Am Taxistand am Bahnhof ergibt sich eine Situation, die mir im Augenblick peinlich ist, weil ich mich trotz meiner beschissenen Voraussetzungen auf einem ausgebrannten ostdeutschen Arbeitsmarkt als Privilegierter bewerbe. Am Bahnsteig schwimme ich erst mal im Strom mit, setze mich direkt hinter den Torflügeln dieses Wilhelminischen Gesamtkunstwerks links ab, um aus dem Gewimmel zu kommen, schaue nach einem Taxi und sehe eine ganze Reihe. Ich gehe über die Straße zum nächstbesten am Ende der Schlange und klopfe an die Scheibe, der Typ döst vor sich hin und schaut mich recht verwundert an. Ich frage, ob ich bis vor gehen muss, oder ob er mich mitnimmt. Der Fahrer schüttelt den Kopf, zeigt bedauernd nach vorne, die Kollegen würden schon viel länger warten. Ich gehe vor, am eigentlichen Taxistand in der Kurve, die wieder auf den Haupteingang des Bahnhofs zuführt, sind sie in zwei Reihen geparkt. Es kommt mir komisch vor, dass immer zwei Leute in den vorderen Wagen sitzen: Warum fahren die dann nicht? Ich schaue mich um, wenn in Stuttgart mal drei Taxen auf einem Platz standen, war das viel und zwei der Fahrer hatten höchstwahrscheinlich noch Nebenverdienste als Zuhälter. Wenn ich Mitte der Siebziger in der Nacht nach Hause wollte, konnte es geschehen, dass einer losfuhr bevor ich einsteigen konnte, vermutlich wegen der langen Haare und der bestickten Flickenjeans. Oder es kam vor, dass einer, während ich schon drin saß, eine Nutte auf dem Beifahrersitz mitnahm und ein paar Ecken weiter wieder absetzte. Aber das ist schon lange her, seit ich mit dir zusammen bin, bleibe ich nachts zuhause. Hier stehen sicher fünfzig Taxen und nichts bewegt sich.

Jetzt sollte ich am Staatsministerium ankommen! Diese armen Arschlöcher haben wohl keine anderen Möglichkeiten und verplempern ihre Tage für ein-zwei Fuhren, während clevere Unternehmer aus dem Westen eine Blechlawine als Abschreibungsobjekte oder Steuersparmodelle verwenden. Ich suche einen freien Wagen, ein Taxi hupt, ein Fahrer macht eine Handbewegung, zeigt nach vorne. Dort geht die Tür auf, ich laufe hin, ein Typ steigt aus und bittet mich lachend, einzusteigen, geht zu seinem eigenen Wagen in die nächste Reihe zurück. Ich nehme den Beifahrersitz, sage nach einer humorvollen Erklärung, warum ich aus der letzten Reihe komme, die Adresse. Der Mann kennt die Archivstraße nicht, holt einen Stadtplan aus dem Seitenfach der Tür, sucht im alphabetischen Straßenverzeichnis und freut sich, als er weiß, wo wir hinfahren werden. Er fordert mich auf, den Gurt zum Anschnallen zu verwenden, fährt dann langsam und gemächlich eine breite Allee runter, über eine recht große Brücke, biegt an der falschen Straßenecke ab, muss nochmal umdrehen, schaltet von sich aus das Tachometer ab. Er fährt mich einmal um den Block 1, kein offizieller Eingang, keine Hausnummer, kein Schild ist zu entdecken. Ich sage dem Taxifahrer, dass ich einfach in das Gebäude reingehe und mich durchfrage, lasse mir mit dem Hinweis, das zahle das Ministerium, eine Quittung über 15 Mark ausschreiben und schenke ihm damit ein paar Mark.

Es dämmert schon wieder, uralte Bäume auf einer kahlen Winterwiese, die leicht zum Flussufer hin abfällt. Der Weg vom Bahnhof bis hier her, eine lächerliche Distanz, unter normalen Bedingungen wäre ich zu Fuß gegangen und nicht viel langsamer gewesen. Vor mir ist ein Gerüst aufgebaut, die mächtigen Türflügel dahinter sehen aus, als werden sie renoviert. Ich gehe noch einmal um das arg verkommene und zu großen Teilen mit Planen verhangene Gebäude, ein gewaltiger Bau mit Seitenflügeln und einer Freitreppe. Fast auf der Höhe, auf der ich ausgestiegen bin, finde ich eine kleinere Tür, die nicht abgeschlossen ist. Die großen Flügel sind alle verbarrikadiert oder außer Funktion, wunderbar gearbeitete voluminöse Fassadentüren, aber schwarz erodiert, voll Vogelscheiße und ohne Beschläge, zum Teil mit Brettern vernagelt. Dann stehe ich in einem Treppenhaus wie in einer Oper, links und rechts um eine Luftsäule, die sich im Unendlichen verliert, ausgetretene Granitstufen mit uralten Mustern, dunkle Eichenholzgeländer, ein gelbes Braun mit fast schwarzen Einschreibungen. Hier hat einst große Geschichte stattgefunden – die Erwartungen, Schmerzen und Ekstasen sind im Material gespeichert. Die Ministerien, die ich auf meinen Botengängen regelmäßig aufsuchte waren durchschnittlich hergerichtet, so gewöhnlich, dass die Beamtenwelt jegliche Repräsentation der Macht zurück gedrängt hatte: Im neuen Schloss waren sogar Zwischengeschosse für die Büros eingezogen worden. Dagegen wirkt der düstere Verfall beeindruckend und erinnerte mich an die Nachtstücke E.T.A. Hoffmanns. Im ersten Halbstockwerk finde ich die Pförtnerloge und sage mein Sprüchlein: ‚Ich habe einen Termin beim Minister Meyer‘. Der alte Mann lässt sich den Ausweis zeigen, notiert die Nummer, gibt mir ein vorbereitetes Kärtchen mit meinem Namen zum Anstecken. Bei den Ministerien in Stuttgart konnte mit diesem Treppenhaus vielleicht der Empfangsbereich im neuen Schloss mithalten, es fehlen eben die Glanzlichter, helle lichte Wände und verspielte Verzierungen, protzige Kronleuchter hätten gepasst. Ich laufe in den zweiten Stock, biege rechts ein, dort ist die Tür des Zimmers 316 – hier scheint überhaupt nichts zu stimmen, das gesamte symbolische Universum ist aus den Fugen. Eine langbeinige Blondine in Jeansblau mit Korallentönen im Makeup wartet vor der Tür, macht einen unruhigen Eindruck, probiert ein-zwei gehetzte Augenaufschläge in meine Richtung. Flirten als Angstbewältigung finde ich uninteressant und das nervöse Gestresse einer Blondine geschmacklos. Kurz habe ich die Assoziation, dass das Neumanns neue Freundin ist. Ich ignoriere ihre zwanghaften Versuche, auf sich hinzuweisen und klopfe, obwohl die daube Schelle so tut, als verstoße ich gegen ein Sakrileg, an der Tür. Als niemand reagiert, versuche ich die Klinke runter zu drücken. Sie wird mir aus der Hand gezogen, die Tür geht auf. Ein Typ um die vierzig schiebt sich an mir vorbei, ein bärtiger Schleimer aus der informalisierten Welt. Er beginnt aus dem Leim zu gehen, scheint aber drauf zu achten, noch in eine adoleszente Hosengröße zu passen. Auf der Uni nannte ich Assistenten, die sich so stylten, Schnecke: Wer kriecht, kommt wenigstens ein bisschen voran – Bildungsadel, seit Generationen aus Lehrer- und Pfarrergeschlechtern gekeltert. Er schiebt sich ausgebremst und auf dem energetischen Nullpunkt an mir vorbei, scheint so hinüber, dass er mich nicht wahrnimmt und nur dem Impuls folgt: Bloß weg! Wenn hier noch mehr von der Sorte auf mich warten, bin ich gerade in der richtigen Stimmung. Solche Figuren spiele ich mit der linken Hand und ein-zwei treffenden Zitaten an die Wand. Ich sehe nur einen der möglichen Gegner, komme nicht auf die Idee, dass das ein Mitbewerber ist. Ich gehe einfach rein, mache ein paar Schritte auf die Sekretärin hinter dem vollgepackten Schreibtisch zu – das entspricht dem westdeutschen Standard in den Ministerien und umso mehr Zeug aufgetürmt ist, um so sicherer kann man sein, dass es sorgfältig ausgesuchte Dekoration ist. Wer so schicke Stapel baut, arbeitet in der Regel nicht mit dem Material. Wenn ich an den fotokopierten Brief denke, den die mir als Einladung geschickt haben, ist davon auszugehen, dass der neue PC mit dem Ganzseitenmonitor schon im Vorzimmer simulieren soll, wie hier auf dem neusten Stand gearbeitet wird. Was könnte ich mit einer solchen Ausstattung alles in Bewegung setzen! Hinter der Barrikade wurstelt eine Kameradfrau mit der Neigung zur grauen Maus eifrig vor sich hin und tut so, als habe sie mich nicht bemerkt. Ich stelle mich vor und weise darauf hin, dass ich leider etwas zu spät dran bin. Sie lächelt erst schüchtern und dann, während meiner Entschuldigung, entgegenkommend: „Nein, Sie sind überhaupt nicht zu spät.“ Sie weist mit dem vorgestreckten Kinn auf die linke Tür: „Drin ist gerade der letzte Kandidat fertig geworden.“

Die Tür ist auf, dahinter ein Gewimmel alter Männer. Eine ältere Frau kommt raus, Frau Delpren ist ein grauer Page. Sie geht mir mit ausgestreckter Hand entgegen und begrüßt mich, als habe sie gerade schon mitgehört. „Von einer Verspätung kann überhaupt nicht die Rede sein, aber das ist immerhin ein Risiko gewesen. Bei einer so knappen Abstimmung läuft man immer Gefahr, dass der Zug nicht rechtzeitig eintrifft.“ Ein Mischtypus, mütterliche Fürsorglichkeit und die Eifrigkeit einer guten Kraft – nur der forschende Blick passt dazu nicht, ein kaltes und rücksichtsloses Ausspähen. Kurz fällt mir das von ihr reservierte Telefonzimmer ein, das Signalement für freundliches Entgegenkommen. Vielleicht hat Neumann in Dresden angerufen und nach den Ergebnissen des Gastmahls darum gebeten, dass sie sich persönlich um mein Wohlergehen bemüht. Dann hätte sie mich nach dem Strickmuster der Debihla schon einen Tag vorher bearbeiten und zermürben können. Als ich Harpprechts rechter Hand einmal helfen sollte, die Stände für einen Juristentag über Nacht in der Liederhalle aufzubauen, legte die Wert darauf, mich um Mitternacht in der Note abzuholen, dem Nachtclub nebenan: Sie hat wohl in Bonn gelernt, welche Wunder der Einfluss von ein paar Stripperinnen wirken kann. Die Delpren hätte dazu auf die Hilfe der Blondine zurückgreifen können, die jetzt zaghaft ins Zimmer getreten ist und offensichtlich in irgendeiner Beziehung zu ihr steht. Sie versucht mit aufgerissenen Augen und manischem Lächeln auf sich aufmerksam zu machen. Ich erwidere lachend: „Ich habe die Bahn angerufen und mir die Zeitpläne der Strecke durchsagen lassen, die pünktlichen Ankunftstermine und die Statistik der Verspätungen. Mir ist versichert worden, bei einer so regulären Bahnverbindung gebe es selten irgendwelche Probleme.“ Ich flachse ein bisschen und habe das Gefühl, dass die auf mich gewartet hätten, und wenn ich eine Stunde zu spät gekommen wäre. Auch dann hätten sie mir zur Demoralisierung eine Schnecke entgegengeschickt.

Sie fordert mich auf abzulegen. Als ich mich umdrehe, den Kleiderständer hinter der Tür ansteuern will, bemerkt sie, dass der schon übervoll ist und führt mich durch die linke Tür. Da steht ein fast freier Ständer, ich darf meine Jacke und den Stockschirm hier deponieren. Eine flauschig ausgepolsterte, graugrüne Lederjacke von C&A, die eigentlich etwas zu groß ist, aber weil am rechten Ellbogen eine lange Schramme war, ist sie von 700 auf 250 Mark runter gesetzt worden. Ich muss mir keine teuren Sachen leisten, jede Mark ist schließlich mit den eigenen Hände erarbeitet, aber dieses feine Stück passt dank ein bisschen Eigenarbeit, nachdem die Schramme mit feinem Sandpapier egalisiert wurde, neben den Wintermantel eines Ministers. Die Delpren wartet hinter mir, führt mich dann rüber in den Gründungsrat. Die Blondine ist mittlerweile neben der Sekretärin am Schreibtisch angekommen und versucht einen Blickkontakt mit der Delpren herzustellen – solche Spiele kenne ich schon. Gerade bin ich nicht bereit, mir mit konkreten Erinnerungen die Atmosphäre vergiften zu lassen. Ich weiß, dass so eine Tute nach einer vergleichbaren Begegnung auf der Uni wie zufällig in meinen VHS-Kursen auftauchte, um mit diskreten Hinweisen auf ihr Herkommen aus der Literaturwissenschaft besondere Zuwendungen zu erpressen. Wie leicht es ist, den mimetischen Imperativ Hilf-mir-bitte! zu übergehen, wenn man kein Bedürfnis verspürt. Du hast mich schon darauf hingewiesen, dass ich nach einem sichernden Blick nicht nur neutral wegschaue, sondern eine Miene mache, als habe das Gegenüber versucht, eine Zuwendung einzufordern. Wenn dann noch was kommt, ist es eindeutig eine Auftragsarbeit. Aufdringlicher und zäher waren die in meinen Kursen auftauchenden Ableger der Geisteswissenschaften, die beim Süddeutschen Rundfunk untergebracht wurden. Vom leidenschaftslosen Verbrauch waren solche Frauen so frustriert und in der Zukurzgekommenheit zurückgestaut, dass sie erst in der Rivalität zu einer anderen Frau warm wurden. Ein Impuls, der sich gewaltig steigerte, wenn sie mitbekamen, dass du mich nach manchen Kursen mit den Hunden abholtest.

Die Delpren weist mir meinen Platz zu, am Fußende der Tischreihen. Die eifrig mit sich beschäftigten alten Männer stecken tuschelnd die grauen Köpfe zusammen, beachten mich nicht. Eine Tischreihe entlang der linken Wand, neben mir noch ein Quertisch, dann eine zweite Reihe Tische an der Fensterseite. Was ist das für eine widerliche Veranstaltung. Diese Figuren haben die grauen Haare an den Schläfen, hinter den Ohren und im Nacken wegrasieren lassen, damit es nicht so auffällt, wie die Gesichter aus dem Leim gegangen sind. Dafür haben sie veritable Nazivisagen zustande gebracht, es fehlen eigentlich nur noch Schmisse. Ein Raum im Seitenflügel eines Schlosses, und dann diese hässlichen Resopaltische und Leuchtstoffröhren. Draußen beginnt es bereits dunkel zu werden, das Licht ist kalt und abweisend. Die Delpren stellt mir, mit dem Satz: „Sie müssen ausgetrocknet sein von der langen Zugfahrt“, ein Glas sauren Sprudel hin, die Flasche lässt sie gleich wieder verschwinden. Ich bestätige das schon deshalb, weil es nicht stimmt – und trinke das Glas in einem Zug leer. Dann ignoriere ich sie, schließe die Augen, sammle mich, beordere die verschiedenen Ichfragmente auf ihren Platz. Den Kanonier lasse ich beide Breitseiten laden, den Harpunierer schicke ich nach vorne an die Reling, das Enterkommando die Takelage hoch und für besondere Zwecke habe ich noch einen mit dem Blick blitzenden Feuerwerker als Lieu-tenant. In den letzten Monaten hatten wir für kleine Medienanalysen die Aufzeichnungen alter James Bond-Filme gesehen. Nicht wegen des Plots, sondern wegen der Ausstattung, englische Stilmöbel in einer mit jedem Film luxuriöser und grandioser werdenden Umgebung. Ich hätte hier gern üppige Kronleuchter und ein festliches Buffet gesehen, geschliffene Gläser, in denen das Licht spielte und die Möglichkeit, ein paar der Quälgeister der vergangenen Jahre mit einer Fernsteuerung vor den Richter zu zwingen: Vielleicht mit den Doors als Hintergrund: When the music is over, turn on the light!

Die ersten Typen gehen an den Tisch zurück, die sind jünger, als sie sich geben, ich glaube Adolf Muschg zu erkennen, Neumann unterhält sich mit Christoph Hein. Die Delpren fragt, ob sie noch ein wenig pausen möchten, der Herr Minister wolle dazukommen, und sie nicken, wenden sich wieder von den Tischreihen ab und verlängern ihre bezahlte Pause – das ist ein Verleugnungsmenuett! Ich lege den Koffer vor mich auf den Tisch, entsichere die Schlösser, nehme mein Päckchen Konzeptionen heraus. Ich habe sieben Thesen in verschiedenen Schrifttypen und Größen mit dem Satzsystem LATEX auf drei Seiten verteilt und nach einer Woche Übung, weiteren Ergänzungen, stetem Schleifen und Bohren sah das sehr gelungen aus. Dann habe ich am Samstag den ausgefeilten Text in meinen schönsten Ausdruck verwandelt – der später dann zur Einleitung des zweiten Bändchens Philosophischer Sperrmüll wurde –, bin in den Copyshop am Rotebühlplatz gegangen und habe für acht Pfennig pro Seite vierzehn Kopien hergestellt und zu Hause die drei Seiten jeweils mit einer Büroklammer zusammengeheftet. Die ganzen Jahre hatten wir die Dinger vom überflüssigen Behördenkram in einer handgetöpferten Schale gesammelt. Es war nicht so einfach gewesen, vierzehn Klammern zu finden, die noch halbwegs neu aussahen und nicht heimlich begonnen haben, vor sich hin zu rosten.

 

Rechts neben mich hat sich ein Typ im grauen Anzug gesetzt, hager und groß, in den Sechzigern, ein markantes Gesicht voller hässlicher Warzen und Hautpolypen. Er schaut neugierig in meinen Koffer, hat die Bücher entdeckt, lächelt mich an, ich nicke freundlich zurück. Er fragt: „Haben Sie Ihr Buch mitgebracht?“ Ich grinse ihn an, der Einband von Glasers Kulturgeschichte hat ähnliche Farben wie das Altpapier – dieser Hund will mich subalternisieren. Er setzt einfach voraus, dass ich geschwächt genug bin, um unser eigenes Buch als Stütze zu brauchen. Aber er weiß immerhin, wie das Altpapier von außen aussieht. Ich frage zurück: „Das Altpapier?“ Er lacht und meint: „Ich wollte nicht fragen, haben Sie Ihr Altpapier mitgebracht!“ Ich unterstreiche die Kennzeichnung: „Doch, Altpapier! Genauso, das ist es!“ Im Hinterkopf habe ich das gerade zwei Wochen alte Angebot unseres Verlegers, dass wir die Restauflage günstig übernehmen könnten, weil der Umsatz eingebrochen sei – das war abgekartet, um mir den Wind aus den Segeln zu nehmen. Sie wollten mir diese Botschaft als Bremshilfe mitgeben und es ist nicht abwegig, dass das Spiel hier schon bekannt ist, denn die Arschlöcher aus Stuttgart haben sich bisher einiges einfallen lassen. Ich tippe den Glaser kurz mit den Fingerspitzen an: „Das ist der Glaser, Kulturgeschichte der BRD. Der erste Band war gut für die Zugfahrt.“ Ich lache ihn an, er lacht zurück. Später, bei der Vorstellung durch die mieseste akademische Ratte, die sie gefunden haben, kann ich ihn dann zuordnen. Das ist Baumgart, der Literaturkritiker der ZEIT – er ist mir nicht einmal unsympathisch, obwohl er versucht hat, seinem Kollegen Harpprecht gleich am Anfang den Gefallen zu tun, mir eine Subalternalisierung reinzudrücken.

Ich habe immer noch meinen Stapel Papier in der linken Hand, die meisten der Figuren sitzen jetzt. Ich wende mich an die Sekretärin: „Ich habe ein Thesenpapier vorbereitet, vielleicht lassen wir den Text erst einmal rumgehen.“

 

Zur Konzeption eines Instituts für Literatur:

Sehr geehrte Damen und Herren, ich darf mich für die Einladung bedanken und möchte Sie für Ihre Aufmerksamkeit mit einer kleinen Nachtmusik entschädigen. Wenn es mir für Augenblicke gelingen soll, Sie vergessen zu machen, warum Sie hier sitzen, werden sie mich dabei unterstützen, zu vergessen, dass ich als literarischer Schwellenkundler an einer Schwelle angelangt bin, die die Literatur immer wieder neu vergessen machen möchte – an der Schnittstelle dieser Ambivalenz wäre meine künftige Arbeit anzusiedeln.

Unter dem Oberbegriff 'Organisationsformen von Lebenserfahrung' würde ich verschiedene Ansätze weiterführen, die sich während der Jahre im Bücherregal ankündigten, und die bei den späteren literarischen und ästhetischen Arbeiten immer wieder präsent waren. (Vorlesungen, Seminare und Übungen mit Gästen aus Philosophie, Soziologie, Literatur- und Sprachwissenschaft, Ethnologie, und Psychoanalyse usw., die sich zu den verschiedenen Themen als fruchtbringend erwiesen haben.)

1. Literatur ist Subversion: Sprache, Macht und Begehren überkreuzen einander und bewirken Induktionen, die sich während der Sozialisation – und vor allem in den modernen Medien – als Abwesenheitsdressuren bemerkbar machen. Ursprünglich scheint die Schrift das Medium des Toten, die Liebe das Medium der Lebendigkeiten, die Macht das Medium der Vermittlung beider – und die gesprochene Rede besorgte gar zu oft, dass Leben und Tod verwechselt wurden. Repräsentation, Warmer Wind und Konsumverhalten sind Verselbständigungen des Vorlustprinzips, die oft genug die materielle Dichte der Welt verleugnen. Zu studieren ist diese Gesetzmäßigkeit vor allem an der der Leidenschaft gewidmeten Literatur: Als Institution der Partnervermeidung setzte sie gegen genealogische und konventionalistische Zwänge unwahrscheinlichste Spielräume frei und eroberte das Unmögliche – leider auf Kosten der menschlichen Möglichkeiten. Heute wäre diese Technik zu überdrehen und als konkrete Beziehungsarbeit gegen die unheimlichen Arrangements von Stillstellung und Ersatzleistung zu verwenden. Das eiskalte Medium der Schrift müsste dem in Hysterien vagabundierenden Tod gewachsen sein.

2. Der Gründungsdirektor eines Fachs, das den gesellschaftlichen Stellenwert in Sachen Phantasie längst an die Medien abgegeben hat, könnte sich dieser Aufgabe als Desillusionist nähern: Die ‚theologischen Mucken der Ware‘ waren tatsächlich Qualitäten des Menschlichen. Ich würde versuchen zu zaubern, bis hinter den kategorialen Verspannungen von Wert und Bedeutung die grundlegenden Verkennungsanweisungen zum Vorschein kommen. Die denkbar primitivste Funktion aller Bildungsgüter und Besitztitel besteht schließlich darin, nichts mit Bildung und Besitz anzufangen – und gerade dieses Nichts wird manchmal zum Hohlraum vor aller Delegierung. Das heißt, Literatur kann man/frau nicht lehren, nicht einpauken, nur leeren – und das heißt ausmisten. Statt zu deuten und zu bewundern, verwenden, vorführen, mitmachen und gewähren lassen.

3. Anregungen für volles Sprechen, Geistesgegenwart, Beziehungsarbeit: Zu einer Theorie des Symbols, die auf die Wirkungsweisen der Macht reflektiert, Verkennungsanweisungen aufschlüsselt, die Narbenschrift der Identität entziffert, Modi des Verpassens kennzeichnet, Möglichkeiten jenseits der Wechselspiele von Autonomie und Souveränität anzielt, die Simulation von Wert und Bedeutung verabschiedet und der Authentizität gewidmet ist. Baudrillards Kennzeichnung der Poesie müsste in den Dienst der Lebendigkeiten treten: ‚Die Arbeit des Signifikanten zur Auflösung des Signifikanten verwenden.‘

(Ansätze bei: Benjamins Sprachtheorie, Adornos Ästhetik, Lacans Symbolbegriff, Jakobsons Poesie und Grammatik, Foucaults Machtdispositiven, Derridas Differenzkriterium, Elias Figurationen, Batesons Transkontextualität, zur Lippes Sinnenbewusstsein...)

