ zur unanzweifelbaren Gewissheit der
Existenz des Ich und seiner Selbstbezogenheit, doch bereits ungeschulte
Ansprechpartner gehen auf Abstand, wenn sie den Egoismus wittern. Das
‚Ich-spreche‘ hingegen lässt diese Existenz zurückweichen, zerstreut sie,
löscht sie aus – das ‚Ich-telefoniere‘ lässt nur einen Leerraum bestehen, wenn
dabei rüberkommt, dass es über den ganzen Tag nicht mehr darauf ankommt, wen man
spricht und was dabei gesprochen wird. Ein Anruf, den ein Desinteresse an der
Person des Gegenübers trägt, hat die Wirkung von Lacans ‚vollem Sprechen‘ und
setzt den Angerufenen unter Zugzwang. Innerhalb des Fließgleichgewichts von
Macht und Geld entsteht eine Unruhe im Sprechen, ein Zwang, ein Begehren – davon profitierte ich. Semiotisch haben die
Worte am Telefon nur nebenbei eine Bedeutung, denn vor allem transportieren sie
Kraft – das kann beeindruckender sein, als die beste Rhetorik. Jeder Verkauf
ist ein nicht zu unterschätzender Machtkampf; kodifizierte Bedeutungen sind
längst keine Grundlage der Kommunikation am Telefon, denn es wird Energie
übertragen. Selbst für das Geschwafel und Geschnatter von Pubertären, die ihren
hormonellen Überdruck abfahren und die Spannung nicht halten, gilt diese
Gesetzmäßigkeit nicht weniger wie für die Monologe einsamer alter Leute, die
die Illusion füttern, sie können jemanden an den Hörer bannen. Das Telefon ist
ein Medium, das anstelle von Bedeutungen lauter Symptome psycho-physischer
Gewalt transportiert. Der Apparat steht für keine authentische Rede oder die Präsenz
eines für beide Sprecher eindeutigen Sinns – es geht um Kraft, das muss man
sich immer wieder klar machen, überhaupt wenn dieses sinnlose Tun bis dahin unvorstellbar
viele Penunzen auswirft.
Natürlich
wurden wir schon mit der Frage provoziert, ob beim Blankpolierten Spiegel nicht
die Freude am Scheitern der Anderen aufkommen darf. Neumann unterstellte, dass sich
doch automatisch die Häme einstelle, wenn einem zugetragen wird, wie die für
einen gebaute Falle zur Falle der Delegierten wurde – aber er nicht einmal die
Regel kapiert, nach der von einem selbst keine Negation ausgehen darf. Der
Volksmund transportiert doch eine große Portion Hohn, wenn es früher hieß: Wer
andern eine Grube gräbt, fällt selbst hinein! Diese Genugtuung mag verdient
sein, sie darf sogar zu der insgeheimen Bestätigung so-geschieht-es-ihnen-recht
führen. Das Gefühl des energetischen Machtvolumens darf nur nicht ausposaunt
und damit vermindert werden. Wenn wir nichts dazu beigetragen haben, unser einziger
Verdient darin bestand, uns nicht mit der Spekulation beschäftigt zu haben, was
jetzt wieder von den Krüppelzüchtern zu erwarten war, weil uns lustbetontere
Themen beschäftigen, unterstreicht das Ergebnis eine blankpolierte Haltung. Wichtig
ist die grundsätzliche Verabschiedung von jeglicher konfliktuellen Mimetik,
dann ist die Genugtuung, dass uns nichts passiert ist, aber Intriganten oder
Aggressoren die Quittung für ihr Fehlverhalten bekommen, eine Bestätigung der
richtigen Lebenseinstellung und kein Ressentiment. Wenn Bonsai-Spezialisten der
Apparat ihres wissenschaftlichen Netzwerks nicht geholfen hat, uns zu vernichten,
ist die in manchem Nachruf genannte jahrelange, schwere Krankheit auch als
Quittung zu verstehen: Wer sich über Jahre hinweg giftige Bosheiten und geisteskranke Störungen
ausgedacht hat, läuft auch Gefahr, davon imprägniert zu werden. Die Negation,
die wir nicht angenommen haben, begann sich wohl dort festzufressen, wo sie
hergekommen war. Doch wer wird sich an so einem Scheiß freuen! Eher aufatmen,
vor Erleichterung lachen, mal abgesehen von dem Gefühl, auf einer Rasierklinge
zu balancieren und der Notwendigkeit zu gehorchen, die vorhandene Energie
richtig zu investieren. Das Beste scheint noch immer, Krüppelzüchter überhaupt
nicht zur Kenntnis zu nehmen. Es spricht nichts dagegen, sich an den eigenen
Fähigkeiten zu freuen, an den Trainingserfolgen, an den Routinen, die aus den
ständigen Kleinkriegen erwachsen, an den Techniken des Umspielens und
Vereinnahmens, an den Tricks, die Bosheiten der Anderen für sich arbeiten zu
lassen.