4. Literatur als Trauerarbeit: Von der Melancholie zu den kreativen Techniken schneller Brüter; von den Modi des Verpassens, zu Buchstabierkünsten intensivster Nähe; von der Vergangenheitsbewältigung zur Umkehrung des Opferkults. – Der Bann kann gelöst werden, rückwärts buchstabiert, die Urszenen verlieren als bloßgestellte Kriegsschauplätze die Faszination des Wiederholungszwangs.

(Rîtes de Passages, Sozialer Tod, Wiedergeburts- und Todesmetaphern – Medialität jenseits der Subjekt-Objekt-Dichotomie: Schamanismus im Bücherregal, Wildnis im Zettelkasten, Archive der Traumzeit...)

5. Vom Kreativen Schreiben zur Selbsterlebensbeschreibung: Gewohnheiten erleichtern das Leben, Institutionen steigern diese Komplexitätsreduktionen in konventionalisiert befriedeten Nischen – aber sie sperren Lebendigkeiten aus und schränken Erfahrbarkeiten ein, bis vor lauter ersparter Lebendigkeit nichts mehr stattfindet. Also braucht es innerhalb dieser Nischen wieder Asyle, in denen Glauben, Wissen und Können Echtheitsgrade zurückerobern. Die uralte Denkfigur, dass im Verworfenen die Wahrheit zu finden sei, wäre für die Bemühung um Authentizität und Inkommensurabilität in Anspruch zu nehmen. Das hieße, erfahren und formulieren jenseits der Phrasen und Klischees, die Dinge sein zu lassen, sich auf die Sinne einzulassen, Erfahrbarkeiten gewähren zu lassen. Die Vielschichtigkeit in den biographischen Mustern wieder konkret wahrzunehmen; jenseits der Dressur zu Simulanten der Selbstheit auf die kleinen Wahrheiten zu horchen.

(Signifikantennetze, Assoziationsmuster und Metaphorologie, Druck auf der Schwelle und Zeit des Findens, Zivilcourage und unverstellte Wahrnehmung.)

6. Übungen im Dienstleistungsgewerbe: Die Frage ist, wie man/frau von der Literatur leben soll, wenn es sich nachweislich fast nie von der Literatur leben lässt. Das will geübt sein, sonst wird im Ernstfall jeder brauchbare Ansatz durch die Verführungen von Prostitution und Rivalität geschluckt. Übrig bleiben oft abgeklärte Zyniker und Machtprothesen, und das sind nicht die besten, wenn die Besten nachweislich am liebsten auf der Strecke bleiben. Dabei sind in der Literatur genügend Überlebenstricks und Verwirklichungsanweisungen aufbewahrt: Sie müssten so aufgeschlüsselt und ernstgenommen werden, dass sie zum Überleben außerhalb von Instituten beitragen können.

Finanzierungen: Vorstellbar wäre eine Vermittlung von SchriftstellerInnen-Nachwuchs für Messen und Ausstellungen, als Werbeberater und für Mediendiskussionen: Bei solchen Gelegenheiten sind ganz gemeine Erfahrungen zu machen – wie wehrt man/frau sich dagegen, ohne die Lust am Schreiben verhunzt zu bekommen.

Hinterbandkontrolle: Möglich wäre die Einrichtung eines kleinen Dtp-Zentrums, das den Satz der an der Uni anfallenden wissenschaftlichen Arbeiten übernehmen könnte, die Texterfassung für Archive oder Dokumentationen... – und nebenbei könnte die manchmal ewig anmutende Wartezeit, bis ein Manuskript in Buchform umgefüllt ist, durch den Genuss eines Typoskripts in Buchdruckqualität erträglicher werden.

7. Ich komme zum Ende, an dem alles seinen Anfang nehmen könnte. Literatur in meinem Sinne ist Souveränitätstraining: Immer wieder neu müssen die Spiegelsysteme zerschlagen werden, die uns umgeben. Den mimetischen Imperativen fehlerhafter Identitätsstiftungen, den Übertragungsphänomenen in allen zwischenmenschlichen Beziehungen, sollten SchriftstellerInnen gewachsen sein – eine mitleidlose Haltung gegenüber der eigenen Biographie, den Vorlieben und Ängsten, eine rückhaltlose Offenheit, liefern die notwendigen Voraussetzungen. Wenn hausgemachte Sicherheiten wegfliegen und liebgewordene Gewohnheiten zerfallen, treten die aufgeführten Punkte in einer lebensgeschichtlichen Konstellation zusammen. Ein Status der energiegeladenen inneren Leere kann Literatur manchmal zur Wissenschaft des Augenblicks befördern...

Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit!

 

Links von mir sitzt ein Typ, der den Schlagabtausch mit Baumgart freundlich interessiert beobachtet hat. Ich denke das ist Hein, gebe ihm ein Exemplar, eines an Baumgart, Hein beobachtet mich dabei, während ich zusehe, wie Baumgart sofort zu lesen beginnt. In der Deckung hinter Hein hockt Neumann, ich habe gar nicht bemerkt, dass mein Fürsprecher so nahe sitzt. Als die Leute auf die Tische zugegangen sind, hat er sich schräg links von mir postiert, ich habe ihm zugenickt und er hat so getan, als wolle er mich freudig begrüßen und dabei etwas bedrückt gewirkt. Ich habe die Besetzung abgezogen und diesen Miesepeter vergessen, mich auf meinen Auftritt konzentriert. Auch er beginnt sofort zu lesen und ich erwarte eigentlich, dass er den Kopf schüttelt, irgendeine Distanzierung bringt, aber er scheint gebannt und reagiert nicht. Die drei Thesen, die ich ihm mitgegeben hatte, haben nur noch eine entfernte Verwandtschaft mit diesem Text. Die Delpren bietet sich an, den Rest zu verteilen, ich gebe ihr den Stapel, pfeife sie dann nochmal zurück: „Das unterste ist meins, Sie kriegen nur die Fälschung, das ist das Original!“ Sie gibt mir die drei Blätter in der Kunststoffhülle zurück.

Mittlerweile sitzen alle und Baumgart fragt: „Mich wundert, dass ich von Ihrem Buch gar nichts gehört habe?“ Ich antworte, erst zu ihm hin, dann in die Runde: „Mich wundert das nicht! Ein Buch wird gemacht – und die wenigen, die etwas dafür hätten tun können, haben beschlossen: Da macht man nichts! Und ein paar aufgrund des Inhalts Betroffene, es ging in diesem Fall nur ex negativo um den Inhalt, sind dann sogar aktiv geworden und haben die Losung ausgegeben: Totschweigen!“ Baumgart bleibt sympathisch dran, hat in der vierten Zeile den Terminus 'Literarischer Schwellenkundler' aufgepickt: „Schwellenkundler, ich denke da an den Chinesen des Schmerzes?“ Ich schüttle den Kopf und meine: „Ne, Handke ist es nicht – ich bin von Benjamin ausgegangen...“ Baumgart lächelt und meint: „Ja, das weiß ich...“ „Und ich habe mich so intensiv mit Benjamins Schwellen und Passagen befasst, dass irgendwann der Umschlag stattfand und ich feststellte, dass die wichtigsten Geschichten immer auf der Schwelle stattfinden, dass ich intuitiv schon seit meiner Verführung ein Schwellenkundler bin. Und als ich die Anzeige gelesen habe, dachte ich mir, warum sollte nicht all das, was ich die letzten Jahre gegen erhebliche Behinderungen durchsetzen konnte, innerhalb eines institutionellen Rahmens geduldet, vielleicht sogar gefördert werden und damit manchem anderen dann von Nutzen sein.“

Der Vorsitzende am gegenüber liegenden Ende der Diagonalen beginnt zu sprechen. Ich wende mich von Baumgart ab und ihm zu. Er ist viel zu leise, flüstert fast und nuschelt dabei. Ich unterdrücke den Wunsch, ihn zu fragen, ob es ein bisschen lauter geht und beuge mich vor, hänge über meinem Tisch und kneife die Augen zusammen, um besser zu hören. Eine widerliche Physiognomie, ich weiß irgendwas von einem Wechsel in den Westen, er hat Sprachwissenschaften unterrichtet. Schädlich wurde von Grass protegiert, ist an einer Akademie untergebracht worden. Das ist alles nur verwaschen und ungenau – aber es passt zu dieser Selbsteinführung so gut, dass ich seinen Namen für Tage verdränge und er mir erst einfällt, als ich bei dem auf deine Selbstzweifel bezogenen spontanen Ausruf: ‚Das ist nur schädlich!‘ plötzlich wieder weiß: Das war doch dieses Arschloch. Er führt die absolute Selbstdementierung vor und dabei ist zu sehen, dass er gutes Essen und einen ausgesuchten Tropfen geniest, dass er einer ist, der sich in harmlosen Zusammenhängen gern selber reden hört. Ein Bildungsbeamter, der vielleicht über das Ende des Individuums doziert, aber die eigenen Bedürfnisse über alles stellt.

Hans Joachim Schädlich betont: „Wir können jetzt anfangen. Ich möchte, wie bei den anderen auch, damit beginnen, Ihnen die Runde vorzustellen.“ Die Delpren ergänzt: „Der Minister kommt später!“ Schädlich nickt, mich wundert, dass er nicht sabbert und sagt: „Dann beginnen wir jetzt.“ Er zählt Namen auf, mit denen ich in den meisten Fällen nichts zu verbinden wüsste, wenn ich sie richtig hören würde – bis zu mir rauschen nur unscharfe Lautbilder her. Ich versuche die jeweiligen Gesichter zu fixieren. Die Figuren in dem Grüppchen um ihn herum, links zwei und rechts drei, schauen nicht einmal zurück, sie machen Dienst nach Vorschrift. Auf der linken Seite der dritte guckt interessiert, das ist Muschg, und neben ihm der Rektor der Uni Leipzig wirkt sogar positiv neugierig. Ich wusste ja nicht, wer mich erwartet, aber intuitiv habe ich in den Thesen Zitate von Muschg und Hein abgewandelt.

Schädlich schlägt vor: „Sie haben zwanzig Minuten, um Ihre Thesen vorzustellen und zu erörtern. Dann bleiben zehn Minuten Zeit für die Teilnehmer des Gründungsrates, die dann Fragen haben.“ Er gibt sich als perfekter Organisator, aber ich stelle in mir als Leichenwäscher vor und finde es unwürdig, so einem Mehrfachbehinderten die Regie zu überlassen. Ich wende ein: „Eine sinnvolle Nutzung der knappen Zeit habe ich mir ein bisschen anders vorgestellt! Ich schlage vor, ich improvisiere über den vorliegenden Text, lesen können Sie schließlich selbst. Ich habe geübt, Teilnehmer hochzureißen und mitzuziehen – wenn der Kauf einer Kurskarte über das Angebot entscheidet, muss man während der Kurse andere Register ziehen, als wenn die Steuergelder garantieren, dass auf Aufmerksamkeit und Interesse keine Rücksicht zu nehmen ist! Ich habe die Erfahrung gemacht, dass ich nicht zu lange vom Blatt lesen darf, sonst ist mancher schon weggetaucht und für mich nicht mehr erreichbar. Eine Improvisation ist die beste Voraussetzung, um Teilnehmer zu bannen und ich denke, vor einem solchen Gremium sieht das nicht anders aus.“

Schädlich hat nur vor sich auf das Blatt geschaut und keine Regung gezeigt, der Kopf hängt lasch vornüber. Nun hebt er ihn ein bisschen, scheint über seine halbrunde Brille zu blinzeln. Es ist ekelig anzusehen, wie da alles hängt, die Backen, die Tränensäcke, die Stirnfalten, ein typischer akademischer Hänger. Er tut nur seine Pflicht und weiß, wie er reagieren muss, wenn er damit rechnen will, dass sein möglicherweise im Sommer erscheinendes Buch mit dem nötigen Wohlwollen zu positive Besprechungen kommt, die dafür sorgen werden, dass es von einem interessierten Publikum angenommen wird. Das ist die Freiheit des Geistes und das Schicksal seiner Verkörperung. Leise und irgendwie gelangweilt, aber mit einem gedehnten Ton auf der Zunge, der mich an eine verwöhnte Millionärstochter erinnert, die nicht landen und die Kränkung, dass sie verschmäht worden war, nicht einfach verbergen konnte, meint er: „Ja, wenn Sie wollen, machen wir das so.“

„Danke schön, das ist mir recht!“ Ich unterstreiche das Entgegenkommen und beginne mit meiner Einleitung. Ich spiele mit dem Text und nehme das Stichwort Kleine Nachtmusik auf: „Wir haben es mit den Themen der Nacht zu tun! Die Nacht und das Licht sind die beiden Seiten ein und derselben Medaille – schon hier ist an die großen Themen der Dialektik der Aufklärung zu erinnern. Sie kennen alle das Bild Goyas, der Schlaf der Vernunft gebiert Ungeheuer, und im Gefolge der Aufklärung war immer interpretiert worden, die Vernunft müsse wach sein, um die ihr fremden Fledermäuse und Vampire fern zu halten. Seit den 20er Jahren wird hin und wieder darauf hingewiesen, dass die Vernunft selbst die Ungeheuer produziert, sie sind ihre Rückseite. Die Ratio, die den Kontakt zur Logik des Herzens und zu den Wahrheiten des Körpers verloren hat, ist eine Todesmaschine, das Ungeheuerlichste ist vielleicht sogar ihr institutionalisiertes Ritual. Die Konzentration des Kapitals, der menschenverachtende Formalismus und die Bürokratisierung der Welt sind Resultate einer eindimensionalen Rationalität, die im Extrem bis zur Verwertung der menschlichen Reste in den Konzentrationslagern geht oder zu der der Letztmaterie in den Favelas.“ Ich nicke Baumgart zu: „Das steht schon im Altpapier.“

Ein Einfall, der mir im Zug gekommen ist. Ich habe die Beschäftigung mit der Malerei schon lange beiseitegelegt – etwa 1982 hatte ich aufgehört zu malen und seitdem interessierten mich auch keine Bilder mehr, die andere gemalt hatten. Aber aus irgendwelchen Gründen haben einige personale Instanzen die Notwendigkeit gesehen, eine Armatur zusammenzustellen, in der die verschiedensten meiner Prägungsmuster präsent sind. Die große Goya-Ausstellung hatte ich in Den Haag 1970 gesehen, das war die im Altpapier aus Platzgründen weggefallene Fahrt nach Holland mit meinem Päderasten – er hatte mir ein paar Kunstpostkarten gekauft. Den Koloss und die Panik hätte ich in den folgenden Jahren gerne immer wieder verschickt, wenn ich nur ein paar mehr zur Hand gehabt hätte, ich identifizierte mich mit dem Koloss. Diese Reminiszenz ist hier aus Gründen, über die ich mir im Augenblick, selbst wenn ich wollte, keine Rechenschaft ablegen kann, wieder präsent. Schon während des Zitats Schlaf-der-Vernunft beginnt mich die Delpren anzulächeln, richtig beglückt – ich habe zufällig später zwei Dokumentationsbände auf den Flohmarkt gefunden. Das Ergebnis einer Veranstaltung in Ostberlin zum ‚Traum der Vernunft‘, die Mitte der Achtziger Jahre in der Akademie der Künste stattfand. Ich denke an das Telefonzimmer und sage mir, dass eine solche Vereinnahmung nichts mit ihrer antifaschistischen Gesinnung zu tun haben muss, sondern einem klaren Auftrag gehorcht. Vielleicht ist ihr gerade wieder eingefallen, dass wir im sexischen Mysterium sitzen. Wenn ich so schwach bin, dass ich mich an jedem freundlichen Blick wie ein Ertrinkender an einem Strohhalm festhalten muss und auf die Anerkennung einer Sekretärin angewiesen bin, werde ich die ranghöheren Anwesenden a priori nicht erreichen. Ich schaue Sie kurz fragend und neutral an, während ich weiterspreche und sehe dann durch sie hindurch. Die folgende Zeit bemerke ich sie nicht mehr, das ist ein Automatismus, ich muss nichts dazu tun, sie ist nicht mehr da.

Ich improvisiere über das Stichwort Subversion, schaue die Leute dabei an, merke, wie Muschg aufmerksam wird – mir fällt auf, dass die Physiognomie der Schlaffers sehr ähnlich ist. Ich lächle ihn an, während ich rede, er schaut interessiert, ein Ansatz von Wohlwollen... Die Tür hinter mir geht auf, ich höre Schritte, rede leiser, unterbreche mich, deute eine viertel Drehung mit dem Oberkörper an, aus den Augenwinkeln ist der Minister ein dünner großer Mann in Grau. Er sagt: „Lassen Sie sich nicht stören.“ Das tue ich und grüße ihn nicht, spreche einfach weiter. Ich nehme nebenbei das bei Baumgart liegende letzte Exemplar, warte kurz, bis der Minister schräg links hinter mir sitzt und lege das Thesenpapier mit einer sanften Handbewegung zu ihm hin. – Diese Ärsche versuchen wirklich die primitivsten Tricks, um zu stören, mich zu subalternisieren. Der Minister beginnt zu lesen, und ich reite weiter auf dem Stichwort Subversion rum – Baumgart macht sich eifrig Notizen.

„Das seit Petrarca und Dante grundlegende Schema der abendländischen Literatur ist die Partnervermeidung. Das Erhebungsmotiv resultiert aus einer Sublimierung der Geschlechterspannung. Diese Gesetzmäßigkeit ist fast so fundamental, wie der Kantische Schematismus, in dem Unvereinbares zusammen gezwungen wird – und genau das Schema lässt sich mittlerweile dank Beckett bis ins Absurde überdrehen und plötzlich ist damit die Möglichkeit einer intensiven Nähe gegeben. Schon die Frühromantiker sind über diese Plötzlichkeit gestolpert, ich habe es im Altpapier mit meiner Freundin geübt, mittlerweile ist sie meine Frau. Die Chance der Literatur gründet heute in ihrer Überflüssigkeit, in dieser gesellschaftlichen Nische kann ausgearbeitet werden, was gesellschaftlich vorgegeben die Unmöglichkeit der Alternative heißt. Gäbe es eine, würden dafür keine Reservate subventioniert, aber gerade weil es keine gibt, müssen die verschiedenen Ableger des Prinzips Hoffnung liebevoll auf institutionalisierten Intensivstationen gepflegt werden.“

Ich schaue in die Runde, es gibt ein paar Ölgötzen und zwei-drei Leute, die sich Notizen machen, Neumann ist so gut wie nicht vorhanden, während Muschg sehr intensiv zurück schaut. Zum Thema Selbsterlebensbeschreibung spanne ich einen Bogen von Jean Paul zu Lacan, führe dann zum Punkt drei die ästhetischen Fundamente der Mimesis vor. Ich will gerade unterstreichen, dass es nicht nur Nachahmung gibt, sondern auch Vorahmung, und dass diese vor allem als Machtmechanismus der Verführung eingesetzt wird, als Schädlich wie ein Schulbub die Hand hebt und so tut, als wolle er etwas fragen. Ich unterbreche sofort, und er sagt: „Im Sinne der Gleichberechtigung mit den anderen Kandidaten muss ich jetzt darauf hinweisen, dass Ihre zwanzig Minuten um sind.“ Ich werde straff, während mir das Blut in den Kopf schießt, richte ich mich immer steiler auf, bin kurz vor dem explodieren, halte mich am Tisch fest, um nicht aufzustehen. Mühsam nicke ich mit zusammengepressten Lippen, sage dann mit einem Timbre in der Stimme: „Ja, O.K.“ – So fühlt es sich an, wenn man in voller Geschwindigkeit gegen eine Wand fährt. Ich schaue schräg über die Tischkante vor mich auf den Boden, sehe fast nichts, einen hellen Fleck, der an den Rändern des Gesichtskreises matter und schummriger wird, beginne gleichmäßig tief zu atmen, mich zu sammeln und lade Kraft.

Bisher habe ich das Programm bestritten, dann sollen die mal kommen, ich warte ab. Eine Zeitlang herrscht Stille, dann räuspert sich Muschg und meint: „So finde ich das unbefriedigend.“ Ich schaue ihn an und muss grinsen, der scheint der eigentliche Moderator zu sein, die anderen Dumpfbacken meinen, sie könnten sich drunter wegducken und einfach so tun, als seien sie nicht anwesend. Doch wenn ein Spannungslevel steigt, ist es immer eine Frage der Zeit, wann die ersten Blitze freigesetzt werden und das werden Klügere zu meiden wissen.

Der Vorsitzende Schädlich hüstelt und beginnt vor sich hin zu nuscheln, schließlich rappelt er sich zu einem Kompromiss auf: „Dann würde ich vorschlagen, wir stellen jetzt die Fragen und beziehen uns vor allem auf die Punkte, die noch nicht zur Sprache gekommen sind.“

Einer der Grauköpfe fragt nach einer kürzeren Pause: Wie stellen Sie sich die Arbeit im Institut vor?“ Ich habe mir nicht gemerkt, wer er ist, referiere meinen Punkt sechs, lege vor allem Wert auf den Aspekt der Unabhängigkeit: „Das Institut soll selbst Umsätze erwirtschaften: Als Druckzentrum, als Künstler- und Schriftstellerverleih, aber vor allen Dingen als Anzeigenagentur. Schließlich können alle Erzeugnisse und jeder Schritt in die Öffentlichkeit damit verbunden werden, für die entsprechenden Firmen und Institutionen einen zusätzlichen Werbeträger zur Verfügung zu stellen.“ Er lächelt freundlich vor sich hin und lässt mich reden.

Muschg meldet sich wieder und fragt: „Wollen Sie den Rahmen wie im Zen-Buddhismus dazu verwenden, intern den Rahmen abzubauen?“ Ich verstehe ihn zuerst nicht – welcher Hohn, ich empfehle mich durch Techniken des Verstehens. Das hat einen Wahrheitswert: Er tut so, als bemühe er sich, mich zu verstehen, und ich verstehe seine Vorgehensweise nicht. „Ich denke an das Unternehmen der Frühromantiker, am Gebäude durch Abbruch zu bauen und lehne den Bezug auf irgendwelche verschüttet gegangenen Traditionen ab. Der institutionelle Rahmen sollte mir die Möglichkeit geben, gewähren zu lassen, zuzuhören, einzugehen, die Leute zu lesen und lesen zu lassen, vor allem aber, mich darauf einzulassen.“ Muschg will sofort wissen: „Wie stellen Sie sich das vor, würden Sie Texte auch mehrfach durcharbeiten? Wären Sie bereit, dran zu bleiben und danach, wenn alles Wichtige gesagt worden ist, die Sache erneut anzukurbeln, zu lesen, zu empfehlen, zu kritisieren aber auch zu fördern?“ Ich unterstreiche: „Genau das ist es, das wäre meine Aufgabe: Auf repräsentative Veranstaltungen können gern die anderen gehen. In Ausnahmefällen gibt es das schon, wenn ein guter Lektor die entscheidenden Stellen aufzeigt, die richtigen Anregungen und Anstöße liefert, und dem Autor zugänglich macht, was davor nur im Text geschlummert hat. In den vergangenen Jahren meiner Kurse zum Creative Writing habe ich das bei meinen Teilnehmern immer wieder versucht. Oft drängen hinter Wortassoziationen und formalen Schwierigkeiten Erfahrungscluster ans Licht, manches wartet schon ewig, und ein richtiges Wort, ein genauer Einwand, ein heilsamer Schnitt in die vorliegende Textur, kann einen Bann brechen. Das ist dann die Aufgabe, von der ich denke, dass es meine sein könnte.“ Muschg lächelte bestätigt und lehnte sich zurück.

Irgendeiner der Grauköpfe will wissen, wie ich das konkret machen will. Ich antworte: „Laut vorlesen und leise nachlesen, zu festgesetzten Stunden vorlesen lassen, in verschiedenen Umgebungen – der Autor muss verschiedene Stufen der Entfremdung vom eigenen Text durchlaufen. Außerdem ist es immer wieder gut zu erfahren, dass man mit seinen Schwierigkeiten nicht allein ist, dass die anderen nicht weniger ringen, dass es unendlich viele Perspektiven für einen und denselben Sachverhalt gibt. Zum spielerischen Üben den Wechsel der Perspektiven zwischen kosmisch und komisch, wie schon von Jean Paul empfohlen.“

Schädlich fragt wie der letzte Institutionskrüppel dazwischen: „Wie würden Sie die Teilnehmer auswählen?“ Ich erwidere: „Das ist nicht mein Problem, dafür gib es genug Institutionen, die nur darauf warten, ihre Auserwählten zu schicken, das kann gar nicht meine Sache sein. Ich würde dann auf die Leute achten, die in der Lage sind, sich auszusetzen, die sich ohne Netz und doppelten Boden auf das Abenteuer einlassen, einen Deckel auf einer Schachtel ohne Wände zu befestigen.“ Schädlich drängt auf einmal: „Und wie sieht Ihre Vorstellung der Konzeption wirklich aus?“ Ich schaue ihn nur erstaunt an und warte ab, lasse ihn spüren, was für einen Idioten er darstellt.

Ein Grauer muss ablenken und fragt: „Was können Sie den Autoren bieten?“ Ich vergesse Schädlich und wende mich ihm zu: „Souveränitätstraining und den institutionellen Rahmen für Veröffentlichungen. Keine Prüfungen, keine Seminarscheine, davon halte ich nichts. Aber die Möglichkeit, durch Jahrbücher, eine kleine Schriftenreihe des Instituts oder eine eigene Literaturzeitschrift zu brauchbaren und vorzeigbaren Veröffentlichungen zu kommen – mit ein bisschen Glück wären Kontakte zu den renommierten Verlagen zu pflegen.“ Muschg beobachtet mich dabei und unterstreicht diesen Ansatz, macht sehr positive Zeichen.

Schädlich als Vorsitzender meint, er müsse insistieren und fragt wieder: „Wie sieht die Konzeption aus, was können Sie vermitteln? Ich tippe auf das Papier: Das steht hier!“

Ein Grauer fragt nach den Punkten Schriftstellerleasing und Promotions. Ich erwidere: „Alles, was im Institut produziert wird, ist auch als Werbeträger geeignet. Es würde mich nicht stören, McDonalds als Sponsor einer Schriftenreihe zu gewinnen oder Volkswagen für einen in jedem Sommer stattfindenden Open-Air-Dichterwettstreit. Außerdem beinhaltet der Aufenthalt am Institut, dass jeder die Möglichkeit hat, als Repräsentant auf kulturellen, wirtschaftlichen oder politischen Events zu erscheinen – und das ist etwas, auf das viele sehnsüchtig warten, weil sie es von sich aus nicht trauen. Ob als Clown oder als Zauberpriester, in den Medien, auf den Messen, bei den Werbern usw. können Autoren ganz effizient vermarktet werden. Sie müssen sich nur in Szene setzen, egal welche Show gerade läuft – und dazu kann die Legitimation durch das Literaturinstitut helfen. Wer nicht will, muss nicht… Wer allerdings Lust hat, kann für das Institut Umsätze erwirtschaften und dabei gewisse Schwellenerfahrungen machen: Diese Schwelle ist eine der gesellschaftlichen Eintrittspreise! Das heißt, dass ein Autor, gerade weil er Freiheitsspielräume verkörpert, die die anderen sich nicht leisten können, auf dauernde Subalternisierungsversuche trifft, die signalisieren sollen, dass er nur anerkannt werde, wenn er bereit sei, eben diese Spielräume zu verraten. Das ist eine echte Schule des Geistes, wenn man sich nicht in die Schuld des Mitläufers einkaufen lässt. Erfolg und Anerkennung taugen wenig, wenn ich die Subalternität mit jenen teile, die nur ans Geldverdienen gedacht haben, sofern sie überhaupt denken können.“

Muschg meldet sich kurz und meint irgendwas im Sinne Souveränität fördern. Ich merke am Ton, dass etwas nicht stimmt, er hat meine Stichworte wiedergekäut, aber es klingt nicht echt, eher so, als wolle er mich vereinnahmen, mir den Bundesgenossen anbieten, obwohl die unechte Reproduktion meine Aussagen zu Phrasen stempelt. Er will wohl testen, ob ich schon so weit bin, dass ich mich auf einen Verbündeten stützen muss – das ist dasselbe Spiel, das Baumgart zu Beginn probiert hat. Ich schaue ihn freundlich an, mache eine totale Kehrtwendung: „Ich habe nur von Souveränitätstraining gesprochen, die Souveränität liegt jenseits unserer Möglichkeiten. Dann sage ich leise und ohne die vorige Power, fast neutral: Und wenn es nur eine Spielwiese für kreative Eigenarbeit wird, dann bringt das was.“ Muschg sieht ein, dass er mit diesem Trick nicht landen kann. Wenn er vorahmt, dass ich mit seiner Unterstützung rechnen kann, signalisiert er, dass ich mich unter der Perspektive der Unterlegenheit sehen soll und auf solche Manipulationen reagiere ich allergisch. Vielleicht habe ich deshalb schon mehrfach nicht verstanden, was er gesagt hat. Er lehnt sich neutral zurück, chinesische Mimik, ausdruckslos.

Einer der Grauköpfe möchte genaueres über meine Einschätzung der Situation junger Autoren wissen. Ich steigere sofort wieder: „Das habe ich vorhin schon angedeutet. Vor allem müssen sie lernen, sich nicht mit Simulanten der Selbstheit zu relativieren. Es ist kein Geheimnis, dass die höheren Chargen in den Medien Hohlköpfe sind, fürs Denken werden sie nicht bezahlt, sondern für die Machtausübung. Je höher die Machtposition, je ausgearbeiteter ist die Armatur, um fiese Subalternisierungen einzusetzen und solche Nebensächlichkeiten wie Selbstachtung und Produktionslust für nichtig zu erklären. Ich bin der Ansicht, man kann Autoren firm machen und rechtzeitig auf die gängigen Machtspiele vorbereiten. Also eine Form der modernen Personalführung im umgekehrten Sinne, Managertraining für Autoren, damit sie lernen, wie viele Techniken des Selbstmanagements und Reinforcements es gibt. Praktisch die meisten Machtpositionen werden von Simulanten eingenommen, de facto werden Charisma und Überzeugungskraft von einem gewieften Schauspieler besser inszeniert, als von einem von Selbstzweifeln geplagten Ich-bin-zu-gut-für-diese-Welt.“

Der Typ lacht weich und flüssig, eine angenehme Lache, aber er versteckt sich, ich kann nicht sehen, wer es ist. Ich spreche in die Richtung dieses Lachens: „Mein inniges Verhältnis zur Literatur beruht vielleicht darauf, dass ich 1975 zufällig einen Job als Packer und Bote im Buchhandel vermittelt bekam. Morgens hatte ich zwischen sechs und acht eine halbe Tonne Bücherkisten vom Hof in den Laden zu tragen und auszupacken. Im Laufe des Tages transportierte ich sie in die einzelnen Abteilungen oder hatte sie dann zu den Kunden und das waren Kanzleien und Ministerien, zu bringen. Die materielle Nähe, das Gewicht der Bücher, die Gelder, die damit in Bewegung gesetzt werden, haben mich überzeugt – die Idee Philosophie zu studieren, stellte sich erst ein halbes Jahr später ein. Ich hatte in diesem Zusammenhang die Möglichkeit, ganz nah an die Literatur ranzukommen, mich nicht durch die Statistik der großen Zahlen abschrecken zu lassen. Und nachdem mich während einiger Lesungen das Phänomen des Fremdschämens überfallen hat, war die Selbstinszenierung für mich erledigt. In den fünfzehn Jahren, die ich dort jobbte, habe ich dank günstiger Buchhändlerrabatte eine Tonne Bücher bis nach Hause getragen.“

Jetzt sehe ich den Grauen, sympathetisch lacht er wieder, ein asketischer Mund, ganz dünne Lippen, aber volle Backen. Er hat die sprechenden Augen und die offene Stirn von jemand, der sich gern selbst reden hört – ich vermute, dass das der Rektor der Uni Leipzig ist, also ein möglicher Vorgesetzter. Schädlich hat die Namen der Figuren neben Muschg so schludrig genuschelt, dass ich nichts verstand, aber vermutlich ist das der Rektor.

Neumann will endlich was sagen, er zögert und verhaspelt sich. Er duzt mich an und muss dann an die Runde gewendet, fast entschuldigend und umständlich erklären, dass wir uns am Sonntag auf das Du geeinigt haben. Ich nicke neutral und schaue woanders hin, das ist wieder ein Versuch, mich auf einen falschen Verbündeten zu fixieren. Es ist mir egal, wie er mich anspricht, aber es stört mich, wenn er hier meine Zeit verplempert; für nichts, das braucht Minuten, und dabei sagt er nichts. Nach einer kurzen Pause, als habe er Mühe, die richtige Formulierung zu finden, fragt er: „Wie denkst Du, ist die Gefahr der Scharlatanerie, was machst Du bei Scharlatanen?“ Er druckst noch eine Weile rum, als sei das ein besonderes Problem, und ich denke an einen Spruch meines Alten: ‚Der, der’s zuerst gerochen, dem ist er aus dem Arsch gekrochen‘.

Ich korrigiere auch noch Neumann. Später wird mir bewusst, dass ich alle korrigiert habe, die versuchten sich anzubiedern, um mir zu einer Rolle zu verhelfen, die mich handhabbar gemacht hätte, verfügbar, erpressbar – um mich im schlechtesten Fall mit der Beurteilung ‚subaltern‘ nach Hause zu schicken. Ich erkläre: „Eine solche Fraglichkeit und Unterstellung ist in der Literatur mit besonderer Vorsicht zu handhaben. Die Literatur ist eine Enkelin der schamanistischen Erfahrung, und da waren die Übergänge von Authentizität und Simulation fließend. Ethnologie und Anthropologie zeigen noch heute, dass der Mensch aufgrund seiner Konstitution ein Scharlatan ist: Er spielt sich was vor und glaubt dann daran. Was wir Wirklichkeit nennen, ist nur das Resultat solcher Glaubensanstrengungen – aus diesem Grund ist für den normalen Psychiater einer, der den Wahn simuliert, automatisch ein Wahnsinniger. Gerade die Literatur zeigt: Die luftigsten Phantasien einer Generation werden über den Umweg der Literatur zum Realitätsprinzip der nächsten. Wenn ich einen Spruch der Bibel variiere: Die Väter haben saure Trauben des Verzichts gegessen und die Enkel quälen sich dann mit der Ersatzbefriedigung ab. Das beste Beispiel ist wieder einmal die Romantische Liebe als Partnervermeidungsstrategie. Als Ausgeburt der Schreibe Dantes und Petrarcas, wird sie über die mimetischen Rivalitäten entmachteter und schwuler Edelleute zu einem Gesellschaftsspiel, und seit der Goethezeit ist sie das Thema Nummer eins für Lieschen Müller, heute für den Hollywoodfilm. Dennoch bietet gerade die Literatur die Chance, solchen Gesetzmäßigkeiten auf die Schliche zu kommen, dann erledigt sich mancher Simulant von allein, man muss ihm nur die Chance einräumen. Es gab manchen in unserem Jahrhundert, der meinte, er müsse ganz ergeben seine Pflicht tun, mancher hat ganz seriös der Vernichtung zugearbeitet, weil die Opferpriester des Staates dies vorgegeben hatten. Dann stellte sich heraus, dass es nur Schund und Verbrechen war – eine Reeducation macht aus Mitläufern tatsächlich nur Mitläufer! Die Banalität des Bösen widerlegt keinen Simulanten der Selbstheit, wenn die letzte Wahrheit fordert, dass andere dafür bluten müssen. Adolf und Erich lassen grüßen! Und demgegenüber gab es Spinner und Phantasten, Leute die zu allererst nur an ihren Traum dachten, an kein Volkswohl und an keine Staatsreligion, die ganz asozial versuchten, einen Spleen zu leben – und später zeigte sich, dass die echt waren und Brauchbares geschaffen haben, ein Werk, das heute noch lebt. Die Hohepriester der deutschen Volksseele sind wie die Elaborate des ostdeutschen Kommunismus unter der Schamschwelle der Dummheit verschwunden.“ Ich denke an den Dachdecker, der sich mit faschistoiden Methoden die Anerkennung seines Antifaschismus erpresste, an den Neumann aus Elf Uhr, der in seiner Frühstückspause auf Parkbänken, in Keller oder Wartehalle in sechs-Pfennig-Hefte kritzelt – und was ich denke, kommt rüber, das sehe ich an seiner Leichenbittermiene. Ich schließe mit der Zusammenfassung: „Also gerade im Rahmen Literatur ist der Begriff Scharlatanerie mit besonderer Vorsicht zu benutzen. Wenn ein Autor etwas kann, dann ist das nur zum Teil Handwerk. Die Entgrenzungen seiner Stammväter wollen in eine Präsenz verwandelt werden. Das geht nur, wenn er als Schamane auf den Schwellen der Bücherwelt Grenzüberschreitungen übt.“

Der Vorsitzende meldet sich wieder, zaghaft wie ein Schulbub, diesmal bin ich schon vorgewarnt. Der Minister hinter mir steht leise auf und verschwindet durch die linke Tür. Schädlich meint: „Ich weiß nicht, ob ich Sie darauf hingewiesen habe, dass Sie auch Fragen stellen dürfen?“ Ich schaue ihn an, ganz neutral und desinteressiert. Er meint: „Ah ja, das hatte ich schon gesagt. Dann Herr Musik, muss ich Ihnen, wie den anderen Kandidaten auch, leider sagen, dass wir Sie zu gegebener Zeit über unsere Entscheidung unterrichten werden.“ Ich lächle diesen Nachtwächter meiner Schwelle ungerührt an, sage: „Okay.“

Die Leute beginnen aufzustehen, das sind normale Lebensgeräusche, Füße scharren, Stühle werden gerückt, ein Gemurmel und Gesumme füllt den Raum, erst jetzt fällt mir auf, wie unnatürlich still es die ganze Zeit war. Ich lege den Koffer auf den Tisch und entsichere die Schlösser, packe den Text ein, klappe den Deckel zu. Ich fühle mich gut, bin in der Stimmung: Das ist geschafft! In dieser positiven Woge gehe ich ins Vorzimmer. Neumann ist plötzlich an meiner Seite, spielt wieder den Bedrückten und nuschelt irgendwas, heuchelt Bedauern. Ich nehme das im Augenblick nicht wahr, habe ein sattes Körpergefühl, sitze in einem voluminösen Machtempfinden und bin nicht bereit, mir von diesem Schleimer irgendwas zerreden zu lassen. Ich gehe in Richtung meiner Jacke, als Neumann fragt: „War's sehr anstrengend?“ Ich lache ihn aus: „Ne, gar nicht!“. Er verschiebt sofort den Akzent: „War die Bahnfahrt sehr anstrengend?“ „Ne, das ging gut, wenn mich was angestrengt hat, dann das Gespräch am letzten Sonntag. Ich habe noch am Montagmittag dran geknabbert.“ Er antwortete: „Ja, das war ein gutes Gespräch, wir haben alle wesentlichen Punkte besprochen. Dagegen war das heute den ganzen Tag schon nichts...“ Ich unterbreche ihn lachend und laut: „Na ja, ich hab den zeitlichen Rahmen vergessen, hab ich nicht dran gedacht.“ Er nuschelt: „Ja, darüber hätten wir reden müssen.“ Das ist eine ganz verlogene feige Ratte. Anhand seiner Reaktion kann ich davon ausgehen, dass er nicht mit solchen Vorgaben, mit einem solchen Verlauf gerechnet hat – das macht mich optimistisch.

Die Delpren kommt von hinten angewuselt, eine ganz eifrige Sekretärin, die die Chance nutzen soll, mich runter zu reißen: „Herr Musik, Sie schicken mir die Belege für die Fahrtkosten zu, die Kontonummer nicht vergessen!“ Ich drehe mich um, schaue sie kurz ein bisschen zerstreut an, so als müsse ich mir klar machen, wer das ist, und bediene dann die Konvention: „Aber ja, das werde ich Ihnen alles schicken.“ Ich gehe weiter zu dem Raum, in dem meine Jacke und der Schirm hängen. Die Tür ist zu. Neumann bleibt an meiner Seite. Ich frage die junge Sekretärin: „Kann ich da einfach reingehen?“ und die Frau erwidert: „Der Herr Minister telefoniert gerade.“ Die Delpren rennt zur Tür, scheint sie aufmachen zu wollen und bleibt im Rahmen stehen, blockiert den Durchgang, die Klinke in der Hand. Ich lächle sie an und sage: „Dann hol ich das Zeug später.“ Ich wende mich ab und lasse sie stehen, gehe mit Neumann im Schlepp in den Flur raus. Der druckst rum, redet irgendwelchen Scheiß: „Die waren bei den anderen schon nicht gut drauf…“ Ich stehe dabei und höre nicht richtig hin. Entspannt und ein wenig desinteressiert, was gehen mich die anderen an, es geht um meinen Auftritt. Er beginnt zu erzählen: „Ich habe ihnen davor kurz berichtet, wie es bei Euch war, so ein bisschen private Eindrücke, und das kam nicht schlecht an. Aber der ganze Tag war daneben, die haben die anderen ganz fies durchfallen lassen. Der erste, von Kommunikation und Poetik, ist gar nicht erst gekommen. Der hat denen wohl vorgeführt, was er von diesem Spiel hält, hat gezeigt, dass er nicht mitspielt und die hatten so viel von ihm erwartet. Die anderen haben sie dann nur fertig gemacht, der vor dir dran war, war völlig erledigt. Die sind wohl erst jetzt auf den Dreh gekommen, dass sie sich selber auch eine Konzeption hätten überlegen müssen, dass sie sich zu wenig vorbereitet haben und dann haben sie das die Kandidaten büßen lassen. Die haben ihnen nicht zugehört, sondern immer nur auf der Konzeption rumgehackt, als müssten die Kandidaten jetzt dafür gerade stehen.“

Ich höre nur mit einem Ohr hin, hake aber die Botschaft ab: Das war der Imperativ – nicht anzutreten! Währenddessen geht mir durch den Kopf, wie ich unsere Vorwahl rausbekomme, dann kann ich dich gleich anrufen. Neumann bemerkt diese Distanz und wird eifriger. Wenn er wirklich so blöde wäre, wie er tut, hätte er da drin keinen Platz am Tisch bekommen. Ich gehe davon aus, dass er den Auftrag hat, meinen Auftritt zu vernebeln. Ich weiß, wie gut das gerade war. Wenn der Tag wirklich so ablief, haben sie ihren Kurs bei mir nicht halten können. Warum tut er dann so, als sei ich mit den anderen Abfuhren zu trösten. Und ich erinnere mich, dass das Spiel schon von vornherein auf Abschreckung angelegt war. Falls der erste Kandidat wirklich nicht gekommen ist, hat er nur das gemacht, was die Arschlöcher versucht haben, bei mir zu induzieren. Kurz ist meine Aufmerksamkeit ganz abgezogen, Neumann redete ins Leere.

Auf der Suche nach einer Verstärkung wendet er sich an Schädlich, der gerade aus dem Sekretariat kommt und hinter ihm vorbei will. Neumann versucht ihn festzuhalten, der duckt sich unter der Hand durch, entwindet sich und näselt im kulturschwulen Ton: „Entschuldige mich Gert, ich muss mal schnell wohin!“ Er rennt weg und macht einen depperten Eindruck. Die randlose Halbrundbrille unterstreicht, warum genau solche unterdurchbluteten Arschlöcher schon während meines Studiums dafür sorgten, dass ich mich nicht dazugesellen wollte. Das Nein-Danke zu einem Habilitationsangebot haben solche stillgestellten Kriecher zu verantworten. Neumann schaut ihm nach, macht eine wegwerfende Handbewegung: „Lass ihn mal, der ist schwerkrank. Jetzt sind sie auf die Idee gekommen, dass das alles falsch war. Jetzt wollen sie nicht mehr.“

Der blonde Engel taucht wieder auf, läuft den Gang entlang, lächelt gewinnend in die Runde, verschwindet in Delprens Büro. Als sie wieder raus kommt, ganz in Eile, rennt sie fast in mich rein. Ich weiche mit einer leichten Drehung zur Seite aus und sie läuft ins Leere – ich halte das für abgekartet. Neumann kennt dich mit diesem künstlichen Blond, er kann nicht wissen, dass wir letztes Jahr aus Gründen einer flexiblen Tarnung auf eine andere Haarfarbe ausgewichen sind. Sie haben also eine Dame mit einem ähnlich blondierten Gestaltbild für mich bereitgehalten. Ich muss mich nicht bemühen, so ein Frauenmodell abzublocken, bei diesem Typus kriege ich keinen hoch. Nach meiner Verführung bin ich für einige Jahre in bisexuelle Gefilde abgedriftet, um Erfahrungen zu sammeln und meine Neigungen zu erkunden. Aber auf die Dauer hat dies bewirkt, dass ich die standardisierte Männerrolle als langweilig und die durchschnittliche Frauenrolle als uninteressant empfinde. Es hat ein kleines Zeitfenster im Jahr des Selbstmords des Alten gegeben, in dem eine scharfkantige, anstößige und maximal gefährliche Unwahrscheinlichkeit in mein Leben getreten ist und seitdem sind wir in eine Liebe als Duell verstrickt.

Ich unterbreche Neumann: „Da hab ich hoffentlich nicht noch mitgewirkt!“ Er fällt mir ins Wort: „Nein, nein, du warst optimal, besser kann man nicht sein, aber die wollen nicht mehr. Du hast schon gemerkt, das war heute nichts, das war den ganzen Tag schon nichts.“ Ich widerspreche: „So übel war das gar nicht, ich hab doch sogar ein paar Leute zum Reden gebracht. Gut, der Baumgart stimmt vielleicht nicht für mich, ich mag Handke nicht.“ Neumann unterbricht mich: „Das war ganz exakt, Du hast Baumgart korrigiert, der hat sich auf Handke bezogen und du hast ihm gezeigt, auf wen sich Handke bezogen haben muss.“ „Na ja“, meine ich: „Ein paar der Leute habe ich doch dazu gebracht, aufzuhorchen und neugierig zu werden. Muschg wurde sogar interessiert, ich wusste nicht, dass der anwesend ist, aber zufällig habe ich in den Text Kleinigkeiten von ihm eingebaut.“ Neumann erklärt: „Wir wussten nicht, dass Muschg und Baumgart kommen, aber das war nicht schlecht. Der Muschg hat vorhin versucht, die Autorin zu protegieren, und die haben ihn ganz übel auflaufen lassen, der ist danach einfach in der Versenkung verschwunden – das hat ihn jetzt gefreut, dass Du dich nicht unterkriegen ließest und den Spieß einfach umgedreht hast.“ Ich sage mir: Der versucht mir zu schmeicheln, um mich dann leichter runterzuziehen und setze zu einer Erwiderung an. Er wird lauter, will mich nicht zu Wort kommen lassen: „Aber ich glaube, das wird trotzdem nichts, die wollen nicht mehr, denen ist klar geworden, dass sie selbst versäumt haben, eine ordentliche Konzeption anzudenken. An dir lag’s nicht, besser kann man gar nicht sein, jetzt geht's nur noch darum...“ Ich wende mich ihm zu, als müsste ich ihn trösten und rücke im ganz nah auf die Pelle. Er wehrt ab, scheint um seine Fassung zu ringen. Einer der Grauköpfe geht an uns vorbei zurück ins Zimmer, lächelt freundlich, ist schon fast vorüber, als er eine symbolisch besänftigende Geste macht. Die Andeutung eines Schulterklopfens, er berührt mein Hemd nur sachte mit den Fingerspitzen, ich lächle freundlich in seine Richtung und er verschwindet – mit diesem Gesicht verbinde ich gar nichts, könnte nicht mal sagen, wo der vorhin gesessen hat. Neumann meint: „Jetzt geht es nur noch darum, ob das Institut geschlossen wird. Wenn einer Direktor wird, dann heißt der Musik, aber ich glaube, die wollen nicht mehr.“ Ich sage leise aber sehr bestimmt: „Hier braucht es einen, der rund um die Uhr improvisieren kann, keinen Funktionär, sondern einen Ekstatiker. Mach ihnen klar, dass Musik das kann!“ Er tut ganz zerknirscht: „Die wollen nicht mehr, aber ich kriege dich auch woanders unter, keine Sorge.“ Ich lache ihn an, meinen Totengräber hab ich mir mit ein bisschen mehr Substanz vorgestellt: „Ich hab schon viel gemacht, und ich werde noch viel machen. Ich habe dich nicht gebeten, für mich etwas zu tun – ich habe mich hier beworben!“ Neumann nickt, das Grüppchen um uns hat sich aufgelöst und ist in den Räumlichkeiten verschwunden. Neumann meint: „Und grüße deine Freundin von mir, deine Frau, ihr habt ja geheiratet.“ Ich unterstreiche: „Ja im November, ne im Oktober. Nach einer Probezeit von siebzehn Jahren, für manche Sachen braucht es einen langen Atem.“ „Ja, dann grüße deine Frau von mir.“ Ich frage ihn bei dieser Gelegenheit: „Weißt du die Vorwahl von Stuttgart?“ Er hat uns mehrmals angerufen und jetzt sagt er: „Die normale.“ Ich insistiere: „Das kann nicht sein, von Stuttgart aus konnte ich mit der Dresdner Vorwahl nichts anfangen.“ Wir gehen währenddessen in Delprens Büro zurück, Neumann meint: „Dann musst du die Nummer selbst herausbekommen.“ Ich grinse ihn an und erwidere: „Das mach ich gleich hier.“ Die Delpren ist zur Stelle, sie will die Nummer nicht wissen, wirkt völlig hilflos. Ich wende mich an die junge Sekretärin und sage: „Sie wissen die Nummer sicher!“ Sie plappert sofort los. Ich gehe an meinen Koffer, lege Schirm und Jacke beiseite. Sie wurden so professionell an den Koffer ran gelehnt, dass neben dem hellgrauen Stockschirm mit weinrotem Rand eigentlich ein dunkelgrauer Bowler liegen könnte – das ist wirklich das Reich Moneypennys. Ich nehme den Stift und deinen Zettel raus, gehe an den Schreibtisch und notiere die Zahlen aus dem Lautgedächtnis, lese ihr die Zahlen laut vor, warte auf ihr Nicken und meine: „Das ist toll, Sie haben mir geholfen!“ Die Delpren wird unsichtbar und verschwindet. Neumann sagt noch: „Wir treffen uns nachher, ich muss jetzt wieder rein.“ Ich stoppe ihn: „Ich habe mir nicht gemerkt wo?“ Neumann erklärt: „Auf dem Weg zum Bahnhof ist auf der rechten Seite, hinter dem Dom, eine Imbisshalle. Ich weiß nicht, ob die heute schon entscheiden, aber mein Zug geht um 19:18 Uhr, ich komme auf jeden Fall bei dem Imbiss vorbei, und wenn ich dich nicht sehe, schaue ich noch am Bahnhof.“ Ich sage: „Mein Zug geht um 22 Uhr, ich bin dann in der Wartehalle oder in einem der Räume, in denen es warm ist.“ Neumann bekräftigt: „Dann sehen wir uns da.“ Er öffnet die Tür nur einen Spalt und verschwindet in dem Sitzungszimmer.