Im
Durchlaufen der Katastrophe hat sich bereits in den vergangenen Jahrtausenden
immer wieder einmal die Chance eingestellt, auf die Gesetzmäßigkeiten eines
Blankpolierten Spiegels zu kommen – wenn unter hohem Stress und
unvorhersehbaren Bedrohungen neuronale Impulskonfigurationen Bedeutsamkeiten
freisetzten und neue Wege zeigten, die bis dahin nicht einmal vorstellbar
waren. Doch wenn das Sendungsbedürfnis, der Bekenntniswahn und das Bedürfnis, über
Schüler und Abhängige zu herrschen, daraus hervorgegangen sind, bleibt von der
ursprünglichen Erleuchtung nicht viel übrig, obwohl in den heiligen Büchern noch
immer Ahnungen nachhallen. In der ‚Katastrophenpädagogik‘ haben wir einige
Spuren verfolgt. Pfaller versammelt in ‚Die Illusionen der anderen‘ eine ganze
Reihe von Argumenten aus Psychoanalyse, Ethnologie und Philosophie, mit denen
die Fragestellung Marcuses
aus ‚Triebstruktur und Gesellschaft‘, aktualisiert wird, ob Kultur immer auf
Triebverzicht und Unterwerfung beruhen muss oder ob ein Realitätsprinzip der
nicht-repressiven Sublimierung viele gesellschaftliche Kriegsschauplätze
bereits vor der Entstehung befrieden könnte. In diesen Zusammenhängen ist die historische und sogar zeitgeschichtliche
Zuordnung des von Freud konstatierten Unbehagens in der Kultur bemerkenswert.
Die auf dem Prinzip eines zensierenden Über-Ichs beruhenden Schädigungen der
Sexualfunktion werden damit durch keine universelle Gegebenheit gerechtfertigt,
denn sie treten nicht notwendigerweise in jeder Kultur als deren unliebsame Begleiterscheinung
auf. Deutlich wird, warum es Kulturen mit anders gelagerten Beobachtungsinstanzen
und geringeren Schädigungen der Sexualität gibt, die beträchtlich weniger
Unbehagen verursachen. Das historisiert diese Schädigungen, ordnet sie der
Epoche der sich selbst so bezeichnenden Zivilisierten zu. Entscheidend sind vor
allem Beobachtungen, denen zufolge das Geschlechtsleben in »wilden« Gesellschaften
nach strengen, genau zu beachtenden Regeln organisiert ist, die den Sex nicht beeinträchtigen.
Es gibt Kulturen ohne internalisiertes Gewissen, die dennoch über Regelungen
und Erfahrungen von Schuld verfügen, ohne dass eine psychische Instanz wie das
Über-Ich ihre Träger kontrolliert, die also ausschließlich unter einer Instanz von
Augenüberwachung und naivem Beobachter stehen.
Einige der Belege überschneiden sich nicht zufällig mit
Linkes Kennzeichnung von indexikalischen Vorgängen im Gehirn, von Zeigemechanismen,
die durch den Transfer vom nonlinguistischen Impulsen in den sprachlichen
Bereich die Verknüpfung von Attributen und Urteilen leisten und fast
selbstverständlich zu Gumbrechts Beschreibungen der Präsenzkultur passen. Ausgehend
von einer aristotelischen Setzung affizieren Effekte der Greifbarkeit durch Bewegungen zunehmender oder
abnehmender Nähe und Intensität die Kommunizierenden in ihrer Körperlichkeit.