Ich nehme die Jacke und den Schirm, verabschiede mich von der jungen Sekretärin und gehe den Gang entlang Richtung Treppe. Irgendwo in diesen Gängen habe ich vorhin ein Klo gesehen. Ich will dort die Hose wechseln; in einer Jeans fühle ich mich wohler, überhaupt wenn ich Stunden auf einem Bahnhof verbringe. Ich gehe um die Treppe rum, da steht die Blondine und gibt vor, auf jemanden zu warten. Ich ignoriere sie, gehe durch die Tür mit dem Logo – sie versuchen es auf den letzten Drücker. Auf der rechten Seite ist ein stinkendes und baufälliges Pissoir. Gekachelte Wände aus denen Rohre hervortreten, wirr an ihnen entlanggeführt sind oder in irgendwelchen Ecken oder Anbauten wieder verschwinden. Die Installation erinnert mich an den Bunker unter der Verkehrsanlage im Stuttgarter Westen, in dem Ende der Sechziger eine Gruppe übte, die ich kannte. Wir durften den Bunker zwei-dreimal für Klassenpartys mitbenutzen und ich habe dort das erste Mal eine ganze Nacht durchgemacht, obwohl die letzten Stunden gar niemand mehr wach oder präsent war – aber es musste eine ganze Nacht sein. Die Becken sind gelbscheckig und haben schwere Macken, die Abläufe gehen einfach an die Wand und dann rinnt es daran runter in die primitive Pissrinne. Die Pinkelbecken erinnern mich an den Schwulentreff im Schlossgarten vor der durch den Stadtbahnbau notwendig gewordenen Renovierung Mitte der Siebziger – und das in einem Ministerium. Ich pinkle und ziehe in Betracht, dass die Blondine wirklich auf jemand wartet, kontrolliere hinter mir die Kabinen auf der anderen Seite, reiße in der ersten ein paar Blatt Klopapier von der Rolle, putze mir geräuschvoll und ausgiebig die Nase – hier ist niemand! Dann sage ich mir, dass es auf die Mühe nicht ankommt, denn diese Tute wurde dort postiert, um mich zu paranoisieren. Der Boden ist nass und dreckig, stinkt nach Pisse, hier wechsle ich keine Hose. Ich lasse die Repräsentationshose an, wasche mir die schmierig verschwitzten Hände, hole nochmal Klopapier, um die Finger abzutrocknen. Handtücher sind keine vorgesehen, es gibt nicht mal Handtuchhalter. Als ich rauskomme, ist die Blondine weg.

Ich gehe die Treppe runter, gebe unten mein Besucherschildchen beim Pförtner ab, gehe das Halbstockwerk weiter und ziehe meine Handschuhe an. Ich trete raus in die Endphase der Dämmerung, überquere die Straße und gehe bis zur Böschung am Elbufer, mir ist gar nicht kalt. Ich mache den Koffer auf und packe die Handschuhe wieder rein, öffne die letzte Dose Flirt. Das zischt in die Gegend und ich habe Spritzer auf dem rechten Ärmel und am Revers. Ich wische das Zeug weg, ärgere mich, diese Zuckerbrühe gibt Flecke, trinke die Dose in zwei-drei Zügen leer. Ich schaue kurz noch einmal zu dem erleuchteten Sitzungssaal hoch. Es würde mich nicht wundern, wenn einige der Figuren jetzt sehen wollten, wie ich den Abgang mache, am besten in der kalten Elbe. Ich suche einen Papierkorb und nehme die Dose mit, als in der Parklandschaft keiner zu sehen ist. Einer Eingebung folgend sage ich mir plötzlich, dass vielleicht kein Vorstellungstermin mehr nötig sein wird. Wenn ich die Jacke dann bei Spaziergängen mit den Hunden abtrage, stören die Spritzer nicht weiter – und tatsächlich störten sie bei den folgenden vier Monaten auf einer internationalen Bank niemanden; auffällig war nur, wie schnell die Jacke in diesen Zusammenhängen speckig wurde und verdreckte. Ich gehe durch die schwarzen Schatten dieser trauernden Silhouetten, lasse mir Zeit, vor zwanzig Jahren wäre das die richtige Parklandschaft für einen Joint gewesen. Wie die Zeit vergeht, damals manschte ich bei guter Musik schön zugeknallt in Ölfarbe, um mich am nächsten Morgen zu wundern, dass das Bild auf dem Tisch aus dem Rausch mitgekommen war; einen kuschligen Platz auf meiner Matratze hätte ich jeder Rolle in der Weltgeschichte vorgezogen; und heute höre ich nicht mal mehr Musik. Ich gehe langsam zu der Brücke hoch, jetzt ist es völlig dunkel. Ich habe noch immer die leere Dose in der Hand, will sie nicht einfach wegwerfen. Ich gehe über die Brücke, rechter Hand braust der Verkehr vorbei, links die Flusslandschaft, es ist so kalt, dass die Finger an der Dose steif werden. Ich bin vermutlich so aufgeheizt aus dem Ministerium gekommen, dass ich die Kälte nicht bemerkt habe, es hat ein paar Grad unter null. An verschiedenen Stellen fallen mir vereiste Pfützen auf, ich stelle die Dose ziemlich genau in der Mitte der Brücke auf den Boden, schiebe sie mit dem Fuß zwischen zwei Verstrebungen, der Wind soll sie nicht auf die Fahrbahn wehen, ziehe die Handschuhe aus meinen Koffer. So geht es schon besser.

Die Kälte strengt an und das Gelaber Neumanns wirkt nach. Kurz sacke ich in eine melancholische Stimmung ab und frage mich, wie das weitergehen soll, wenn ich nun wieder in den beschissenen Kleinkrieg in Stuttgart zurück muss: die Gehässigkeit verdruckster Spießer, die jede wache Lebendigkeit fressen möchte – als sei etwas verloren, als bleibe weniger übrig... Aber das sind die Einflüsterungen Neumanns. Vielleicht hat er sogar ein geheimes Interesse an der Beerdigung eines Instituts, das ihn relegiert hatte, dann konnte er auf meinen Erfolg auf keinen Fall setzen. Plötzlich wird mir bewusst, dass ich mit so einer Konzeption und dem damit verbundenen Auftritt noch ganz andere Möglichkeiten habe: Ich muss nur dafür sorgen, dass es publik wird; und schon habe ich einen Motor für den Philosophischen Sperrmüll. Als ich das letzte Mal auf dem Arbeitsamt war, nach der Promotion, drehten die das so hin, als sei es meine eigene Schuld, wenn ich in so einem Fach und noch dazu mit 'Sehr Gut' abgeschlossen hatte. Mit einem schlichten 'Gut' wäre es doch leichter gewesen, mich irgendwo unterzubringen – aber unter diesen Bedingungen konnte man nicht erwarten, dass mich irgendein Chef aushalten würde. Sie schickten mich zurück, ich sollte auf der Uni weitermachen – wie sich herausstellte, war das eine Auftragsarbeit: Die Uni konnte nicht loslassen. Jetzt werde ich, wenn es nicht klappen sollte, mit den offiziellen Papieren in die Neckarstraße marschieren und sagen: Nun tut mal was, lasst Euch was einfallen, ich mache alles! Mit ein bisschen Glück lässt sich diese Konzeption zu einem Geldhahn umfunktionieren. Dieses Resultat war sicher nichts, an das die Auftraggeber gedacht haben, als Neumann mir diese Chance einräumen durfte.

Ok, ich bin wieder da. Ich sollte endlich mal ein Telefon finden und dich anrufen. Ich habe so viel positive Gewissheit im Körper, das kann noch nicht das Ende sein. Hinter der Brücke wechsle ich die Straßenseite. Das sind weite Ausdehnungen, die haben hier Platz, die Häuser wie die Straßen sind noch nicht dicht auf dicht gepackt, die Viertel werden geprägt durch so was wie eine Kirche oder klotzige Gebäude der Macht, aber diese prägenden Zentren liegen weit auseinander und viele sind hinter Baugerüsten und Planen versteckt. Ich bin längst an der der dunklen Silhouette eines Bauwerks vorbei, die ein Dom sein könnte, habe aber keine Imbisshalle gesehen. Ich entdecke eine Telefonzelle und beschleunige, jetzt deine Stimme hören! Es ist ein Kartentelefon, ich gehe weiter, am Rathaus entlang, das ein recht repräsentativ aussieht, biege rechts ein. An einer Markthalle entdecke ich am äußeren Eck kleine helle Fensterelemente, das könnten Telefonzellen sein. Als ich nahe genug herangekommen bin, entpuppen sie sich als beleuchtete Vitrinen. Ich gehe um das Gebäude rum, frage eine Frau, ob ich noch die Richtung zum Bahnhof habe. Sie verneint und schickt mich im rechten Winkel über die Straße. Wenn ich Karstadt entdecke, soll ich um das Gebäude gehen, bis ich in der Fußgängerzone bin, dann immer geradeaus. Als Tramper hat es mir früher gefallen, irgendwo in einer fremden Stadt raus gelassen zu werden und dann einfach blind drauflos Straße für Straße die Stadt zu erkunden – der letzte Versuch ist schon achtzehn Jahre her. Ich sehe einen ersten Hund, einen mittelgroßen Mischling, entdecke hinter den Büschen, die er ausgiebig beschnuppert und markiert, die Post. Ich denke, dass ich den Imbiss vergessen kann, entweder Neumann hat den Weg falsch beschrieben und ich habe ihn verpasst oder es gibt ihn nicht. Jetzt ist mir das egal, ich will dich anrufen. In der Post sind drei Kabinen mit einfachen Holztüren, grobe Schlösser für altertümliche Bartschlüssel. Die Zellen sind besetzt, Gespräche muss man anmelden, dann kriegt man den Schlüssel und zwei wartende Omas stehen schon an. Das ist mir zu umständlich, es ist jetzt kurz nach halb sechs, ich denke dass ich dich noch vor dem Spaziergang erreiche und gehe weiter Richtung Bahnhof. Die Schaufenster, die Geschäfte, die Werbung, alles sieht aus wie die untere Königstraße Anfang der Siebziger – nur die wenigen Leute wirken fremd und verloren. Hier ist die Zeit, bevor ich in ein Bücherregal ausgewandert bin, stehengeblieben. Ich sehe einen zweiten Mischling, es scheint wenige Hunde zu geben. Um zehn vor sechs komme ich am Bahnhof an, schaue in der Eingangshalle nach einem Telefon, stelle fest, dass der Bahnhof vier Ein- beziehungsweise Ausgänge hat. Ich sage mir, dass Neumann mich schon finden wird, wenn er mich finden will. Endlich entdecke ich eine ganze Reihe Telefone, ein paar sind für Selbstwähler national/international – aber alle sind besetzt. Ich bleibe eine Weile dabei stehen, langsam wird mir kalt, bei den Telefonen ist es sehr zugig. Jetzt wirst du mit Kai-wah spazieren gehen, ich tigere durch den Bahnhof, umkreise die Telefone in wechselnden Abständen, aber da stehen schon genug Leute an, ich muss mich nicht noch dazu gesellen. Die Kälte kommt mir bösartig vor, als zieht es rapide an. Irgendwann frage ich einen Polizisten, der dort gemächlich seine Runden abläuft, nach einem geheizten Wartesaal. Er bedauert, entschuldigt sich fast: „So was haben wir hier noch nicht. Aber Sie können zum Aufwärmen zum roten Kreuz rein.“ Ich lache ihn an: „So schlimm ist es noch nicht!“ Ich entdecke den Aufgang zur Bahnhofskneipe, ein unfreundliches Schild an der Treppe schreit: Gepäck unerwünscht! Gegenüber an der Gepäckausgabe abgeben! – das ist nicht sympathisch, Leuten mit solch einem autoritären Gerüst will ich kein Geld hinterhertragen. Außerdem hoffe ich, Neumann nicht zu verpassen, schaue auf die Pläne, auf welchem Gleis der Zug nach Berlin abfährt, merke mir die Nummer, tigere rum, um mich in Bewegung zu  halten. Koffer und Schirm sind eine Behinderung. Ich suche nach einer Ecke, in der es nicht zieht, die Tore stehen alle auf oder lehnen zerborsten an der Wand, der Luftzug ist mittlerweile arschkalt, manchmal überlege ich, ob ich spinne, ob ich mich zu sehr ausgepowert habe. Am nächsten Tag höre ich dann in der Tagesschau, dass der Kälteeinbruch aus dem Osten in dieser Nacht einsame Rekorde gebrochen hat – also kein persönlicher Wärmetod. Ich drehe wieder eine Runde, ein Penner begegnet mir mehrmals und guckt neugierig, auf der anderen Seite am Imbissstand neben dem Roten Kreuz sind ein paar andere Penner, wenige für einen Bahnhof, wie hier überhaupt viel weniger verwahrlostes Volk rumläuft. Manches ist noch nicht eindeutig, in einzelnen Fällen werden Rollenanweisungen nachgeahmt, deren Hintergrund sicher nicht erwünscht wäre. Ein Typ steht am Westflügel und wartet auf jemand. In Stuttgart wäre der auf jeden Fall ein Bahnhofstricher, hier hat sich vielleicht einer für die Disko aufgemacht und wartet auf seine Kumpels oder die Braut. Eine Frau in einem kleinen Lädchen wirkt auf den ersten Blick wie eine Nutte, Lacklederstiefel bis übers Knie, schwarze Netzstrümpfe, plumpsig rote Hotpants aus Wolle und Plüsch, ein schwarzes Nerzjäckchen – aber das ist eine junge Verkäuferin, die Waren einsortiert, Bestellungen notiert: Ein ganz biederes Gesicht und die Blumenkohlfrisur einer fünfzigjährigen. Die proben hier noch Uniformen zum besseren sozialen Einsortieren. Was bei uns in den letzten zwanzig Jahren klare Statuszuweisungen geworden sind, ist hier ein unverbindlicher Theaterfundus: Die Leute kopieren irgendwelche interessant wirkenden Klischees aus dem Fernsehen und scheinen sich in der Auswahl so unsicher, dass keine klare Rollenvorstellung damit verbunden ist.

Um halb sieben wird ein Telefon in meiner Nähe frei. Mit ein bisschen Glück bist du schon zurück, wenn nicht, versuche ich es später noch mal. Ich bin jetzt so ausgekühlt, dass meine Finger beim Eintippen der Nummer zittern, in Stuttgart hat es sicher noch ein paar Grad über Null. Du bist bereits zurück und klingst in Ordnung, es tut gut, deine Stimme zu hören. Im Hintergrund spüre ich die während der Adrenalinphase verdrängte Angst: Hoffentlich geht zuhause nichts schief, während ich weg bin! Ich erzähle kurz wie es abgelaufen ist, die wichtigen Stichworte: „Bisher ist keine Entscheidung gefallen. Ich warte noch auf Neumann, aber der sagte schon, dass er nicht weiß, ob heute überhaupt eine Entscheidung ansteht.“ Zwischenrein frage ich: „Und, wie höre ich mich an?“ Mit deiner ausgeprägten Mimesis weißt du das Ergebnis der Geschichten, in denen ich mich bewähren soll, oft vor mir. Mein Stimmton oder die Erzählweise vermitteln dir mehr, als mir selbst schon bewusst ist. Das war schon einige Male ein gutes Instrument für Vorhersagen und wird später, wenn ich mit Kunden bei den Anzeigenschaltungen um Tausender feilsche, eine große Hilfe sein. Und du meinst: „Neumann ist link, aber ich glaube nicht, dass er kommt. Dazu ist er nicht gut genug rausgekommen. Eine Entscheidung ist noch nicht gefallen.“ Das unterstreicht das Gefühl, dass alles, was mir Neumann heute Abend mitbringen wird, nur eine miese Simulation sein wird: „Falls er doch kommt, muss er absagen oder auf Zeit vertrösten; wenn nicht, war die Verabredung eine dumme Show und die Entscheidung fällt hinter den Kulissen. Da haben dann andere das Sagen.“ Wir sprechen noch ein bisschen und das Kleingeld läuft unerbittlich durch. Du erzählst vom Spaziergang, dass du früher gegangen bist, weil du dir schon dachtest, dass ich vermutlich nicht vor sechs anrufen werde. Ich werfe zwischendurch Münzen ein, erzähle von einigen Beobachtungen aus dem neuen Bundesland, dann nervt das Telefon schon wieder. Ich kann noch sagen, dass ich mich später vor der Abfahrt melde, und das Gespräch wird mit einem trockenen Knack unterbrochen.

Nach dem Gespräch fühle ich mich sehr gut, trotz der Kälte. Ich drehe eine Runde im Bahnhof, schaue ob ich die Visage eines Neumann irgendwo entdecke, muss pinkeln. Das Klo hat ein Drehkreuz, aber ich habe keinen Fünfziger mehr. Außerdem scheint es total verdreckt, was ich von außen sehe, reicht aus, um dort drin keine Hose zu wechseln. Ich gehe zur Gepäckaufbewahrung und deponiere Schirm und Koffer, drehe eine weitere Runde durch den Bahnhof und gehe durch einen Seitenflügel raus, suche mir die nächste dunkle Ecke neben einer West-Zigarettenwerbung, habe Mühe, bei dieser Umstandskrämerhose den Reißverschluss aufzubekommen und pinkle erleichtert. Hinter der Plakatfläche ist eine Bushaltestelle, ein paar Leute glotzen blöd, das ist mir gleichgültig. Als ich wieder in die Bahnhofshalle reingehe, begegne ich dem Bullen, erst jetzt wird mir bewusst, dass das leichte Sächseln nicht unangenehm klang. Er erkennt mich und nickt mir freundlich zu, eilt raus, um an der Haltestelle nach dem Rechten zu sehen. Ich drehe schnelle Runden, um mich warm zu laufen und gehe jedes Mal das Gleis 5 entlang, Neumanns Zug steht schon da, die Zeit läuft, ihn entdecke ich  nicht. Als ich um viertel acht nochmal an dem Zug entlang gehe, schaue ich sogar in die Fenster der einzelnen Abteile, Neumann sitzt wahrscheinlich nicht in diesem Zug. Kurz kommt mir der Gedanke: Hoffentlich sieht mich keiner, das könnte meine Bedürfnisstruktur verraten. Aber die Leute schauen, wenn sie überhaupt reagieren, neugierig oder sogar eingeschüchtert zurück. Ich breche die Suche ab und gehe die Treppe wieder runter. Das Ergebnis beruhigt mich, vielleicht beraten die wirklich am morgigen Tag weiter. Ich gehe wieder zum Telefon, jetzt sind schon einige Apparate frei. Ich habe noch eine Mark klein, rufe dich an, erzähle kurz, dass sich nichts getan hat. Die Wechselwirkung ist sehr angenehm: Da ist jemand, der mit fiebert, ich bin nicht ganz alleine auf dieser verrückten Welt – viele Jahre fühlte ich mich in meiner Außenseiterrolle als auserwählter Sündenbock ganz allein. Ich sage, dass ich nun eine Kleinigkeit essen gehe, dass ich Bescheid gebe, falls ich Neumann noch treffe, dass ich auf jeden Fall seine Züge kontrolliere, und dass ich mich melde, bevor ich dann selbst in den Zug steige. Nach dem Gespräch bin ich wieder ganz weich, fast am zerfließen. Auf den Knien meines Herzens krieche ich die Treppe hoch – vor ein paar Jahren habe ich über so eine Formulierung Kleists noch gelacht, während ich jetzt unter Schmerzen feststelle, wie genau diese Metapher trifft. Vor der Schwingtür warte ich eine ganze Weile, bis der Musik sich wieder beruhigt hat.

Ein Schwuler in schwarzer Lederkluft kommt raus, stößt fast mit mir zusammen und entschuldigt sich tuntenhaft sächselnd. Drin klingt es profan dummdeutsch, ich zögere: Ich habe gerade mit der Göttin tausender Ekstasen gesprochen, was soll ich hier? Gleich hinter der Tür sind zwei Stammtische, die für diese beschissene Geräuschkulisse verantwortlich sind. Ich gehe quer durch den Raum, setze mich so gegenüber der Tür, dass ich kontrollieren kann, wer reinkommt und dass ich selbst auf den ersten Blick zu sehen bin. Ich bestelle eine Gulaschsuppe mit Brot und merke, wie mir die Wärme wohl tut, spüle mit einem Bierchen nach – zahle gleich, als das zweite Bier kommt. Zwischendurch schaue ich kurz raus, um nach acht am Gleis fünf entlang zu gehen – von Neumann keine Spur. Der Ober ist ein freundlich schleimender Pinguin, und wenn ich beobachte, wie er zwischen einzelnen Tischen vermittelt, wie er mit dem zurückkehrenden Lederschwulen spricht und dann an einen Tisch flattert, der zuvor durch Blicke gekennzeichnet wurde, fühle ich mich an meinen sekundären Sozialisationshorizont erinnert. Wenn mein Päderast mich auf irgendwelche Events mitgenommen hatte, gab es immer wieder solche Boten oder Kuppler, die dafür sorgten, dass der symbolische Tausch auf der Ebene der körperlichen Vollzüge gewährleistet wurde. Während jener Jahre war mir klar gemacht worden, dass es die Überlebenstricks der Randgruppen waren, die sexuellen Vollzüge von Schwulen, Prostituierten und Künstlern, die das System des symbolischen Tauschs in Gang halten – ich musste später nur noch die theoretische Armatur erwerben, um zu kapieren, warum das so läuft. Bei den sogenannt Normalen wird die Kraft des Symbols durch kleine Erpressungen ersetzt und der Tausch ist zu einer miesen und blutleeren Nachahmung von Klischees verkommen. Die Zeit geht in der Kneipe rum, ich muss dreimal pinkeln, das Bier läuft schnell durch. Ich habe schon lange kein Bier mehr getrunken. Als ich die ersten VHS-Kurse gab, ging ich mit den Teilnehmern danach auf ein Bier in eine Kneipe, weil das den Kurs zusammen band. Ich musste mir dann keine Gedanken machen, ob genug Teilnehmer bis zur letzten Stunde dabei blieben. Als später das Generve zunahm, schienen mir solche pädagogischen Maßnahmen bald zu mühsam, und wenn ein Kurs am Ende nur noch zwei-drei Teilnehmer hatte, war das ziemlich egal. Die Zeit bis zum nächsten Semester zog sich im Sommer eine solche Ewigkeit hin, dass vom Gefühl her nicht zu sagen war, ob ich noch in der Welt dieser Bekloppten tätig sein würde. Ich hatte keine Lust, Hausfrauen zu trösten und Normalos den Feierabend zu versüßen, wartete nur darauf, aufgrund der Veröffentlichungen an eine brauchbarere Tätigkeit zu kommen, um das notwendige Geld zu verdienen. Langsam ist mir wieder warm geworden, das ist der Alkohol. Ich gehe um zwanzig nach neun, Neumanns Züge fahren im Stundenabstand, das ist der letzte in meinem zeitlichen Rahmen.

Ich rufe dich nochmal an, freue mich an deiner Stimme, du schaust demnächst Miami Vice. Es wird nicht mehr lange dauern, diese Nacht noch, die erste Nacht seit fast zehn Jahren, die ich nicht bei dir bin. Die letzten Male habe ich bei der Wachfirma eines Bekannten ausgeholfen, weil aufgrund einer Bombendrohung für eine Raffinerie am Neckar die Leute fehlten. Vom anderen Flussufer wehten die dumpfen Bässe eines Konzerts rüber, das wohl jemand mit der Bombendrohung verhindern wollte. In der ersten Nacht war ich vor Stress in den ersten Stunden mindestens einmal pro Stunde aufs Klo gerannt und hatte Dünnschiss, dabei war in diesen schwülen Nächten gar nichts los. In der zweiten Nacht nutzte ich dann die Zeit und übersetzte Benjamins Erkenntnistheoretische Vorrede zum Trauerspielbuch in kurze und nachvollziehbare Sätze. Ich gehe zur Gepäckausgabe, um Koffer und Schirm abzuholen, muss eine Weile warten, bis ein müder, fetter, alter Mann angeschlurft kommt. Dann gehe ich wieder einmal die Treppe hoch zum Bahnsteig. Mein Zug ist schon da, ich suche mir ein Abteil, an dem keine Reservierungen dran stehen.

Drin ist es schön warm, ein junger Typ kommt gleich nach mir und, kurz bevor der Zug abfährt, noch ein älterer Südländer. Wir ziehen die Sitze so auseinander, dass drei Leute halbwegs normal liegen können. Der junge Typ schaut fragend auf meine Schuhe, er hat seine ausgezogen. Ich erkläre: „Die hab ich seit heute früh an, ich hab Schweißfüße.“ Der Typ winkt ab, so eng sieht er das nicht, so wild soll das nicht sein. Ich lasse es nicht darauf ankommen und behalte die Schuhe an. Die Heizung unter dem Fenster bollert wie blöd vor sich hin, und wenn ich mich bequem zurücklehne, streicht mir ein trockener, staubiger Hauch übers Gesicht. Weil ich nicht die ganze Nacht alte Heizungsluft einatmen möchte, hänge ich die Lederjacke ins Eck, sorge mit dem linken Ärmel dafür, dass sie ein wenig von der Wand absteht. In diesem Windschatten berge ich meinen Kopf. Ich schlafe sogar den Großteil der Fahrt, obwohl in den angrenzenden Abteilen ein Rudel Fußballfans oder Reservisten säuft und grölt und irgendwann lautstark am kotzen ist. Die Schaffner fühlen sich hilflos gegenüber den Suffköpfen, zur Kompensation stören sie als Ordnungsmacht unseren Schlaf und müssen während der Nacht vier-fünf Mal die Karten kontrollieren. Diese verkrampften Blödel schieben jedes Mal unsere Tür auf und machen das Licht an, weil sie Schiss vor Ihresgleichen im Rausch haben. Als ich kurz vor acht Uhr pinkeln gehe, ist die Kotze vor dem Klo hart gefroren und knirscht unter den Schuhsohlen, die Tür und das hochgeklappte Trittbrett sind mit Erbrochenem zugeeist. Mich berührt das nicht, die gefrorene Pampe riecht nicht bis zu mir hoch. In der Nacht sind Fragmente Heraklits in meinem Kopf aufgetaucht und hallen nach wie die schwerfälligen Schritte eines alten Mannes: ‚Leute, die weder zu hören noch zu reden verstehen. ... Sie verstehen es nicht, auch wenn sie es vernommen. So sind sie wie Taube. Das Sprichwort bezeugt es ihnen: Anwesend sind sie abwesend‘. Weisheiten, die einmal in den überwachsenen Wandelgängen eines verfallenen Tempels gesprochen wurden: ‚Die Schlafenden sind für ihn Arbeiter und Mitwirkende an den Weltereignissen. ... Die Wachenden haben eine gemeinsame Welt, doch im Schlummer wendet sich jeder von dieser ab.‘ So, wie es für mich aussieht, ist die gemeinsame Welt die jener Leute, die der Abwesenheit huldigen und weder zu hören noch zu reden verstehen. Als Simulanten der Selbstheit spielen sie eine Rolle vor, für die sie von den anderen bestätigt werden wollen. Das ganze ich-bin-wichtig-Spiel resultiert nur aus der Gegenbewegung zu jener verdrängten Einsicht, dass die Rolle nicht den ersehnten Halt, nicht die Sicherheit der Substanz vermittelt. Dagegen laufen im Nabel des Traums jene unendlich vermittelten Verweisungen zusammen, die uns als Teil der ganzen Welt und wirklich als Mitwirkende erweisen.

Als ich in Stuttgart vor dem Aussteigen meine Sachen zusammen sortiere, fällt mir auf, dass der junge Typ seltsam guckt. Vielleicht habe ich im Traum gesprochen und er hat was aufgeschnappt, versucht diese Botschaft aus einer anderen Welt mit meiner Erscheinung in Einklang zu bringen. Vielleicht habe ich zurzeit eine so starke Sendekapazität, dass ich mich in seine Träume eingespeist habe – der Blick transportiert auf jeden Fall eine Gebanntheit, als erkenne er etwas wieder. Während der Fahrt ging mir im Halbschlaf durch den Kopf, wie vernetzt die bekannten Namen, wie umfassend die Abhängigkeitssysteme sind. Jetzt versuche ich mir bewusst zu machen, was das im Endeffekt heißt. Wenn sie davon profitieren, sind sie in der Lage sich so abzustimmen, dass jemanden hochzujubeln ist und wenn sie einen Auftrag bekommen, jemanden zu blockieren, wird das mindestens so gut klappen. Ich überlege mir, dass das ganze Geschehen schon von langer Hand ausgetüftelt wurde, schließlich muss man sich auf den guten Willen aller Beteiligten verlassen. Ich selbst sollte den Beweis erbringen, dass die Auftraggeber nicht daneben lagen und mein Kopf diese Staatsaktion wert war – selten wird mir die Intrige in dieser Intensität bewusst. Allerdings bemerke ich eine Ambivalenz: Wäre ich nur ein größenwahnsinniger Spinner, hätten die Drahtzieher rechtfertigen müssen, warum sie ein Gremium dieser Ranghöhe bemüht, warum sie mich in den letzten Jahren nicht selbst erledigt haben. Von den schwachsinnigen Versuchen in dieser Zeit wussten die Leute in dem Gremium nichts – vermutlich wurden nur ein paar Zusammenbrüche und Todesfälle als Argumentationshilfe verwendet. Aber gerade weil ich gut war, habe ich die Rechtfertigung geliefert, warum derartige Geschütze aufgefahren werden müssen. Jetzt kann ich nur darauf hoffen, dass in diesem Gremium genügend Leute auf die Idee kommen, die vorgeführte Kapazität einzukaufen und vor den Karren eines abgestorbenen Instituts zu spannen. Sie sind ja nicht einfach gleichgeschaltet, die Logik der Forschung impliziert die Chance, dass die Stimmen, die dem Auftrag gehorchen, mich auszubremsen, in der Minderheit sind.

Die Bindungskräfte eines sozialen Körpers sind lange bekannt. Aber die Theorien, die die Gesetzmäßigkeiten erklären, unterstrichen während der Lektüre nur meine Distanz. Auf einmal macht es einen ein gewaltigen Unterschied aus, die Funktionsfähigkeit eines sozialen Körpers daran zu erfahren, dass man versucht, mich auszuschließen. Ich dachte bisher, dass ein solcher Quatsch nur subalterne Kriecher betrifft, dass die Könner so etwas nicht brauchen. Nun hat man mir vorgeführt, dass einige der besten in diesem Gremium wie Musterschüler des Lebens spuren. Die Drahtzieher spielen nicht nur auf Sicherheit, sondern wissen, dass sie sich unumkehrbar in die Hand der anderen begeben. Noch dazu wird einem, der hier zum ersten Mal einen Blick ins innerste Heiligtum werfen darf, klar gemacht, dass alle verstrickt sind, jeder des anderen Todfeind und doch auf ihn angewiesen, dass sie sich stabilisieren aufgrund der Opfer, die sie fabrizieren. Dalís Bild eines Kristallgitters, dessen Härte und Stabilität symbolisiert wird durch Leute, die in diesem Netz von Abhängigkeiten die Waffe jeweils auf den Kopf ihres Nachbarn richten. Nach außen geben sie sich gegenseitig Halt, sorgen dafür, dass selbst ein mittelmäßiges Elaborat die Werbung bekommt, die wirtschaftliche Rechnungen ermöglicht. Sie erlauben sich den Luxus, selbst intellektuelle Unfruchtbarkeit mitzuziehen, wenn damit die Willfährigkeit gewährleistet wird. Wenn eine/r einmal dazugehört, ist schließlich jede Stimme in den Gremien eine wichtige Stimme. Ich will da nicht dazugehören, wieder einmal dieser Impuls, den ich schon vor sieben Jahren das erste Mal verspürt habe. Aber mittlerweile wurde beschlossen, dass ich mich unter solchen nachgemachten Menschen und giftenden Mumien zu bewähren habe, wenn ich nicht mit ansehen will, wie die Anstrengungen der letzten zehn Jahre der Verleugnung unterstehen. Bis zu dieser Erfahrung kann ich mir nicht vorstellen, dass gewisse Kapazitäten in anderen Teilen der Welt anwendbar sind, auch das ist ein Teil des Bannfluchs. Dabei müsste ich nur schauen, wo Geisteswissenschaftler überall die Finger drin haben, um mich nicht darauf zu kaprizieren, als Hungerkünstler zu brillieren – das ist noch immer ein Rest der früheren Unfähigkeit, durchschnittliche Anpassungsforderungen zu akzeptieren. Die Versuche, als freier Autor Fuß zu fassen, sind systematisch behindert worden. Ich bekam sogar eine Zusage von einem Verlag, den es schon geraume Zeit nicht mehr gab, während die, die mir Hoffnungen gemacht haben, mit den hanebüchensten Gründen nichts mehr von mir wissen wollen. Das Behinderungssystem sorgt dafür, dass meine Urlaubsvertretungen im Buchhandel dazu taugen, unsere Atmosphäre zu vergiften oder dein BAT 8-Job unterminiert wird, bis du dich nur noch in eine Kündigung retten kannst.

Ich bekomme in den nächsten Monaten mit, wie Muschg für seinen neuen Roman hochgelobt, wie Schädlich gelobt und verrissen wird, wie Hein mit Grass diskutieren darf oder Baumgart das Diskursphänomen Liebe bespricht. In diesen Zusammenhängen der ZEIT taucht in schöner Regelmäßigkeit die hämisch hysterische Stimmgewalt eines Harpprecht auf, der es sich aufgrund irgendwelcher aktuellen Anlässe erlaubt, gewisse Schlagworte auf den Müll zu kippen, mit denen ich improvisiert habe. Selbst das Stichwort des Schamanen in der Literatur taucht wie zufällig auf. Aber es ist klar: Alle Beteiligten sorgen dafür, sich im Gespräch zu halten, sie mögen sich hassen, kein gutes Haar aneinander lassen, dennoch gehören sie zur selben Familie. Nach außen wird zusammengehalten, auch wenn intern jeder dem anderen das Herzblut absaugt. Eine psychotische Vereinigung, die Elias Canetti in Masse und Macht beschrieben hat – und ich gehe nach Hause und transportiere den Double-bind, dass ich nicht dazu gehören will und gerade alle Anstrengungen unternommen habe, endlich doch dazu zu gehören. In diesen Zusammenhängen bringe ich ein erstes Mal die Gesetzmäßigkeit einer psychotischen Machtstruktur auf den Nenner: Sie bieten dir was, das du gar nicht haben willst, und dann geben sie vor, dich damit strafen zu können, dass sie dir vorenthalten, was du gar nicht haben wolltest!

Ich weiß zu diesem Zeitpunkt noch nicht, was ich sonst machen soll. Ich sehe noch nicht, dass das Geld auf der Straße liegt – ich brauche den nötigen Tritt ins Kreuz, um bereit zu sein, mich danach zu bücken. Ich muss mir die Hände schmutzig machen, was zugegebenermaßen für den promovierten Sohn eines Hilfsarbeiters eine besondere Überwindung bedeutet. Ich bedenke nicht einmal, dass diese Leute längst beschlossen haben, dass ich nie zu ihnen gehören werde. Mit einer kunstvoll arrangierten Liquidation will man dafür sorgen, dass es mich als Infragestellung nie gegeben hat. Die Institution erfährt Ihre Rechtfertigung, wenn derselbe, der an den Lebensenergien dieses Sektors der Schönen Künste gezweifelt hat, nun zur Ader gelassen wird, bis von seinen Kräften nichts mehr bleibt. Aber anhand seiner Leiche oder dem verbliebenen Textkörper sollen, wie Schlaffer dies angekündigt hat, künftige Studenten gequält und mit ihrem Mangel an Verständnis konfrontiert werden. Während dieser Zugfahrt gibt es das kurze Aufblitzen einer Einsicht, den noch stockenden Schritt in eine neue Richtung, die mir in den Sorgen und Nöten der nächsten Monate wieder verloren zu gehen droht. Der Hohn ist schließlich, wie diese Leute eifersüchtig darüber wachen, dass ich ihre Gebiete nicht verlasse, nur um dafür zu sorgen, dass ich meine ganze Zeit und Kraft verschwende, ohne etwas davon zu haben. Als mir diese Strategie später bewusst wird, bin ich bereit, mich in einem ganz anderen Maß selbst zu verschwenden. Als klare Alternative stellt sich ein: Entweder ist meine Schreibe so wertsetzend, dass sie uns ernährt – oder ich schreibe nur noch für mich, ohne Rücksicht auf die Verkäuflichkeit. Stattdessen kann ich Anzeigen und Promotions verkaufen, meine Kapazität bei den Reichen prostituieren und dabei zwei Millionen Mark Umsatz machen. Ich kann mich am Telefon derart verausgaben, dass von den schwachsinnigen Behinderungen und verkrampften Ausbremsungen der Geisteswissenschaften nicht mehr als eine ferne Erinnerung bleibt. Das im Körper gespeicherte energetische Reservoir wird am Telefon abgestrampelt, ich powere mich derart aus, dass von den Bremsenergien der sorgfältig aufgebauten Differenzierungen nicht mehr viel bleibt. Am Ende nehme ich mir die Freiheit, das im Laufe der Zeit festgehaltene Zeug im rechten Augenblick, bevor sich literarische Leichenkrämer und andere Nekrophile an meinen Texten mästen, aus der Welt und den Speichern zu entfernen.

Vorerst setze ich – obwohl ich Habermas im Sperrmüll dafür kritisiere, dass er die strategischen und performativen Sprechakte nicht genügend berücksichtigt und eine ideale Sprechergemeinschaft voraussetzt, die in jedem Wohnklo und an jedem Bank- oder Versicherungsschalter suspendiert ist – auf die Logik des kommunikativen Handelns. Es sind genügend Leute beteiligt, die eigene Interessen verfolgen und aus diesem Grund nicht ohne Widerstände einer vorgefertigten Denkbehinderung gehorchen. Die Geschichte wird sich rumsprechen und ich werde mit weiteren Bewerbungen genügend Informationen und Rückfragen freisetzen. Gerade dieses dicht gewobenen Netz aus Abhängigkeiten, vorauseilenden Gehorsam und wechselseitigen Rivalitäten kann ich für mich arbeiten lassen. Ich bin nicht bereit, um der Bedeutsamkeit willen in die Rolle des Opfers zu schlüpfen, eher wird das Signifikantennetz dank eines blankpolierten Spiegels dafür sorgen, ein paar der Beteiligten selber zu Betroffenen und Opfern zu machen. Hin und wieder sage ich mir, dass den Leuten klar sein muss, wie dieses Spiel in the long run zu meinen Gunsten ausgeht, wenn ich nur lange genug durchhalte – damit können sie mir die Leitung des Literaturinstituts auch ohne weiteres Theater anvertrauen. Mein Optimismus, das Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten, ist ungebrochen – und sie haben selbst dafür gesorgt, dass ich nun über eine Erweiterung meines Spektrums verfüge, die in bis dahin ungeahnte Höhen verweist.

Ich gehe den Wagen vor bis zur nächsten Tür, um mir den vollgekotzten Ausgang zu sparen. Draußen ist es kalt, der Bahnhof ist zugig. Ich laufe mit Schirm und Köfferchen die Königstraße hoch und freue mich auf dich. Die Kälte habe ich mitgebracht, aber die Luft ist wunderbar klar. Ich fühle mich nicht mal übermüdet, ein bisschen festlich gestimmt und ein bisschen fremd zwischen diesen Häusern, die ich schon so lange kenne. Wer hier über fünfzehn Jahre Botengänge gemacht hat, kennt jeden Schleichweg; wer seit zehn Jahren als Hausmeister in einem Geschäftshaus am Rand der Altstadt auf Informationen der Wachfirmen und der Müllabfuhr, der Aufzugsmonteure und der Putzfirmen zugreifen kann, weiß viel über diesen blutgetränkten Boden, über die Bosheiten und Machtspiele, den Sexualneid und die Verzweiflung, die bereits die Steine ausschwitzen. Es wird nicht mehr lange dauern, und ich komme auf die Idee, mir dieses Wissen zunutze zu machen und den Leuten Anzeigen für ein Exklusivmagazin verkaufen. Ich weiß in vielen Fällen, wer dafür in Frage kommt, wer es gerade braucht, wer es sich leisten will oder muss…

Längst erloschene Weihnachtsdekoration; Luxusboutiquen, die so früh noch ganz verwaist wirken; anspruchsvolle Juweliere und Uhrmacher, die ihre Auslagen mit stählernen Jalousien schützen; Kaufhäuser, in denen geputzt wird, während die Werbedisplays als erste verheißungsvoll glitzern. Dazwischen immer wieder die Monumente der Abwesenheitsdressur, Banken und Ministerien.


Vabanque – Neumanns zweiter Besuch:

Donnerstag der zweite Juli 92 – ich schreibe wieder ohne Anstrengung. Es geht wie von alleine und fühlt sich gut an, als komme die geistige Verdauung in Gang. Während der dreieinhalb Monate habe ich mir fast jeden Tag Notizen zu meiner Vertretung gemacht – und wenn ich nicht zu kaputt war, kleine Erzählstücke ausgearbeitet. Gerade versuche ich die Ruderszene vom Betriebsausflug zu dokumentieren. Davor habe ich flüchtig die ZEIT durchgeblättert und Stellenanzeigen rausgeschnitten, ich lese dieses Blatt nicht mehr, weil ich das Gefühl habe, dass meine selbsternannten Gegner negative Botschaften lancieren. Ich muss keine anspruchsvollen Artikel durchkauen, um danach eine Depression zu bekommen oder mich dem selbstzerfleischenden Grübeln zu widmen. Seit Dresden hat Harpprecht einige Artikel lanciert, die ohne Namensnennung direkt an mich adressiert waren, gewisse Stichworte oder Daten konnte er nur von Debihla haben – jeder normale Leser kann diese Signale einfach überlesen oder als hysterisches Tremolo abtun, während sie mich an das wütende Rumpelstilzchen auf dem Schlossplatz erinnern.

Es ist halb fünf, als unsere Klingel recht lange läutet. Ich denke erst an die Frau Quwas, die Hausmeisterin unter Valium von der 26, für die ich die letzten drei Wochen abends kontrolliert habe, ob die Eingangstür abgeschlossen ist. In der Regel bringt sie als Dankeschön eine Flasche Sekt, den ich bei der nächstbesten Gelegenheit irgendjemand anderem schenke oder, wie beim letzten Mal, in die Bank mitnehme. Das hat sich in den Jahren ergeben: Ich sehe für verschiedene Leute nach dem Rechten. Erst waren es die Hausmeister von der M 5, zwischenrein Leute aus unserem Haus, die Zahnärztin, der Hausbesitzersohn, der Innenarchitekt, dann die Schließdienste bei der 26 und dem Tonstudio, schließlich kam noch der Luxusschneider aus der M 5 dazu, der für Notfälle einen Schlüssel hinterlegte und mir Telefonnummern aufschrieb, bei denen ich anrufen sollte, wenn eine seiner Vitrinen ausgeräubert wurde. Ich ging davon aus, dass unser Hausbesitzer diese Geschichten initiiert hat, weil er keinen Doktor vertrug und außerdem von seinem Anwalt, der mit einer Fachbereichsleiterin der Volkshochschule bekannt war, Geschichten gehört hatte, die über uns lanciert worden waren. Nachdem uns nach der Promotion dumme Nachfragen nicht auf den Gedanken brachten, nach einer angemesseneren Wohnung zu schauen, wollte er mich zu einer barschen oder ablehnenden Reaktion provozieren, nach der er dann sagen konnte, so gehe das nicht... Es wäre viel einfacher gewesen, wenn wir uns eine andere Wohnung und einen Umzug hätten leisten können. Aber mittlerweile verdanken wir es eben dieser Hausmeisterwohnung, dass meine wenigen Einkünfte reichen. So spiele ich auch auf dieser Ebene den Teufel gegen den Beelzebub aus, mache ich geduldig all den Scheiß, den diese Leute mir zusätzlich anhängen, will nichts dafür und weiß sie in meiner Schuld. Wenn ich mich ganz oben mit Erfolg geschlagen habe, darf ich nicht den Fehler machen, unten bei den kleinen Arschlöchern zu schludern – es sind die Kleinigkeiten, die schließlich darüber entschieden, was von der Größe übrig bleibt! Manchmal überlege ich mir, was sich solche universitären Intriganten einfallen lassen, wenn einer bei gleichem Leistungsvermögen mit den nötigen Familienabsicherungen ausgestattet ist. Sie bremsen ihn wahrscheinlich aus und seine Libido wird umgeleitet. Sie werden ihm Ziele unterjubeln, die kleine Demütigungen möglich machen und ihn im besten Fall in ihr eigenes System von Behinderungen einfädeln; sie werden ihn verstricken und erpressbar machen. Wie viel leichter und eindeutiger war doch meine Rolle als Hilfsarbeitersohn. Ein Taschenbuch-Student, der auf die Arbeitskraft der eigenen Hände angewiesen war –  Bafög hatte ich schon als Teildarlehen bezogen, von dem ich nicht wusste, wie es später einmal zu zurück zu zahlen war; jedes weitere Jahr ohne geregelte Einnahmen stellte ich einen neuen Antrag auf die Verschiebung des Rückzahlungstermins. Was auf den ersten Blick eine einschneidende Behinderung beim Denken und Produzieren sein sollte, kein Geld zur Verfügung zu haben und jeden kleinen Spielraum erst einmal selbst schaffen zu müssen, erwies sich als schützende Komplexitätsreduktion. Andere wären an den kafkaesken Verstrickungen melancholisch geworden oder ausgerastet, während ich erst einmal daran dachte, Geld zu besorgen. Und noch leichter wurde es, als ich zu sehen bekam, was abhängige und auf Gutachten angewiesene karrieregeile Kriecher gar nicht sehen durften. Es dauert nun nicht mehr lange, bis ich kapiere, dass meine selbsternannten Gegner nachlässig genug gewesen sind, den unzensierten Vernichtungswunsch in verschiedenen Kontexten auszuagieren.