Wie nebenbei berühren sich miteinander redende Personen, wenn es um gefühlsmäßige
Bedeutsamkeiten geht. Währenddessen entsteht ein momentanes psychisches Feld
der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen, das entwicklungsgeschichtlich lange
vor den Standards der Abwesenheitsdressur zuhause ist. Diese führen in
einer Sinnkultur zur Verabsolutierung kodifizierter Bedeutungen, denen die
Menschen mit ihren Routinen der Lüge und Verleugnung nicht standhalten könnten,
wenn sie nicht mittels Inflationierung ständig auf der Flucht in die Unverbindlichkeit
des Geredes wären. Dem kausalen Handlungsbegriff der Sinnkultur mit ihrem
Antrieb der Wertemaximierung entspricht in einer Präsenzkultur die magische
Praxis einer Wechselwirkung bewusster und unbewusster Anverwandlungen oder
Überschreitungen, die Grenzen sind weich und fließend, verschwinden in Momenten
des Glücks. Dagegen forciert die dauernde Orientierung an Identität und Identifizierung
das Abgrenzungsbemühen einer Sinnkultur, die die Nähe zu den anderen zugleich
vorgibt und mit einem stressigen Agon des konfliktuellen Übertrumpfens
unterläuft. Diese Ambivalenz induziert schlechtes Gewissen und Schuldbewusstsein,
deren Kompensation ganz
im Sinne der Abwesenheitsdressur arbeitet und enorme Anstrengungen
freisetzt, die profitorientiert in entfremdende Wert- und Bedeutungssphären umzuleiten
sind. An einer Präsenzkultur wie der der Griechen zeigt Pfaller auf Nietzsches
Spuren, warum die griechische Götterwelt die Funktion hatte, Menschen grundlegend
zu entlasten und, sofern von einer Schuld überhaupt zu sprechen war, diese bei
den Göttern anzusiedeln. Vom Trieb wird man/frau gepackt, überformt wie von
einer göttlichen Macht. Er setzt die Subjektivität – soweit sie bereits eine
Form des Selbstbewusstseins ausgeprägt hat – zeitweilig außer Kraft und
verwandelt eine/n zum Objekt übermenschlicher Kräfte. Eine derartige Theologie
bedingt eine psychische Topik, die ohne Über-Ich auskommt; sie existiert nicht
in der Reflexionsform von Bekenntnissen und Beichten, werde ohne Bezug auf ein
Ideal-Ich praktiziert. Aus einem Weltbild, in dem Götter die Schuld tragen,
ergeben sich die Grundlinien eines entsprechenden Sexualsystems: Menschen mussten
nicht zu schuldfähigen Subjekten eines Gewissens werden, brauchten keinen durch
Bekenntnisse belasteten Körperbezug entwickeln, der lediglich an idealisierten
Objekten ausgerichtet ist. Ihr Sexualleben konnte der Form nach ein »Heidenspaß«
bleiben, wie ihr Schuldsystem, wie ihre Götterwelt. Das Prinzip des göttlichen
Verschuldens verschonte die Menschen vor der Bildung einer Instanz, die selbst
den Triebverzicht, weil er einen Perfektionismus fordert, der aufgrund der
Verfänglichkeit sinnlicher Reize nicht eingelöst werden kann, noch mit Schuldgefühlen
bestraft oder der aufgrund des Verbots sogar zur Übertretung reizt. Es ist
diese paradoxe Logik, die als das zentrale Element des Unbehagens in der
Kultur zu betrachten ist.