Ich gehe zur Tür und melde mich wie üblich mit: „Ja!“ Streng und laut, gedacht für Arschlöcher, die uns auf den Wecker gehen wollen oder für die Valiumtante, die es nicht mehr richtig blickt und der ich alle Sachen dreimal erklären muss. Diese Hausmeisterin war mal ausnahmsweise jemand, der nicht etwa aus Bosheit nichts verstand, sondern aus Stress. In der Innenstadt war für sie mittlerweile zu viel los, die Junkies machten zusätzlichen Wirbel; sie fühlte sich durch die einfachsten Dinge überfordert und griff regelmäßig zu Beruhigungsmitteln. Anders als die Nenntante der Dozénij, die uns am Sonntagnachmittag beim Ficken stört, weil ihr Schlüssel klemmt und sie angeblich das Haus nicht mehr verlassen kann. Das ist symbolisch fast korrekt dargestellt: So eine frigide Schachtel, bei der noch nie ein Schlüssel richtig gesteckt hat, ist sich nicht im Klaren, was es heißt, uns bei einer heiligen Handlung zu stören. Wir lassen sie draußen vor der Tür warten, bis ich angezogen bin. Ich fahre mit ihr in dem kleinen Aufzug runter, verschwitzt dampfend, mit dem Kopf noch ganz woanders. Als sie mir unten am Eingang den Schlüssel hinstreckt, fällt mir kurz ein bösartiges Glitzern in ihren Augen auf – das bestätigt nur, dass hier wieder einmal ein alt gewordenes kleines Mädchen Abpassen spielte, um die lebenslange Unpässlichkeit auszuhalten. Ich probiere den Schlüssel pro forma, obwohl ich schon weiß, dass der gar nicht passen kann, schaue ihn an, sage dann wie nebenbei: „Das ist ja der falsche!“ Und schließe ihr die Tür mit dem zweiten Schlüssel auf. Sie hat die Dummheit ganz bewusst eingesetzt, den vor Jahrzehnten beigebrachten Knigge hat sie gelernt zu pervertieren, um im rechten Augenblick das Gegenüber mittels kleiner Verstöße zu kränken. Sie darf der Dozénij den Gefallen tun, in deren die meiste Zeit des Jahres leer stehenden Wohnung über uns zu warten, bis es soweit ist, um dann in Erscheinung zu treten. Diese Frauen gehen von der postkoitalen Ernüchterung aus und meinen, ich sei jetzt leicht zu kränken und könne mich nicht wehren. Die Schwester des Hausbesitzers will aufgrund der umlaufenden und bis nach Italien reichenden Gerüchte darauf hoffen, uns durch solche psychotischen Veranstaltungen geschwächt anzutreffen, wenn sie für ein paar Tage nach Stuttgart kommt. Die Hilflosigkeit einer alten Dame ist der lautere Sadismus. Ich wende mich desinteressiert um, gerade bin ich so schön abgefahren, mir ist die Situation nicht einmal peinlich. Den Rest erledigt das Prinzip ‚Schneller Brüter’, ich gehe langsam zurück zum Aufzug. Der verlogene Dank und die schief hängende konventionelle Verabschiedung dieser reichen Witwe bleiben zur Hälfte unartikuliert. Ein welkes altes Weib, das sich verpissen kann – wir haben die Frau danach, obwohl sie in den vorangegangenen Jahren regelmäßig aufgetaucht ist, nie mehr gesehen. Die Dozénij hatte als gelernte Bankkauffrau einen italienischen Millionär geheiratet. Die Heirat solcher Frauen unterstand der Vermögenspolitik der Familie, und wenn Sie finanziell fein raus sind, erlauben sie sich sogar den Luxus, über die Institution Ehe zu lästern, weil frau damit nur unglücklich wird. Der Sexualneid hat ganz reale Gründe – mal abgesehen davon, dass ich zu dieser Zeit erst richtig nachvollziehen kann, wie erbärmlich es um die Psyche von Bankkaufleuten bestellt ist. Sie zieht es nach diesem Schwachsinn vor, erst im Herbst nach Stuttgart zu kommen und die Begegnungen mit uns auf ein Minimum zu reduzieren.

Kurz eine Pause, durch die Sprechanlage verzerrte Geräusche vorbeifahrender Autos, das Gekicher und sprachgestörte Gegacker der Nachbarin. Die Frau des Rechtsanwalts steht wohl wie üblich unten und raucht. Nach der Begegnung mit meinem verfehlten Bestatter ist sie einige Monate nicht mehr zu sehen und ihr dauerndes Geknalle mit der Tür des Außenklos der Kanzlei entfällt. Sie furzt nicht mehr alle halbe Stunde zur Simulation von Geschäftigkeit durchs Treppenhaus, um jedes Bonbonpapier einzeln zum Müll zu bringen. Die magische Mimetik hat ihre Bosheit als Kontaktleitung verwendet und ein Blitz ist ihr ins Kreuz gefahren. In den folgenden Monaten muss sie mehrere Bandscheibenoperationen über sich ergehen lassen. Diese Frau, die unfähig ist auch nur einen klaren Satz auszusprechen, aber ständig die Erregung durch Gekicher und Gezappel abfährt, steht kennzeichnend für den Geist des Hauses: Hier haben sich ein paar Erben und Nichtskönner gefunden, deren ganze Energie durch die Simulation gutbürgerlicher Berufe aufgefressen wird. Eigentlich ist es ein Haus lebendiger Leichen – sie zehren von der Kraft vergangener Generationen. Dann haben seltsame Zufälle dafür gesorgt, dass wir hier als Hausmeister gelandet sind. Das Auswahlkriterium war das spezifische Erkennungszeichen eines Bankrotteurs, das der Galerist, von dem wir einen gestörten Hund übernommen haben, für unsere Empfehlung vorweisen konnte – es war glücklicherweise nicht unser Erkennungszeichen. Mit meinem studentischen Status mussten die Unterschiede übersehen oder nicht ernst genommen werden. Allerdings ergab es sich wie von allein, dass wir kurz vor dem Magister gebeten wurden, natürlich gegen gutes Geld, die verkalkte Mutter der Sippe über uns zu betreuen – das Signifikantennetz dieser schwäbischen Hausbesitzersippe hatte bereits eine Lösung vorgesehen, mit der wir diese Nichtskönner nicht weiter infrage stellen sollten. Der dementen alten Dame hätte es dank gelegentlich aufflackernder Bosheiten keine große Mühe gekostet, meinen Uniabschluss auf einen viel späteren Termin zu verschieben. Damit wäre die Geschwindigkeit und Lösungsorientiertheit eines Musik, über die manche Leute auf der Uni staunten, der Ausbremsung unterstellt gewesen. Die Absage hat mich angestrengt, schließlich ist die Überlegung nicht abwegig, dass damit die Hausmeisterwohnung futsch war. Aber erst einmal war nicht viel zu hören, nur eine Schwägerin gab unserem Hausbesitzer zu verstehen, dass ich nicht fähig sei, ein Treppenhaus ordentlich zu wischen. Das war unwichtig, wenn ich daran dachte, welche Ausgaben ich durch die verbilligte Wohnung sparte, außerdem einfach zu übergehen, weil ich wusste, woher diese Ungerechtigkeit kam. Diese schwäbischen Hausbesitzer und Millionäre hatten den kostengünstigen Weg versucht, sich von einer Verantwortung freizukaufen, indem sie die Familienpflicht an einen Hausmeister delegierten. Die teurere Lösung war ein Pflegeheim. Nachdem die Alte dort mehrfach abgehauen war, zweimal wieder bei uns landete, um völlig verwirrt im Taxi zurück gebracht zu werden, war dieser abgefahrene Blutsauger ganz schnell tot: Das Ende einer Geschichte, die sie uns einmal erzählt hatte, denn bis die Nazis aus Brüssel vertrieben wurden, war sie dort eine erfolgreiche Innenarchitektin. Während der Promotion habe ich geholfen, die Wohnung zu räumen, und als das Verfahren abgeschlossen war, hat dieses Haus bereits die ersten Verleugnungen produziert. Längst bevor die Literaturwissenschaft den Heiligen Krieg ausgerufen hat, wurde hier die größte zu erwartende Katastrophe diagnostiziert, und der Wahn begann zu galoppieren. Diese Simulanten und Nichtskönner liefen Gefahr, dass ihr Modus Vivendi von einem Hausmeister widerlegt wurde, der der Sohn eines ihrer früheren Hausmeister war…

Einmal als wir vom morgendlichen Spaziergang zurückkommen, begegnen wir dem Paketboten, der einen Karton Korrekturunterlagen für das Ottobuch wieder mitnehmen will, weil ich im Hause nicht bekannt sei und nach der Aussage unseres Nachbarn ein Dr. Musik irgendwo in der Büchsen- oder Hospitalstraße zu finden ist. Erst mal ist Ruhe für etwa ein Jahr, dann zieht der Kranfjunior in die ehemalige Wohnung der Oma und hat es nötig, immer wieder zu hinterfragen, warum ich weiterhin den Hausmeister spiele. In den nächsten fünf Jahren hilft der Mythos des freien Schriftstellers den Mangel an realen Möglichkeiten zu überspielen – einmal pro Jahr stelle ich den Antrag, mangels geregelter Einkünfte die Rückzahlung des Bafög-Darlehens zu stunden. Nachdem ich den Job im Buchhandel beendet habe, fassen irgendwelche bösen Gerüchte Fuß und die Leute tun alles, um der Flüsterpropaganda, dass wir im Arsch sein sollen, zur Wirklichkeit zu verhelfen – es würde mich nicht wundern, wenn die Debihla einen Termin bei dem Friseur in unserem Haus gemacht hat. Aber gerade die negativen Energien der Leute, die meine Gegner sein wollen, bewirken wiederum einfache Kontaktassoziationen zu den bösen Wünschen dieser kleinen Arschlöcher. Sie entladen sich dort, wo eine Ähnlichkeit als Standleitung taugt.

Ich höre dann: „Hallo, hier ist der Gert Neumann! Ich bin gerade in Stuttgart und da dachte ich, ich schaue bei Euch vorbei. Darf ich hoch kommen?“ Ich überlege kurz, spüre gar nichts, keine Neugier, keinen Widerwillen und antworte: „Ja, komm ruhig hoch!“

Nachdem ich den Hörer eingehängt habe, sage ich zu dir: „Der Neumann!“ Wir haben nicht einmal Stress. Sie schicken ihn, um zu prüfen, was mit der Dresden-Geschichte an Zerstörungen gelungen ist. Manche Wahrheiten kommen einem erst aus der Zukunft entgegen, ich denke an Schlachthof 5. Wir räumen schnell die aus der aktuellen ZEIT ausgeschnittenen Stellenausschreibungen weg, ich lasse das Überweisungsformular fürs Studentenwerk in der Schreibtischschublade verschwinden – obwohl Neumann vermutlich sogar weiß, dass ich im 32. Semester beim zweiten Zweitstudium, das der Uni keine Mark kostet, weil ich keine Veranstaltungen besuche, die Ausgaben für die Kranken- und Sozialversicherung spare. Dann gehe ich zur Tür, mache auf und lehne mich in den Rahmen. Neumann kommt schnaufend die Treppe hoch, er ist dünner geworden und sieht verstresst aus, ein furchtsamer Blick, als er um die Ecke biegt. Ich will ihm die Hand hinstreckten, als ich mit einem Anflug von Erstaunen bemerke, dass er eine völlig heruntergebrannte Zigarette zwischen den Fingern hat, fast in der Hand verbirgt. Die Glut ist schon beim braunen Filterpapier angekommen – die Strategie ist so offensichtlich, dass nur jemand drauf reinfallen würde, der mit seinen Sinnen nicht bei der Sache ist. Ich soll mir also die Finger verbrennen, wieder einmal liegt ein entwendeter Brief so offen auf einem Platz, dass ihn jeder sehen könnte, der sehen kann und ich sehe: Das war eine Delegation, die in Dresden gesetzt wurde, die ich unbemerkt nach Stuttgart mitgebracht habe, die dann auf den Chef des Werbebüros oder auf den Kranfjunior übergesprungen ist.

Dieser Trick aus der Personalführungskiste und die Art, wie ich ihn auflöse, kennzeichnen den Fortgang der nächsten zwei Stunden. Neumann soll aushorchen und runterziehen, verwischen und umdefinieren – und wir lassen keine Falschheit gelten, korrigieren jede Verwischung, unterlaufen die Verleugnung. Sein Auftritt setzt voraus, dass uns die Erfahrungen der vergangenen Monate klein gemacht haben. Er ist mit der Programmierung her gekommen, dass er aufgrund unserer Desorientierung leichtes Spiel hat, dass wir ihn vielleicht sogar um Hilfe bitten. Und wir zeigen eine Macht, die einem erweiterten Repertoire zu verdanken ist und dem Wissen entspricht, dass es nicht gelungen ist, uns einzumauern. Mittlerweile ist allen Beteiligten klar, dass ich besser war, als diese Meinungsmacher und Bedenkenträger erwartet hatten. Aber ich weiß, dass das höchstens für einen künftigen Mythos Musik reicht, noch lange aber nicht für unseren täglichen Lebensunterhalt, und damit ist auf den Mythos geschissen. Wir machen Neumann zu unserem Delegierten: Er darf die Negation und den Willen zu stören zurück zu seinen Auftraggebern tragen. Außerdem die zusätzliche Information, dass wir noch auf ein Angebot warten, dass unsere Geduld aber begrenzt ist. Vielleicht nicht mehr lange, weil unser Machtvolumen sich bereits im Focus der internationalen Bank befindet, bei der ich die letzten Monate gejobbt habe.

Mein Gewahrwerden der Strategie geht direkt über in eine Abfälschung der Bewegung. In einem weichen Bogen geht die Hand ein wenig seitwärts, um ohne ein Stocken oder einen Rückzieher mit den Fingern nach der Kippe zu greifen. Ich unterstreiche diese Geste mit der Feststellung: „Ich nehme Dir erst mal die Zigarette ab!“ Neumann versucht meinen Fingern auszuweichen, ruckt dann zurück, drückt die Glut in den Ärmel seiner über den Arm gelegten Jacke und ruft schon währenddessen tuntig aus: „Oh, was habe ich jetzt da gemacht!“ Mittlerweile bist du zur Tür gekommen, hast dir das Schauspiel angesehen und sagst in einem missbilligenden Ton: „Was ist das denn? War das die Begrüßung?“ Du stellst dich über ihn und behandelst ihn als Deppen, nimmst ihm einfach die Jacke ab, kontrollierst den Fleck und pustest die Asche weg, bringst die Jacke ins Schlafzimmer. Währenddessen versuche ich noch zweimal, ihm mit spitzen Fingern den Zigarettenstummel abzunehmen. Er zickt rum wie eine launische alte Schwuchtel, gibt ihn mir nicht. Kurz drängt sich mir der Gedanke auf, dass er mich provozieren möchte, ihm eine rein zu hauen. Wir gehen ins Arbeitszimmer, ich begleite ihn bis in die Mitte des Raums. Er setzt sich auf das rechte Sofa, auf den Platz, auf dem er letztes Mal schon gesessen ist. Ich gehe zum linken Sofa, rutsche auf die Seitenlehne und bleibe dort auf dem Sprung. Das ist die unbequeme Haltung einer angespannten Feder, leicht vornüber gebeugt, die Oberschenkel pressen sich an den gepolsterten Lederwulst, während ich mit den Fersen das Gleichgewicht halte, aber sofort losschnellen kann.

Er beginnt gleich zu erzählen: „Ich habe gerade drei Stunden bei der Bosch-Stiftung verbracht. Martin Walser hat mich für ein Frankreichstipendium vorgeschlagen. Die Leute waren gut, sie haben sogar meine Bücher gelesen, die Unterscheidung Wirklichkeit/Realität war ihnen geläufig...“

Mir ist sie gerade nicht geläufig, das hört sich tonlos an, wie auswendig gelernt. Ich bin nicht bereit, mir darüber Gedanken zu machen, ob die Wirklichkeit real ist und die Realität wirklich oder ob das Reale unerreichbar ist wie Kants Ding-an-sich und die Wirklichkeit im Sinne Lacans symbolisch verfasst sein mag, während er die Götter in der Dimension des Realen situiert. Welche Anmaßung, wenn einer Neumann gelesen hat, kann er mit ihm übereinstimmen oder nicht, das sagt noch nichts über die humorlose Inhaltsleere dieses Umstandskrämers. Tatsächlich gibt es keinerlei Notwendigkeit ihn zu lesen, wenn man nicht dafür bezahlt wird oder sonst irgendwas dafür erwartet. Vor meinem inneren Auge beginnt sich ein weiteres Netz zu knüpfen. Walser sitzt in Nussdorf, das ist keine 25 Kilometer von Sigmaringen entfernt, wo der Sohn der Hausmeisterfamilie von nebenan, beim Bund am Bodensee, mit einer Lungenentzündung umklappte. Kontaktassoziationen laufen über das Wort Hausmeister, über das Wort Lungenentzündung, das die Debihla bei mir zu Induktionszwecken strapaziert hat und über die Drehpunktperson Walser, der den Vorschlag für einen halbjährigen Parisaufenthalt unterstützt. Die Welt ist klein und die Mimesis befördert die Energie in rikoschettierenden Sprüngen – dafür kann Walser mit Sicherheit nichts. Sie zündet an den Ähnlichkeiten von Erwartungen und Ängsten, an der Korrelation der guten oder bösen Wünsche – die Blitze verklammern Räume und schießen quer durch die Zeiten.

Neumann versucht durch einen schlabbrigen Erzählton die Negation rüberzubringen: Ihm wird mit Achtung begegnet, man widmet ihm drei Stunden Zeit, während es bei mir maximal eine halbe Stunde war. Er gibt damit zu verstehen, er habe andere Beziehungen, kann sie nutzen und kann sich auch erlauben, mit einem Achselzucken des Bedauerns zu sagen. „So ist es eben bei dir leider nicht verlaufen!“

„Dir ist klar, dass es einen direkten Bezug zwischen der Bosch-Stiftung und der Volkshochschule gibt“, weist meine Frau ihn auf die Delegationslinie hin: „Das beeindruckt uns nicht mehr, denn wir sind nicht mehr drin!“ Er soll ruhig sehen, dass uns dieses Abhängigkeitsverhältnis nicht mehr berührt, sondern als ein Zeichensystem, als eine Interpretationsanweisung verstanden wird. Als ein Signalement, das er mitgebracht hat und für das er gerade stehen soll, weil es auf jene Beziehungen verweist, in deren Auftrag die Dresden-Geschichte initiiert wurde. Dass der deutsche Ableger der PARISER BANK mit der Bosch-Stiftung Geschäfte macht und die Kundenberater regelmäßig zu kulturellen Events eingeladen werden, lasse ich unter den Tisch fallen – wenn er es nicht weiß, muss ich es ihm nicht unter die Nase reiben.

Du zeigst anfangs ein kolossales Desinteresse. So demonstrativ, dass ich mir überlege, ob es ein Signal ist, Neumann rauszuschmeißen. Während er mit der Bosch-Geschichte nervt, überlege ich, ob ich rabiat werden soll, ich bin wieder gut in Form. Aber dann kapiere ich, dass du Neumann etwas vorführst: Eine grandiose Improvisation, die so gut gelingt, dass man meinen könnte, wir haben sie davor eingeübt. Anfangs machst du das Fenster auf, um den Rauch abzulüften, er muss den Kopf einziehen. Du nimmst die Schokolade mit, die noch von vorhin neben dem Platz liegt, auf dem Neumann nun sitzt. Dann als er versucht zu zerreden, eine Negation rüberzubringen, die Sache und damit mich kleiner machen möchte, beginnst du gelangweilt mit dem Schokoladenpapier zu spielen. Schon als du die Schokolade geholt hast, traut sich Neumann nicht mal zu gucken. Er nennt einen der anderen Bewerber einen „guten Mann“ und du fragst ihn: „Beherrscht Du mittlerweile moderne Personalführung? Solche Floskeln haben jeden Inhalt, jede Psychologie zu ersetzen.“ Er macht eine abwehrende Handbewegung und wendet sich komplett ab, da ist nichts mehr vom kulturschwulen Flirtverhalten übrig. Er ist körperlich nicht präsent, als ich eine seiner Aussagen korrigiere, nickt er nur abwesend, widerspricht nicht einmal. Während du die Staniolkugel über den Schreibtisch rollst, unterstreichst du, wie unwichtig das Gelaber für uns geworden ist und ich nehme jede Gelegenheit wahr, ihn zu korrigieren: Das halte ich für falsch... Das ist unstimmig... Das geht doch einfach von den falschen Prämissen aus usw. Wir sind überzeugend, auf diese Machtvolumen ist er nicht vorbereitet worden. Er muss jede Korrektur akzeptieren und oft sogar aufnehmen und weiterspielen, um sie damit für seine Rolle erträglicher zu machen. Als du das Fenster wieder schließt, haben wir die Partie gewonnen. Bis dahin sitze ich auf der Lehne meines Sofa – einmal habe ich die Assoziation, dass ich, so wie ich hocke, ihm was vorscheißen könnte – es gab Könige, die ihre Audienzen auf dem Nachtstuhl abhielten. Jetzt setze ich mich runter und damit um einiges bequemer. Die Geschichte läuft leiser und langsamer weiter.

Bei der nächsten Gelegenheit versuche ich, ihn auf seine Rolle in Dresden und die Umstandskrämerfrage festzunageln: „Deine Frage nach der Identifizierung eines Scharlatans ist eine Falle gewesen! Wenn ich gesagt hätte, dass ich hier im Raum nur einen weiß, von dem ich mit Bestimmtheit sagen kann, dass er keiner ist, hätte ich eine Negation auf mich geladen und mir sagen lassen müssen, dass ich selbst schuld an der Absage bin. Der Begriff ist in diesem Kontext ganz negativ besetzt! Mein Vater hat gern gesagt: ‚Der, der’s zuerst gerochen, dem ist er aus dem Arsch gekrochen.‘ Das ist eine einfache, aber in diesem Fall treffende Psychologie. Ich denke bei Scharlatan an die Professoren und Gremienschwulen, die sich als moderne Vampire erwiesen haben. An die Arschlöcher, die die nächste Generation aussaugen und in die Irre führen, die unnütze Umwege und Reservate schaffen, um den Gang der Macht und die eigenen Einflüsse zu gewährleisten. Das sind Simulanten der Selbstheit, die die Räume besetzt halten und pervertieren, in denen heute eine Veränderung vorbereitet werden könnte. Dabei ist es doch kennzeichnend, dass es die Kinder ehemaliger Nazibeamter sind, die ihr Erbe erfolgreich mit Marx und Freud diffundiert haben, um jetzt auf Macht und Einfluss zu setzen.“

An seiner Reaktion fällt mir auf, dass er ein bisschen zu wenig daran arbeitet, die Intrige zu verschleiern, in die er verwickelt wurde. Er hört sich dieses Urteil einfach an und nickt bestätigend dazu. Unter normalen Bedingungen sollte er jetzt eine Rechtfertigung zeigen. Daraus ist zu schließen, dass wir die Intrige sehen sollen, dass daran gearbeitet wird, uns zu paranoisieren – Paris ist das Passwort, mit dem sie versuchen, meinen Kontakt zu der Bank zu vergiften. Nachdem es nicht möglich war, uns den Mut abzukaufen und uns klein zu machen, wird nun mit der approbierten Methode eines in der Ehe unterlegenen Muttchens versucht, dass wir als Überlegene nichts von der Kraft haben, sondern eben an der Überlegenheit scheitern. Da die Krüppelzüchter nicht wissen können, dass ich mir die Bank ersparen will, soll es wohl so aussehen, als versuchen sie einen Vorbehalt gegen die Bank einzupflanzen. Das heißt tatsächlich, dass ich mich an die Bank klammern soll, also wollen, was ich nicht will und mich damit der Haltlosigkeit ausliefern. Ob sie es wissen oder ob es eine Wirkung des Signifikantennetzes ist: Für mich wird damit ein ähnlicher Double bind inszeniert, wie in den ersten Wochen auf der Bank und dem Versuch, ein Pöstchen in einem Verlag mit ein paar Buchbesprechungen für uns zu gewinnen.

Damit die mich anfallende Schwäche zu keiner Lähmung wird, drücke ich auf die Tube und erkläre Neumann die Strategie, in die er eingespannt worden ist: „Die medialen Verleugnungen und die realen Nachstellungen, die scheinbare Naivität der Delegierten und die zelebrierte Dummheit der Interventionen, die mit jeder Wiederholung mehr wehtun soll… Diese dauernden kleinen Nadelstiche unterstehen alle dem gleichen Zweck: Sie sollen einen an der eigenen Vernunft verzweifeln lassen und in den Wahnsinn treiben! Natürlich sind es nur Nadelstiche, aber sie gehorchen einer Logik der Akkupunktur. Hier hat jemand – und ich bin mir sicher, dass für die psychodynamische Feinabstimmung eine Frau zuständig ist, so gut würde das vermutlich nicht mal eine akrobatische Tunte hinbekommen ­– die Analyse der typisch weiblichen Strategien der bürgerlichen Familie zielgerecht gegen die Intention der Analyse gesetzt. Die systemischen Einsichten eines Capra sind auch für den Zauber der Abhängigkeit und die Strategien der Gegenaufklärung einsetzen. Und weil Du brav mitgemacht und vielleicht noch nicht einmal kapiert hast, zu was die konfliktuelle Mimesis führen soll, bekommst Du nun als Danke-Schön Paris gesponsert.“

Neumann nickt bedächtig, als habe er uns diese Einsichten längst zugetraut und erzählt dann: „Ich habe in den letzten Jahren immer wieder Einladungen zu Lesungen im Lions Club bekommen. Einmal hat mir dort ein Rechtsanwalt erklärt, was ein Sturztrunk ist. Seht das doch bitte als Metapher für die Angelegenheit des Gründungsrats. Sturztrunk heißt, wenn ein Autofahrer betrunken Fahrerflucht begeht und sich dann zu Hause, in Erwartung der Polizei, sternhagelvoll laufen lässt. Sein Anwalt kann dann argumentieren, dass er erst aufgrund des Schocks zu Hause gesoffen hat. Etwa so haben die sich gesagt, kann man das Problem der Konzeption nachträglich lösen.“

Damit versteckt er sich hinter der Schilderung einer blödsinnigen Sackgasse. Das soll also heißen, dass die Entscheidung des Gründungsrats der Sturztrunk war, der verleugnen sollte, dass die Entscheidung längst davor gefallen war. Das ist kein erfolgsversprechendes Plädoyer, sondern wieder der unterschwellige Versuch einer Paranoisierung. Also bringe ich die Geschichte gleich auf einen Nenner: „Ich möchte klarstellen, dass jemand nicht paranoid ist, wenn er realen Verfolgungen ausgesetzt wird, sondern nur, wenn er sich die einbildet. Und die Leute, die meinen, meine Gegner sein zu wollen, scheinen unter dem Zwang zu stehen, sich ständig damit zu verraten, was sie gerade ausgeheckt haben. Das beste Heilmittel gegen die mit dieser Verfolgung verbundenen Folgen ist, sehen zu können, wie diese Arschlöcher in die Irre gehen, wie sie sich verrennen und dann nicht mehr zurückkönnen. Ich bin selber der Köder, je ausgelieferter es aussieht, je weniger Ressourcen zur Verfügung scheinen, je mehr wiegen sich diese Krüppel in Sicherheit. Umso sicherer ihnen die Beute scheint, umso leichter tauche ich im letzten Augenblick weg und schaue zu, wie ihre Delegierten scheitern und auf der Strecke bleiben. Vermutlich hätte ich mich noch Jahre daran abarbeiten können, die an allen Ecken und Enden auftauchenden Störfaktoren auszuhebeln. Man hätte mir nie die Chance eingeräumt, mich vor so einer illustren Zuhörerschaft wie in Dresden zu profilieren, wenn ich nicht alle Brücken abgebrochen hätte, ihre Einflüsse ausgeschaltet hätte. Den Mut musst Du erst mal haben, dass kein Zugriff mehr übrig ist. Nur aus diesem Grund haben diese Parapsychotiker die für mich bisher größte Möglichkeit aufgetan. Wenn sie nicht dazu gedacht war, mich mit einer Professur zu versorgen, hat sie mich immerhin mit einem Repertoire an Erfahrungen und Einsichten versehen, über das andere gewöhnlich erst dann verfügen, wenn sie zu ausgebrannten, zynischen Machtprothesen geworden sind.“

Er hört nur unaufmerksam zu und meint dann, einfach zu übergehen, was ich gerade erzählt habe. Aber vielleicht ist es für ihn so absurd und aus der Welt, dass er nichts davon verstehen will. Auf jeden Fall sagt er jetzt: „Du hast in Leipzig einen Fehler begonnen!“

Ich übersehe, dass ich gar nicht in Leipzig war und den Doppelsinn eines begonnenen, also noch andauernden Fehlers, bemerke ich nicht einmal. Ich brause auf, erwidere mit Timbre in der Stimme: „Ich konnte nur einen Fehler machen, nämlich nicht hinzukommen! Es war niemals vorgesehen, dass ich diese Stelle bekomme. Es brauchte nicht einmal meine sieben Thesen, um mich zu profilieren. Sondern ich musste nur die Kapazität haben, dort gegen all die negativen Zeichensetzungen überhaupt aufzutauchen, alles weitere war ein acte graduit! Ich bin nicht eingeladen worden, um mich dort zu beweisen, sondern aus Gründen der Entkräftigung. Ich sollte zweifeln, ob ich überhaupt noch etwas hinbringe! Geplant war eine jener Verstrickungen, dank der die Fachleute nicht mehr nachvollziehen können, warum ein begabter und durchsetzungsfähiger junger Autor auf einmal in Schweigen und Selbstzerstörung abgesackt ist. Weil ich nicht mit dieser parapsychotischen Vereinigung identifiziert bin, hat das nicht geklappt. Aber deswegen bist Du ja hier!“

Neumann schaut in sich rein und reagiert nicht. Das soll so wirken, als habe er mit diesen Schlussfolgerungen nichts am Hut. Also mache ich weiter: „Eine vielleicht nicht unwichtige Nebenwirkung ist, dass die Intriganten aus der Deckung gelockt wurden und die Masken für die Augen von Kollegen oder Dienstherren verrutscht sind – mittlerweile wurde entschieden, dass die Kienbaum Unternehmensberatung die Effektivität der Geisteswissenschaften in Stuttgart untersuchen soll. Natürlich wird da ein Eichenlaub mit Schwertern rauskommen, aber entscheidend ist, dass andere als Zeugen zu sehen bekommen, in was für ein ausgetüfteltes System von Behinderungen wir schon seit Jahren verstrickt worden sind. Ich habe nicht vor, Kienbaum irgendwelche Informationen zukommen zu lassen, um der konfliktuellen Mimetik neuen Zündstoff zu liefern. Trotzdem wird für den einen oder anderen auf jeden Fall nachvollziehbar, welche Kapazität wir in den vergangen Jahren entwickelt haben.“

Neumann lächelt und hat meinen angeblichen Fehler vergessen oder er traut sich nicht, wieder darauf zurück zu kommen. Zur Vernebelung versucht er meine Eitelkeit auszukitzeln und unterstreicht: „Du warst so gut, besser geht es nicht, aber es sollte nicht sein!“ Als unterstehe er einem Geständniszwang, der noch die kleinsten Details dieses Schweinespiels durchsichtig zu machen hat. Eine Sache, die mir schon in Dresden komisch aufgestoßen ist, muss nun noch einmal angesprochen werden. Vielleicht will er nahelegen, wie hoffnungslos unsere Geschichte tatsächlich aussieht. Neumann sagt plötzlich: „Du kannst dir nicht vorstellen, wie fies der Gründungsrat mit den Kandidaten umgesprungen ist. Das hast Du ja an dem gesehen, den sie rausgeschickt haben, als Du kamst...“ Ich lache kurz und übergehe das Gelaber, bringe die Situation auf einen Nenner: „Als ich ihn sah, wusste ich bereits, dass er so präpariert worden ist, damit mich seine Verwirrung anstecken soll. Das habe ich in der Folge als Vorahmung auf den Begriff gebracht!“ Dabei fällt mir seine seltsame Kennzeichnung des Typs auf. Vermutlich will er nahelegen, dass der Typ nicht zu den Bewerbern gehörte! Er war auf jeden Fall das speziell für mich bereit gestellte Empfangskomitee.

Das passt zu dem linken Versuch, runterzuziehen und abzuwerten, einzuschüchtern – wir sollen sehen, was für eine Übermacht uns gegenübersteht. Neumann gibt ständig mit irgendwelchen Kleinigkeiten zu erkennen, wie abgekartet das Spiel ist. In allen möglichen Abschweifungen tauchen Winke und Hinweise auf, die dazu gedacht sind, uns zu paranoisieren. Aber das wissen wir, und die dazu gehörenden Gesetzmäßigkeiten haben wir kapiert. Als er nach und nach nicht mehr übersehen kann, dass uns diese Andeutungen nicht runterziehen, sondern bestärken, will er rauskitzeln, auf wen oder was wir mittlerweile zurückgreifen können. Neumann will nicht hören, was wir kapiert haben, das ist ihm völlig egal. Sondern er hat rauszubekommen, ob es mittlerweile Auswege gibt, von denen sie noch nichts wissen. Und weil es im Rahmen der Literatur nichts gibt, können wir auch nichts verraten. Bei einer passenden Gelegenheit sage ich: „Die Beteiligten sind uns egal. Die Verzwergung der Intrige sorgt vielleicht dafür, dass der schon länger angeschossene Minister Engler auf die Dauer gegangen wird. Das beeindruckt uns nicht, er hat mir einmal entgegen geschrien: ‚Hau bloß ab Du Hund!‘ Wir müssen diesen Rat nur beherzigen, also den sozialen Körper der Geisteswissenschaften verabschieden, und diese Leute haben keinen Zugriff mehr. Alles hängt an unserer Einwilligung, nur solange wir bereit sind, auf dem Spielfeld zu bleiben, können sie versuchen, uns zu ärgern oder zu quälen. Aber warum sollten wir? Ohne die Erwartung regelmäßiger Zahlungen haben wir keinen Grund. Wobei der Vorbehalt nicht übersehen werden sollte, dass mein intellektuelles Ju-Jutsu mit dem entsprechenden finanziellen Hintergrund noch effektiver wird.“

Neumann lässt mein unterschwelliges Angebot stehen, wie er die anderen Widerlegungen gelten lässt. Er versucht die Negation umzuverteilen, nennt andere, die von meiner Konzeption begeistert waren, mittlerweile sogar den Kritiker der ZEIT: „Baumgart hat dich gelobt und einen Paradiesvogel genannt. Alle haben bedauert, dass es in Deutschland heute noch nicht soweit ist, einen solchen Mann mit einem eigenen Institut auszustatten!“ Außerdem macht er Schädlich nieder: „Der ist ein Versager, an den denke ich bei Scharlatan. Das ist einer, der wie ein Zauberer auf die Bühne kommt, und dabei beherrscht er nur ein paar Taschenspielertricks. Gut, dass er so leise sprach, muss nicht unbedingt eine Strategie gewesen sein. Er ist krank, besser geht es nicht mehr.“

Ich weise nebenbei darauf hin, dass diese Vorgehensweise bekannt ist: „Wenn man einen fertig machen will, ist der Prüfer nicht zu verstehen oder der Richter oder der, der das Verhör leitet! Das ist das typische totalitäre Vorgehen. Hat Schädlich wohl noch aus der DDR mitgebracht, als sie ihn im Westen bis zur weiteren Verwendung bei den Sprachwissenschaften unterzubringen wussten!“

Neumann redet mir dazwischen: „Schädlich ist einmal mein Freund gewesen, aber nun...“ – er beendet den Satz nicht, um ihn uns als Zielscheibe für eine Abrechnung zu empfehlen.

„Mit Hein, Baumgart, Muschg, dem Rektor und Dir hatte ich doch ganz schön viele Stimmen!“ rechne ich ihm vor: „Wenigstens für die Normalität der nachträglichen Rechtfertigung, denn wenn ich mich recht erinnere, hast Du nicht den Mut gehabt, hinter mir zu stehen.“

„Nein, das siehst Du zu eng“, wehrt er sich: „Wie ich erfahren habe, bekam Muschg im Hotel eine Suite zur Verfügung gestellt und sie haben auch dir eine Übernachtung angeboten. Vielleicht hättest Du am Vorabend nur zur Stelle sein müssen, aber Du wolltest ja nicht! Ein Hein ist beeindruckt gewesen, aber der ist schwach und kann seine Meinung nicht durchsetzen.“

„Der Blickkontakt war positiv, nur ein bisschen verschüchtert. Hein saß ja neben dir, ich wusste nicht, wer das ist und anhand Schädlichs Vorstellung konnte ich nicht mal den Name rauszufiltern“, fällt mir ein: „Das Gespräch mit Grass, das ich im März gelesen habe, war alles andere als schwach! Erst anhand eines Fotos in der ZEIT habe ich übrigens kapiert, wer das neben dir war. Die Zahnstellung ist mir aufgefallen, die erkannte ich wieder: Das war also der Christoph Hein!“

Neumann hat es prompt nötig, ihn abzuwerten: „Der ist schwach und haltlos. Einer, der es nicht leicht gehabt hat.“

Er scheint ihn in Schutz zu nehmen, um ihn als weiteres Opfer zu präsentieren, oder er möchte seine Schuld auf möglichst vielen Schultern verteilen. Keine der Einschätzungen nehme ich ihm ab: „In der ZEIT war das allerdings eine starke Selbstinszenierung. Kein bisschen haltlos, ehe eine realistische Unterstreichung des Schwankens der Welt. Der Tenor lag vor allem auf der Ablehnung aller Arten von Selbstgerechtigkeit. Und so wie schon einmal versucht worden ist, mir eine unverschämte Souveränität zu unterstellen, um mich dann zum Abschuss frei zu geben, könnte man diesem Pfarrhausgewächs eingegeben haben, dass Musiks Überlegenheit tatsächlich nur auf Selbstgerechtigkeit beruht habe.“

Neumann schüttelt abwiegelnd den Kopf: „Hein ist ein unzuverlässiger Zeitgenosse, ein Umkipper – ich glaube nicht, dass Du auf seine Stimme wirklich vertrauen kannst. Vielleicht solltest Du es mit Baumgart versuchen, der war wirklich beeindruckt.“

„Das spielt glücklicherweise jetzt keine Rolle mehr“, breche ich diesen unfruchtbaren Versuch ab: „Wir haben mittlerweile einiges jenseits der Geisteswissenschaften probiert.“

Weil wir seine Informationen verwenden könnten, wird keine der Aussagen wirklich stimmen, aber jede zu dem Versuch taugen, uns zu manipulieren. Sie wissen, dass Muschg, von dem ich einige gute Sachen gelesen habe, auf den Brief, mit dem ich für den ‚Philosophischen Sperrmüll‘ Interesse freisetzen wollte, nicht reagiert hat. Nun wird suggeriert, ich könne mich natürlich nicht an Baumgart sondern an Hein wenden. Fest steht tatsächlich, dass ich keinem der Beteiligten vertrauen kann, im besten Fall kann ich die Namen, aber nicht die Menschen für mich arbeiten lassen. Die Arschlöcher hinter Neumann – er hat nicht nur eines, er hat mindestens zwei – denken noch immer, sie können uns wie bei Krabsls Lektorat um unsere Zeit und Energie betrügen.

Also strapaziere ich die Bank. „Ich habe jetzt drei Monate auf einer internationalen Bank gejobbt und festgestellt, es geht nur um die Macht. Und das interessante ist, dass eine personelle Macht dort ein bisschen besser ankommt, als eine, die nur einer Institution oder einer Beamtenlaufbahn zu verdanken ist. Die Banker haben Lunte gerochen und schon gezeigt, dass sie dafür etwas bieten werden! Ein Kundenberater auf der PARISER BANK verdient um die 8000 Mark. Mein lieber Neumann, das ist weit jenseits dessen, was ein halbwegs erfolgreicher Autor bei uns zustande bringt! Und dabei sind das bestangesehene Halbkriminelle und von der Politik geförderte Schmarotzer! Die Konzeption habe ich übrigens an den Bankdirektor weitergegeben, und das hat den Mann so beindruckt, dass zwei Tage später ein hohes Tier aus Saarbrücken zu Besuch war und sie sich in meiner Nähe darüber unterhalten haben, dass sie eine eigene Konzeption brauchen.“

Das gefällt Neumann gar nicht: „Was, das kannst Du doch nicht machen! So was sind Interna, die ganzen Informationen im Umfeld eines solchen Auswahlverfahrens sind nicht für die Öffentlichkeit gedacht.“

„Genau deshalb werde ich in absehbarer Zeit eine detaillierte Dokumentation veröffentlichen.“ Er zeigt einen so starken Verdrängungseffekt, dass ich mir nicht verkneife, zu sagen: „Und da gehört natürlich das heutige Gespräch und auch die künftigen Interventionen dazu. Das wird alles fein säuberlich in philosophische Lehrjahre verwandelt. Als Fiktion ist es unangreifbar, was nichts daran ändert, dass sich einige Auftraggeber in den Arsch beißen. Und das werde ich genau dann veröffentlichen, wenn mir die Bank den finanziellen Background bietet.“

Ich beziehe mich auf die Bank, gerade weil bisher nichts Konkretes zustande gekommen ist. Ich kann damit eine falsche Spur legen, ich sehe Neumann an, wie mit solchen Infos Druck zu machen ist. Wenn ich daran denke, mit welchem Ehrgeiz alle möglichen Leute daran arbeiten, mich von meinen Zielen abzubringen, erspare ich mir vielleicht damit die Bank sogar. Schließlich gibt es eines, was die Banker den kulturellen Hungerleidern mit ihren Stellenkürzungen wirklich voraus haben: Geld! Ein Späßchen, das ich Riskner gleich am Anfang erzählt habe, erzähle ich jetzt Neumann: „Weißt Du, wenn ein paar Banker auf einer Abendveranstaltung Konversation pflegen, legen sie Wert darauf, über Kultur zu reden. Wenn ein paar Intellektuelle und Schriftsteller denselben Raum besiedeln und ihre Zeit teilen, sprechen sie nur über Geld! Das ist eine Form der gesellschaftlichen Arbeitsteilung, die darauf beruht, beide Gruppen beherrschbar zu machen.“ Die Folgerung habe ich Riskner natürlich nicht gegönnt.

Jetzt ist es an mir, die Fragen zu stellen. Wir haben Neumann nicht eingeladen, aber wenn er schon mal da ist, braucht er uns keine Geschichten erzählen, die schon durchgekaut wurden und die uns nicht mehr interessieren. Zuerst einmal will ich wissen, wer ihn auf die Idee gebracht hat, mich einzuladen oder besser, mich einladen zu lassen. „Wer in deinem Umfeld hat ein Interesse an einem solchen Schweinespiel gehabt.“ Er versucht mich ohne zu zögern zu verarschen. Als müsse er sich nicht erinnern, als habe er die Antwort wegen ihrer Absurdität genau so vorbereitet: „Mein Küchentisch! Ich habe die verschiedenen Bewerbungen durchgesehen. An diesem Tisch hatte ich ein Blatt in der Hand, das war fast nur schwarz. So dicht, so viel auf engstem Raum, das hat mich interessiert – und so begann ich zu lesen...“

An irgendwas erinnert mich der Küchentisch. Es war nicht nichts, so wie er das gesagt hat, ist darin eine Wahrheit versteckt. Er bietet eine Antwort, ist nur nicht bereit, sie mitzuteilen. Schon beim ersten Besuch hat es einen Hinweis auf Grass im Zusammenhang der Selbstdefinition Neumanns über die esoterische Sprachphilosophie gegeben. Neumann habe Grass Anfang der achtziger Jahre einmal auf Hamanns Denken aus der Sprache angesprochen, als der einen Text über Nicolas Born vorlas, und Grass sei richtig böse geworden, wie man etwas so spitzfindiges und gleichzeitig so dummes über den Mann sagen könne... Er hat sich letztes Jahr durch einen ähnlichen Negativbezug auf die ZEIT bei uns eingeführt. Sie haben einen seiner Artikel nicht gebracht – und mit dieser Information hat er vorgeführt, was für gute Kontakte er zu den einzelnen Autoren der ZEIT pflegt. Ein Neumann darf nicht nur stolz darauf sein, mit einem Grass zusammenzusitzen, sondern er gibt damit zu verstehen, warum ihn die Auftraggeber für sich einspannen können. Über Rowohlts Literaturmagazin und Nicolas Born geht ein klarer Bezug zu den Schlaffers: Wer mit diesen Leuten zusammenarbeitet, muss sich vorsehen, keinen Hirntumor zu bekommen. Ich erinnere mich an eine Dokumentation zu Schlöndorffs Verfilmung der Blechtrommel. Dieser Tisch, an dem angeblich meine Bewerbung aus einem Stapel anderer herausgefischt worden ist, offenbart über diverse Querbezüge einen von Neumanns Auftraggebern. Auf die Dokumentation folgte ein Interview mit Grass: Er saß mit zwei Journalisten an einem grob gezimmerten Holztisch, eine Flasche Wein und ein paar Gläser standen drauf, und immer wieder kam ein Schäferhund ins Bild, der sich während dem Gespräch unter dem Tisch zusammenkringelte. Jetzt stellen sich dieser Hund und der dazugehörige Tisch vor der inneren Optik ein, das ist ein Bezug, der mir für einen Moment zeigt, wie und mit welchen Einflüsterungen die Sächsische Staatskanzlei für dieses Schweinespiel eingespannt werden konnte. Wenn ich daran denke, dass eine Debihla als ehemalige Sekretärin Harpprechts von Grass für die Assistenz der Geschäftsleitung empfohlen worden war, habe ich die nächste Schaltstelle.

Neumann, am Küchentisch, dreißig Bewerbungen vor sich und auf einmal, wortwörtlich, sieht er nur schwarz. Das ist eine Negativprogrammierung: Er würde für uns gern nur schwarz sehen, und er versucht diese Einschätzung zur Nachahmung zu empfehlen, wenn er behauptet, er habe früher auch so dicht geschrieben. Dieses Schwarz am Küchentisch hat den Assoziationsrahmen Adenauerzeit: Oskar bringt den Leuten, die unfähig sind zu trauern, Zwiebelschneiden bei, damit sie wenigstens weinen können. Der grob gezimmerte Tisch wird zu jenem Verweisungszusammenhang, in dem Neumann auf mich aufmerksam gemacht wurde.

Neumann bemerkt, wie es in mir arbeitet und versucht zu diffundieren: „Ein weiterer Text ist mir von einem anderen jungen Mann aufgefallen. Er verzichtet ganz auf eine Ich-Perspektive, sondern versuchte durch eine Zitatkollage zum Sprechen zu kommen. Das war beeindruckend gut, aber ich bin mit ihm nicht durchgekommen…“

Ich falle ihm ins Wort und sage: „Das wissen wir schon. Durch die Erfahrung, dass Du mit mir mittlerweile nicht mehr durchkommen wolltest, habe ich mir immerhin überlegt, ob ich die Geisteswissenschaften nicht abstoßen und für mich erledigen soll. Die Branche wechseln, in der ich nicht nur auf keinen grünen Zweig komme, in der mir einige ihrer Vertreter nach dem Leben trachten. Was ich über die Wirkungsweisen der Macht kapiert habe, ist vermutlich in einer internationalen Bank viel gefragter!“

„Ich habe ein bisschen das Gefühl, dass Du dich verbohrt hast“, er setzt auf Verleugnung und Zerreden.

„Das ist kein Gespinne! An der Reaktion der Leute hier im Haus war zu sehen, dass ihnen eine andere Interpretation der Geschichte zugespielt worden ist. Denen war nahe gelegt worden, dass wir erledigt waren und sie uns nun gefahrlos abpassen und quälen durften. Sie waren darauf programmiert worden, uns nach Dresden einzukesseln, um dafür zu sorgen, dass wir uns nicht mehr raus trauen sollten. Dresden war nicht die Hauptsache! Es war zu sehen, dass diese Botschaft ganz fein lanciert und abgestimmt gewesen sein muss. Die Leute kamen nicht einmal auf die Idee, dass jemand, der in der Lage war, dort vor einem Minister eine Konzeption vorzutragen, noch ganz anderes umsetzen konnte. Entscheidend war, was in unserem Umfeld mit dem Stichwort Absage, mit dem Thema Niederlage, angerichtet worden ist. Die Leute waren fest davon überzeugt, dass sie uns an die Wand drücken konnten, weil ich jetzt nicht mehr in der Lage sein sollte, mich zu wehren.