Für die Fragestellung Marcuses bedeutet Pfallers aus
Freuds Arbeiten abgeleitete These, dass Gesellschaften möglich sind, deren Weltbilder
im Bereich des Sexuallebens ohne das Prinzip des homo clausus auskommen. Im
anderen Fall wird mit der Negation der Sexualität durch die Bildung eines
zensierenden Über-Ich der gesamte Antrieb geschädigt. Die Lust an eigenen
Tätigkeiten und die Entdeckerfreude für neue Wege und Routinen unterstehen dann
einem Double bind, der sowohl Triebbetätigung als auch Triebverzicht mit unlustvollen
Folgen verbindet. Offenbar beruhen die Prägungen bekenntnishafter Weltbilder, indem
sie Selbstbeherrschung und asketischen Entzug fördern, auf der Gewährung
getarnter Lustprämien in Form von Selbstachtung und imaginären Größenfantasien
– der Größe des Verzichts entspricht dann die gesellschaftlich geförderte,
konfliktuelle Wut des Eroberungs- und Erwerbsbedürfnisses. Doch diese
Dressurakte sind nicht die einzig mögliche Form, in der das Sexualleben
geregelt und der Zusammenhalt von Gesellschaften hergestellt werden kann. Kulturen,
die den Trieb feiern, sind Kulturen ohne verinnerlichte Gewissensinstanz; sie produzieren
eine unzensierte Sexualität. Selbst Ruhm oder Ehre sind Zeichen, die sich äußerlich
ablesen lassen, sie haben keinen Bezug auf ein Ideal-Ich. Um dem Unbehagen in
der Kultur zu entkommen, wäre eine andere Organisation psychischer
Beobachtungsinstanzen völlig ausreichend. Der von Rousseau gepredigte Kulturpessimismus
müsste nicht das letzte Wort haben, wenn Kultiviertheit in der Fähigkeit bestünde,
den Trieb zu feiern. Pfaller begnügt sich mit einer rhetorischen Schüchternheit
wenn er die Frage in den Raum stellt: Verdienen nicht gerade jene Kulturen, die
zu einem umfassenden Ja imstande sind, am meisten den Namen der Kultur; jene hingegen,
welche auf Askese und Sexualverstümmelung hinarbeiten, alleine den Titel der
Barbarei? Linke kann zu dieser Argumentation einiges aus dem Repertoire eines
Neurophysiologen beitragen.
Doch zurück zu
Wirkungsmechanismen eines Blankpolierten Spiegels, die früher der Magie und dem
Teufel unterstellt worden sind: Das Geheimnis der Synchronizität, ihre
Ungreifbarkeit und scheinbare Zufälligkeit erklärt sich damit, dass diese Magie
überall und nirgends zugleich ist. In den menschlichen Zusammenhängen gibt es
keinen Zufall, sondern Resonanzräume und Übertragungsfelder, die noch immer an
das die Reziprozität des vorgeschichtlichen Gesetzes Auge-um-Auge, Zahn-um-Zahn
denken lassen. Bei Lacan hieß es über Wechselbezüge auch jenseits der Couch:
Les sentiments sont toujours reciproques! – auf anderen Schauplätzen und in
anderen Zeiten wird dies mit kommunizierenden Feldern erklärt. Es gibt nur ein
paar Aufgaben, die wir richtig zu lösen haben, aber unendlich viele Variationen
des Ausweichens, des Fehlinvestments, der falschen Zielsetzungen. Das ist die
klare Schlussfolgerung aus der Erfahrung, in Geschichten verstrickt zu sein, in
denen eine nicht-lineare Form der Zeit herrscht.
Eine personelle
Macht, unabhängig von Institution und Delegation, beginnt erst jenseits der
Freude an der Unterlegenheit der anderen, jenseits des Verstümmlungswillens –
sie resultiert aus der Freude an der Selbstverwirklichung, an einer in sich
stimmigen, sich selbst tragenden Betätigungslust. Gegen Bosheiten durchgekommen
zu sein, ist bereits ein Nebenprodukt, aber natürlich die Voraussetzung,
weitermachen zu können. Sie finden Andeutungen und Hinweise in den Spruchweisen
des Volksmunds, in der Selbstvergottung der Mystiker und verstreut in allen
Religionen. Vertrauen und Hingabe, innere Leere und Offenheit für das Andere,
Liebe und Geduld, Freiheit von der Gier gehören dazu. Alle werden in einer
einzigen Bedingung zusammenlaufen: Makellosigkeit – du darfst kein Begehren mit
den Akteuren des Sexualneids und der Verleugnung teilen; oder noch allgemeiner,
du musst dich von der konfliktuellen Mimesis verabschiedet haben.
Makellosigkeit heißt: Du sollst nicht begehren des anderen
Weib-Haus-Auto-Kind-Stelle-Vermögen-Einfluss – egal was sie/er ist oder hat.
Doch dazu brauchst du schon einmal einen Partner/eine Partnerin, mit der oder
dem das Begehren so zu konditionieren und zu kultivieren ist, dass es von
fehlerhaften Identifikationen und dem Neid geheilt wird. Ordentlich befriedigt,
kann ich mir in aller Ruhe anschauen, wie die anderen manisch Zielen hinterher
rennen, die anscheinend keine echte Befriedigung bieten, denn sonst würden sie
nicht sofort unbefriedigt weiterrennen.
Doch
Spekulationen ändern nichts an irgendwie immer ungreifbaren Erfahrungen, die
mit dem Mysterium der Kräfte des Lebendigen eins zu sein scheinen – bereits in
der Lebensbeschreibung Taulers finden sich recht genaue Kennzeichnungen der
Prozesse, mit denen diese Metapher spielt. Die Gesetzmäßigkeiten artikulieren
zu wollen, heißt schon, sie zu verpassen und im Nachhinein zu pervertieren. In
kurzen Augenblicke zeigen sie sich: Eine
minimale Zeiterfahrung, die in einem Maß mit Lebensenergie geladen ist, dass
man/frau immer wieder meint, zu vibrieren, zu brennen, zu platzen. In gewissen
Situationen glaubte ich ein Schnarren in mir zu hören, hatte einen metallenen
Geschmack im Mund, der an durchgebrannte Sicherungen erinnerte. Manchmal ein
fernes Knistern und Rauschen, als materialisiere sich eine elektrische Spannung,
als sprängen Funken über und kündigten ein Feuer an – seltsamerweise brannten
in dieser Zeit, in der mich meine Botengänge immer die gleichen Wege entlang
führten, zwei Gebäude aus oder ab, um die sich meine Spur eingegraben hatte. Alles
Zufall und eine monomanische Zuordnung – vielleicht könnte so etwas den energetischen
Charakter eines mystischen Nu kennzeichnen, wenn es nicht einfach der Schatten
einer zurückliegenden, fremdbestimmten Paranoia war. Es ist noch nicht einmal
ausgemacht, ob die Evidenz nicht im Nachhinein erst synthetisiert wird – unter
dem Einfluss einer archaischen Zeiterfahrung, die auf der Voraussetzung beruht,
dass etwas, das jetzt und hier ist, außerdem an tausend Orten und Zeiten in der
Allgegenwart des Göttlichen zugleich stattfindet. Es ist also nicht unbedingt
so, dass wir nachsitzen müssen, weil die voran gegangenen Generationen ihre
Aufgaben nicht gelöst haben. Sondern wenn wir uns auf das Abenteuer des Lebens
einlassen, haben wir die wesentlichen Fragen wieder neu zu stellen und aus
einer eigenen Perspektive anzugehen. In der Welt des Mythos wird im Fest die
Einheit mit dem Göttlichen gefeiert, und die Götter sind anwesend identisch mit
den Teilnehmenden. Noch in den zwangsneurotischen Spielen von Familienkrüppeln
wird eine Schwundstufe dieser Einheit mit dem Göttlichen als Wiederholung des
Fluchs vergangener Generationen erfahrbar: Die Gewalt des Wiederholungszwangs
resultiert aus einer Homöostase des Elends. Diese Gesetzmäßigkeiten können
einen mangels Humor immer kleiner machen, in einer Ausgeliefertheit erdrücken –
doch mit der Freude an Entdeckungen, der Lust, den Dingen auf die Spur zu
kommen, dem Vermögen, mit einer witzigen Bemerkung die Verhältnisse zu
erschüttern und in Komik zu überführen, ist ihnen beizukommen. Wer die
haltgebende Funktion von Zwängen nicht braucht, erkennt mehr oder weniger
schnell, warum Machtspiele mittels dauernder kleiner Nadelstiche, die die Menschen
bis zum gegenseitigen Abwürgen exerzieren, einfach nur absurd sind. Wenn im
rechten Augenblick diese Erkenntnis in kurze, knappe Worte auf einen witzigen Nenner
gebracht wird, explodieren mit der Pointe erstarrte Abhängigkeitsbeziehungen.
Ex negativo beschreibt diese Wirkung der Nichtidentifikation gewisse Routinen,
mit denen in Ausnahmesituationen ein Geistesblitz zu zünden ist. Nadelpikse tun
nicht weh, aber sie sollen auf die Dauer entnerven und zu Fehlern verführen. Psychotiker
trauen sich in der befriedeten Zone der Verwalteten Welt nicht viel mehr, weil
sie viel zu feige zu einer Tathandlung sind, weil sie es sich nicht leisten können,
auf ein Tun festgenagelt zu werden. Also müssen nur genug Pikse ohne Widerstand
oder Krämpfe ausgehalten werden; der Mangel an Resonanz ist reine Übungssache. Noch
dazu kann dieser Striez umcodiert werden; er taugt als Hinweis auf die
Kompensation unerfüllter Bedürfnisse: Was nachgemachte Menschen alles nötig
haben, um ihre Verstümmelung auszuhalten. Die dauernden Pikse bieten sich sogar
als eine Form von Akkupunktur an, um die Widerstandskräfte zu stärken. Die Beobachtung,
welche Mühe sich Krüppelzüchter geben, um einen zu schwächen oder zur Strecke
zu bringen, unterstreicht innerhalb einer Ökonomie der Aufmerksamkeit eine Bedeutsamkeit,
die wir in realistischen Augenblicken nie erwartet hätten. Das Tun des Einen
ist das Tun des Anderen; wer das Privileg aushält, eine solche Dialektik live auszuwerten,
stellt fest, wie der Mangel an Resonanz diese Leute irritiert und schwächt. Gelegentlich
ist sogar Simulanten klar, warum der Motor des psychotischen Verhaltens die von
einer Verleugnung der sexuellen Differenz angetriebene Angst ist. Diese
Schlussfolgerung legt einfache Schlussfolgerungen nahe, um die Wirkungsmechanismen
der Entdifferenzierung zu unterlaufen. Es dreht sich wirklich immer nur um das,
was in der Bibel Erkennen genannt wurde – und wenn sich diese Gesetzmäßigkeit
durch den Sexualneid verrät. Wer wirklich erkennt, um was es im eigenen Leben
geht oder gehen sollte, hat viele Probleme weniger. Auch das ist eine Form von
Komplexitätsreduktion: Wer sich richtig investiert, hat keine Zeit, keine
Kraft, keine Lust für das Falsche mehr übrig. Alles Wichtige müssen wir so oder
so selbst finden, um es zu verstehen. Die richtigen Einsichten oder
Gelegenheiten waren schon immer an entscheidenden Punkten der Geschichte da, wurden
oft mitten auf dem Weg präsentiert – eine erfolgversprechende Strategie, um sie
zu verpassen, war vermutlich, eine/n zum Richtigen zu zwingen. Die Flucht vor
allem Echten erklärt die zugrunde liegende: Unterdurchblutete Simulanten können
keine Zeugen der richtigen Ausrichtung des Erwartungshorizonts sein, weil sie
immer nur mitgemacht und nachgeplappert haben, was von ihnen erwartet worden ist
– nicht weil sie wirklich daran glaubten, sondern weil sie davon ausgingen,
ihnen werden dann schon nichts geschehen. Wenn Arendt die erschreckende Banalität
des Bösen beschreibt, im Falle Eichmanns über den Mangel an Gefühl und die Abwesenheit
jeglichen Schuldbewusstseins staunt, weil er nur Befehle befolgt haben will,
wird deutlich, wie gefährlich nachgemachte Menschen werden, wenn sie die
entsprechenden Pöstchen erkrochen haben Tatsächlich müssen wir unsere
Wahrheiten selbst erkämpfen, wenn sie etwas taugen sollen. Die am Anfang noch
harmlosen Fraglichkeiten eines feigen und unfähigen Konformismus verstecken
sich im Ausweichen, in den Surrogaten, in den Simulationen zweiter und dritter
Ordnung, also in Steigerungsformen der Vergeblichkeit, die im schlechtesten
Fall Aufmerksamkeit und Energie ganzer Generationen absorbieren.