Das begann schon damit, dass mir bei der Übergabe der Zahlungsanweisungen in der Landeszentralbank ein Pförtner, der mich noch aus der Zeit kannte, als ich zweimal pro Woche die juristischen Fachbücher brachte, versicherte: ‚Mit Ihnen geht’s bergab.‘ Es war kein Späßchen, als er im ersten Stock im Aufzug aufs Erdgeschoß drückte und aussah wie ein verkniffener Sadist. Oder als der Rechtsanwalt unseres Vermieters gemeint hat, er könne den entscheidenden Streich führen und sich zum Sprachrohr der bösen Wünsche machte. Als das ganze Haus angespitzt war, unseren Untergang zu erwarten, versuchte er mich in der ersten Woche der Bankvertretung abzupassen. Irgendwann nach dem dritten Versuch – ich konnte mittags zu Hause essen und eine Stunde regenerieren, bevor ich dann wieder an meinem Schreibtisch war und habe ihn gewissen Geräuschen zufolge zweimal ins Leere laufen lassen – fragte er mich im Aufzug: ‚Wo-kommen-Sie-denn-her‘, um zu suggerieren, dass ich mich für den Bankjob schämen sollte. Ich antwortete ihm ohne Vorbehalt oder Anstrengung: ‚Ich bin in Cannstatt geboren!‘ Man hat ihm suggeriert, dass ich keinen Fuß mehr auf den Boden bekommen würde und diese Antwort hat ihn erledigt. Am nächsten Tag habe ich Ihn noch mal gesehen, er war bleich und konnte dem Blick nicht standhalten, die Spannung war völlig raus. Für solche unterdurchbluteten Erben ist es keine Leistung, wenn jemand die Spur wechseln und in einem anderen Weltabschnitt weitermachen kann – sie kennen nur ihren Widerholungszwang. Seltsamerweise ist am gleichen Tag der Sohn des Hausmeisterehepaars vom Nebenhaus zusammengebrochen: Lungenentzündung! Das ist diese unkontrollierbare Schlagkraft der Mimesis. Diese Hausmeister waren wie der Rechtsanwalt Delegierte der Hausbesitzer-Sippe, und der Hohn ist, dass die vermutlich nicht einmal bemerkt hat, dass sie auch nur delegiert worden ist. So sieht es aus, wenn ein Schuss nach hinten losgeht! Zur dieser Zeit hat sich der Hausbesitzersohn dann beide Hände gebrochen, was für Zufälle es gibt! Und was mir erst nach und nach bewusst wurde: Auch meine Eltern waren im Stuttgarter Westen Hausmeister dieser Sippe und wer weiß, ob ihre Ehe vielleicht auch deshalb zerbrochen ist? Manchmal habe ich mir überlegt, dass diese stumpfen Schwabensäcke mir schon deshalb Probleme machen, weil sie irgendwo spüren, dass noch eine alte Rechnung offen ist! Hin und wieder habe ich das Gefühl, ich muss den Schrott wegräumen, den die Gesellschaftsspiele von Simulanten hinterlassen haben. Es gibt ja Leute, die an eine Bestimmung glauben, die voraussetzen, dass jeder mit einer Aufgabe in die Welt geschickt wird. Gelegentlich kommt es mir vor, als habe ich Feigheiten und Fehler der letzten Generation aufzufangen und zu korrigieren. Ich habe immer wieder zu zeigen, dass es sehr wohl möglich ist, das zustande zu bringen, vor dem sie sich aus Unvermögen und Mangel an Zivilcourage gedrückt haben. Ich kann in der Beziehungsarbeit wieder gut machen, was mit einer fortlaufenden Psychotisierung eingeschrieben worden ist. Vielleicht ist das deshalb so verwerflich, weil ich nicht auf Einschüchterungen reagiere und auf den Erfolg scheiße. Die verbogenen Wertsysteme dieser nachgemachten Menschen sind mir fremd!“

Neumann versucht zu zerreden: „Davon habe ich nichts gewusst! Das hat mit mir nichts zu tun! Ich habe einen Stapel Manuskripte und Bewerbungsschreiben auf meinem Küchentisch vor mir und am Schluss bleiben zwei mögliche Bewerber übrig.“

Ich grinse ihn an und sage: „Das glaubst du doch wohl selbst nicht! Es wäre viel einfacher und hilfreicher, wenn du sagen könntest, wer dich auf mich aufmerksam gemacht hat. Du musst ja nicht mal was von dem Schweinespiel gewusst haben. Du hast vielleicht jemanden einen Gefallen getan, der behauptet hat, er wolle dafür sorgen, dass ich diese Stelle bekomme. Du musst ja nicht gewusst haben, dass es hier ein Professorenehepaar gibt, das noch ganz andere Aufträge vergibt. Wenn ich nehme, wie stolz die darauf sind, dass sie über Jahre hinweg die richtigen Leute bearbeitet haben, um eine Autorin durchzusetzen, die ich aufgrund ihrer Inhaltsleere nicht einmal lese, dann weiß ich, dass die noch viel stolzer darauf sind, wenn sie mit ähnlichem politischen Geschick eine Hinrichtung lancieren oder einen Selbstmord moderieren.“

Du fährst aus der Haut: „Ja, nennen wir die Leute beim Namen! Harpprecht und Debihla stecken dahinter! Die Einflüsse über die SPD-Schiene haben so ein Verfahren erst möglich gemacht.“

Neumann scheint nicht zu wissen, wen du meinst, er schaut fragend und ein bisschen geistesabwesend. Ich erkläre: „Harpprecht war einmal der Leiter des Fischer Verlags, später der Leiter der Schreibstube Willy Brandts – dieser impotente Depp sitzt an mächtigen Schaltstellen! Wie dir vielleicht noch bewusst ist, hat der Fischer Verlag deine Bücher im Westen verlegt. Ohne die Möglichkeit, im anderen Deutschland in ein anderes Deutschland auszuweichen, hätte es den Schriftsteller Gert Neumann nicht gegeben. Wenn also irgendjemand einen Kontakt zwischen dir und unseren Gegnern hergestellt hat, dann waren seine Einflüsse sehr wahrscheinlich daran beteiligt. Und dann musste noch jemand den Minister Meyer auf das Spiel einstimmen. Die Debihla war früher in Bonn die Sekretärin von Harpprecht. Du wirst dir nicht vorstellen können, wie viele Pakete mit Fachliteratur ich in den vergangenen Jahren gepackt habe, die dann an die sächsische Staatskanzlei geliefert wurden.“

Du unterstreichst eine Parallele: „Das sind ganz ähnliche Abhängigkeitsverhältnisse von Verstümmelten wie bei der VHS! Die Informalisierung und die flachen Hierarchien sorgen dann für Machtmechanismen, die nicht so leicht zu kontrollieren sind, wie bei den autoritären Hierarchien.“

Ich kommentiere: „Wenn ein neuer Direktor eingesetzt werden soll, sorgen die Leute an der Macht dafür, dass der alte durch Krankheit und Tod ausgeschaltet wird. In Fall meines Buchhandels hat die Krebskrankheit der früheren Chefin, die zu ihrer Assistentin auf Empfehlung eines Grass gekommen ist, die Debihla zur Geschäftsführerin gemacht! Die nötigen Zaubersprüche lernt man in Bonn, wenn frau nur ein bisschen clever und aufmerksam vorgeht. Bei unseren demokratischen Volksvertretern gibt es kein Faustrecht und keine willkürlichen Zerstörungsakte, das steht ihnen nicht zu – und die Beauftragung der Mafia kann eine Karriere ins Aus befördern. Also kaprizieren sie sich in ihrer dem Parteiapparat verdankten Effeminierung auf die alten magischen Techniken und hexen mit Krankheiten. In jedem James Bond Film wird dir vorgeführt, dass es dazu nur der Kräfte unbenutzter oder unbenutzbarer weiblicher Körper bedarf, der Zauber der Impotenz springt dann wie von alleine über!“

Neumann will vom Thema Krebs nichts hören, er versucht es mit hektischem Gehampel ungesagt zu machen.“

Ich rede weiter: „Da hast du nur ein paar Namen, es gibt noch andere, und die Fäden laufen hier in der Uni zusammen. Die anderen sind nur die Leute, die mal eben jemanden einen Gefallen tun sollen, die dankbar sind, für einen Gefallen, den man ihnen schon getan hat oder die darauf hoffen, dass man ihn auch einen Gefallen tun wird. So wird heute Macht ausgeübt! Und die Leute im Gründungsrat sitzen in genau diesen Netzen der Bedeutsamkeit – irgendwer soll zum Beispiel Muschgs ‚Der roten Ritter‘ besprechen, irgendwem sind die Schädlichs dankbar für eine Empfehlung, irgendein Preis wartet vielleicht schon auf Hein oder auf dich. Außerdem darf so oder so nur mitspielen, wer Dreck am Stecken hat und verstrickt ist!“

Er will davon nichts wissen. Um von dieser Analyse weg zu kommen, strapaziert er das Literaturinstitut und wie nebenbei benützt das Stichwort Gründungsrat, um wieder eine Negation unterzujubeln: „Das Institut wird systematisch totgeschwiegen, daraus wird nichts mehr, dass werden die einfach kaputt verwalten. Vor allen Dingen tut sich nichts, kein Bericht in den Medien, keine Veranstaltung, daraus wird nichts mehr – genau das wollte ich verhindern.“ Das soll vor allen Dingen heißen, Musiks Auftritt in Dresden wird unter den Teppich gekehrt. Er versucht, die Verleugnung weiter auszuwalzen, Neumann jammert fast: „Im Gründungsrat habe ich versagt! Es wäre besser gewesen, das ganze hätte nicht stattgefunden! Da haben alle Beteiligten verloren, die haben alle was verloren, und die wissen sogar, dass sie verloren haben!“ Neumann erzählt: „Wir sind im Zug nach Berlin zurückgefahren. Ich habe wirklich nach dir gesucht am Bahnhof, auch in der Kneipe, ich habe in die Mitropa-Gaststätte geschaut, war aber unter Stress, wegen der anderen. Mit Baumgart, Schädlich und den anderen bin ich dann im Zug gesessen. Die Mitbewerberin, die bei ihrem USA-Aufenthalt kreatives Schreiben unterrichtet hat, war dabei. Und keiner hat ihr gesagt, dass sie durchgefallen ist. Ich habe das nicht mehr ausgehalten und bin auf den Gang raus...“ Ich werfe ein: „Du hast es mir auch nicht gesagt!“ Er schüttelt den Kopf, das ist jetzt nicht sein Thema: „In Berlin habe ich sie beiseite genommen und sie gefragt: Weißt du es noch nicht?“ Das heißt vor allem, er ist mit dieser Heiligen anders verfahren, als mit mir. Die ganze Geschichte ist stimmt nicht, er soll jetzt rüberbringen, dass die Situation vor dem Gründungsrat fingiert war. Er erzählt weiter: „Baumgart hat mich dann gefragt: Und was machen sie jetzt Herr Neumann?“ Ich kommentiere: „Negation rüberbringen!“ Er schüttelt wieder den Kopf: „Ich habe geantwortet: Ich fahre jetzt mit der U-Bahn, dann mit der S-Bahn, dann mit dem Bus.“

Das soll an unsere prekäre Lage erinnern, ein wenig an die Situation mit dem Rechtsanwalt und appelliert an eine Ähnlichkeit. Außerdem will er nahelegen, dass er uns gegenüber keine Machtspiele nötig hatte. Neumann versucht nicht nur abzulenken: „Wisst ihr, zu Hause wartet manche Sorge auf mich. Wir haben im Osten das Thema Neonazis und das hat eine andere Brisanz als bei euch. Mein Sohn hat sich an irgendwelchen Aufmärschen oder Aktionen beteiligt. Ich musste ihn auf der Wache abholen, als ich eigentlich zu euch fahren wollte. Und nach einem ernsten Gespräch, habe ich dann eine tote Taube in unserem Vorgarten gefunden hat, mit einem Schnürsenkel stranguliert!“

Das setzt bei mir die Assoziation frei, dass wir auf keine Friedenstaube zu hoffen brauchen. Also versuche ich die Geschichte in einen objektiven Rahmen einzupassen: „Von Max Bense habe ich einmal gehört, der sächsische Kommunismus sei ein rot angestrichener Nationalsozialismus gewesen. Damit ist nur an die Gesetzmäßigkeit zu erinnern, dass in den Kindern die verdrängte Wahrheit der Alten ans Licht kommt und zwar als acting out. Für manche desorientierten Jungen mag es heute so aussehen, als ob die saubere Härte der Nazis im Imaginären des Volkskörpers gegen die Verlogenheit des real existierenden Sozialismus eine Wahrheit bedeutet hätte! Und nun wollen sie sich zeitversetzt gegen die Wattewelt der Kohlschen Beamtenherrschaft austoben. Dabei ist das nur die Kehrseite der sozialdemokratischen Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen. Man kann kein ganzes Volk auf den Status von Pennern und Sozialhilfeempfängern reduzieren.“

Diese Erklärung wehrt Neumann ab: „Das sind die Themen, die mir an die Nerven gehen, und gerade deshalb habe ich versucht, mit dem Institut was auf die Reihe zu bringen. Ich muss mich mit meiner Sonderrolle in der DDR und mit meiner ganzen Geschichte gegen Resignation und Verzweiflung durchsetzen. Im Augenblick habe ich das Gefühl, alle haben verloren!“ Neumann ist in eine richtige Klosterstimmung abgesackt, alles ist vergeblich und die Welt ein Sündenpfuhl. Allerdings sind das Themen, die ihm ein wenig zu schnell aus dem Ruder laufen. Die bei seinem früheren Besuch versuchte Delegation in Richtung Penner fällt wie das Thema Neonazis in ein Register, das mit uns nur soweit zu tun hat, dass er uns damit leimen will. Diese Scheißgefühle sollen anstecken.

Du sagst betont ruhig: „Wieder einmal sind wir die eigentlichen Gewinner. Uns interessiert nicht, dass euer Spiel zu Ende ist, was geht uns das an? So kannst Du dir sparen, das jetzt mit den nötigen Vorzeichen zu verdrehen. Für uns ist damit eine Entscheidung gefallen und die Dinge, die wir in den Monaten gelernt haben, sind in anderen Weltgegenden viel sinnvoller einzusetzen.“

Damit ist die Bank wieder auf dem Tablett: Das Machtvolumen, das uns auf Grund der vergangenen Kämpfe zugewachsen ist, das sich mit Dresden noch potenziert hat, kann im Kontext einer internationalen Bank sehr viel Geld bedeuten. Ich erzähle von den verschiedenen Tests, vom mehr und mehr aufgebauten Spannungsvolumen, beende die Zusammenfassung mit Einzelheiten vom Betriebsausflug: „Auch das war eine Bewährungsprobe, bei der ich siebzehn Stunden lang zeigen konnte, wie ich mein Wissen praktisch umsetze. Das war nicht nur eine halbe Stunde, in der ich kleine Verführungen umspielen, fiese Provokationen überhören, fehlerhafte Identifikationen richtig stellen konnte. Das war die Chance, ganz nebenbei immer wieder Zeichen zu setzen, dass ich ohne Anbiederung oder Selbstverleugnung bereit für ein gutes Angebot bin.“

Neumann nickt und heuchelt Verständnis: „Das kenn ich, das ist für mich schon viele Jahre selbstverständlich! Mit solchen Spannungen müssen wir leben. Als ich einmal bei einem Arbeitsessen des Fischer Verlags war, mit den ganzen hohen Tieren, hatte mein schwarzes Hemd danach weiße Flecken auf dem Rücken.“ Er versucht wie nebenbei zu verkleinern, was wir bereits als Hungerkünstler geleistet haben, um die Botschaft zu unterstreichen, dass man sich durch das bessere Wissen ins Abseits manövriert. Er inszeniert einen Strudel der Vergeblichkeit, wenn er betonen muss, wie schlecht es ihm finanziell geht, wie wenige Einnahmen er hat, wie sehr er auf den Literaturfonds, auf das Stipendium, angewiesen ist: „Schon die Stromrechnung hat die Planung des kommenden Jahres ruiniert. Damit stehe ich unter Druck, ich muss Sachen machen, die überhaupt nicht in mein Schreibpensum passen. Wenn es nicht klappt, muss ich eben arbeiten gehen. Aber das ist keine Floskel mit der ich mir die Resignation erleichtere, ich arbeite ja gern.“

Ich lache ihn aus. Wenn ich nehme, was in seinen Büchern steht, hat er noch nie richtig gearbeitet. Gegen diese ständigen Versuche der Vorahmung ist der Humor eine scharfe Waffe: „Du hast gelernt, erfolgreich die Zeit zu strecken und die Verantwortlichen auszutricksen. Das kann ganz schön anstrengen. Aber Du wirst vermutlich immer die Möglichkeit haben, in irgendeinem Ministerium ein paar Stunden abzusitzen und dafür gutes Geld einzusacken. Und weist Du warum? Weil Du erpressbar bist, weil die dich in der Hand haben!“ Ich habe keine Lust, dass er uns in dieser Reihe der Verlierer situiert und außerdem muss ich ihn nicht über die Richtung des Gespräches bestimmen lassen: „Dann kann ich nur unterstreichen, was meine Frau gesagt hat. Wer verliert, gewinnt – die Regeln dieses Sartre-Zitats hast Du früher beherrscht. Wie es aussieht bin ich der einzige Gewinner in diesem Spiel! Ich habe eine neue Erfahrung gemacht, das Repertoire erweitert, das Machtvolumen vergrößert. Ich müsste meinen selbsternannten Gegnern fast dankbar sein, dass sie mir die Gelegenheit gegeben haben, mich in einer solchen Situation zu bewähren.“

Er bleibt bei seinem Kurs, versucht abzulenken, zu labern und runter zu ziehen. Damit ich nicht vergesse, dass es darum geht, mir die Schreibe vergällen, erzählt von seinem neuen Stück. Wie gut es werde, wie viel er gearbeitet habe, lauter Eigenlob. Er führt vor, wie schlecht es einem geht, der sich dauernd daran hochzuziehen versucht, was er alles tolles plant und an Projekten verfolgt, der betonen muss, wer es schon zur Kenntnis genommen und ihm wichtige Anregungen vermittelt hat. Das Gelaber ist erbärmlich. Er stellt sich derart unter Niveau dar, dass das nur der Strategie gehorchen kann, alles um uns in einen Strudel der Nichtigkeit, der Vergeblichkeit, der Verzweiflung zu ziehen. Ich höre eine Weile zu und insistiere dann: „Du versuchst dich jetzt schon zum zweiten Mal zu drücken! Ich will doch nur ein paar Hinweise, wer dich instruiert hat.“ Statt einer Antwort beginnt er zu klagen: „Du kannst dir nicht vorstellen, wie schwer es für mich ist! Die Kosten für die Wohnung, meine schwangere Frau. Im ganzen letzten Jahr habe ich nicht einmal 9000 Mark verdient. Ich habe im Gründungsrat versagt. Das Literaturistitut ist tot, da muss etwas geschehen, aber ich sehe schon nicht mehr, was überhaupt machbar ist. Und auch sonst geht alles kaputt!“

Ich verkneife mir, den Hinweis, dass schon mancher als Vater gelernt hat, mit seinem verpuffenden Ehrgeiz zu leben. Eine Erklärung für verpasste Gelegenheiten, für nicht eingelöste Größenfantasien – das Kind als Entschuldigung fürs ungelebte Leben! Die meisten männlichen Rollenvorstellungen laufen darauf hinaus, die Illusion der Autonomie durch den Nachweis, es tatsächlich nicht gewesen zu sein, aufrecht zu erhalten. Die eindeutige Haltung, mit der ich solche Rollenanweisungen ablehnte, könnte eine Erklärung für mein Ausschlussverfahren liefern. Wenn ich nicht bei Leuten gelernt hätte, die es so aussehen ließen, als würden sie genau so eine Haltung fördern. Ich weise ihn darauf hin: „Dir ist doch klar, was für mich auf dem Spiel stand: Keine Stelle, keine Zukunft der Literatur, sondern mein Leben! Und in den Tagen nach Dresden ist zu bemerken, dass der gesamte Kontext angespitzt wurde, dass ich kaputt gemacht werden sollte! Das ging so weit, dass der Friseur mir, als ich mit der Straßenbahn zum Arbeitsamt fuhr, eine sexy Angestellte als Schatten verpasste. Nicht etwa, weil er wissen wollte, was ich mache oder darauf setzte, dass ich mit dem schwarzhaarigen Feger ein bisschen Angstbewältigung treibe. Sondern, weil er dem Auftrag folgte, mir zu signalisieren, dass ich nichts mehr zu machen brauchte, weil ich umzingelt sei. Ich habe früher manchmal das Gefühl gehabt, gegen eine Mauer zu rennen, in einigen Fällen schaffte ich es sogar mit dem Kopf durch die Wand. Aber jetzt habe ich die Erfahrung gemacht, wie es sich anfühlt, wenn man in einer Mauer steckt, wenn die Mauer um einen wächst. Ich sah fast nichts mehr, die Scheuklappen gingen immer dichter an die Augen; ich hörte nur noch wie aus weiter Ferne durch ein anschwellendes Brausen. Die Mauer, das kennst du doch, aber in einer Mauer weitergehen zu müssen, Schritt für Schritt, nur ganz kleine Schritte – kennst Du das auch! Am Anfang ging ich durch einen Tunnel, dessen Wände sich immer mehr verengten, der dunkler und dunkler wurde; mein Gesichtskreis verengte sich mehr und mehr, bis ich feststeckte und am Ende fast kein Licht mehr sah. Nach und nach habe ich bemerkt, wie jede Woche, selbst wenn ich fast nicht voran kam, ein Gewinn war. Nachts hatte ich seltsame Träume, manchmal überfielen mich metaphysische Konzeptionen, Einblicke in ganz andere Welten, psychedelische out-of-body-Erfahrungen. Irgendwann bei einem Botengang, gegenüber des Eingangs in die Calwer Straße, an einer Ampel, die gerade auf Rot geschaltet hat, renne ich automatisch los und stelle ich fest, dass ich noch rennen kann – das setzt ein jubilierendes Gefühl frei: Ich kann ja rennen! Das musst Du dir vorstellen, das war eine Erleuchtung, als explodiert der Tunnel und überall ist Licht. Erst wenn man über die innere Grenze hinaus gegangen ist, stellt man fest: Das Innen beginnt ganz einfach außen! Deshalb findet man das Jenseits der Sozialisationsverstümmelung ganz weit draußen, mancher musste in Indien oder in der Südsee danach suchen. Nur deshalb wird uns ständig nahegelegt, es sei irgendwo im Innern verborgen, weil die Grenze einem von außen auferlegt wird. Der Kult der Innerlichkeit ist ein Betrugsunternehmen, dem Mütter und Bildungsbeamte ihre Macht verdanken!“

Wir haben Neumann nichts zu trinken angeboten. Wir haben ihn nicht eingeladen, was haben wir mit diesem Intriganten zu tun. Umständlich kramt er einige Zeit in seiner Tasche und holt eine Flasche Fruchtsaft heraus, schraubt sie auf. Ich frage ihn: „Möchtest du ein Glas?“ Weil er eine abwiegelnde Kopfbewegung macht, bleibe ich sitzen und schaue zu, wie er aus der Flasche trinkt.

„Ein Glück war, dass die Bank, mir die Gelegenheit gegeben hat, mich in den verschiedenen Tests zu bewähren. Der Realitätsbezug, den die Intrige aushebeln sollte, wird durch die Notwendigkeit der Arbeiten in der Bank mit jedem Tag mehr bestärkt: Ich muss geistesgegenwärtig sein, aufmerksam im Hier und Jetzt – irgendwelche imaginären Furzideen haben gegenüber den Machtspielen der modernen Personalführung kein Gewicht. Nach und nach werden diese Leute spitz auf mein Machtvolumen. Anfangs kommt ein Direktor aus Saarbrücken um mich in Augenschein zu nehmen, später dann der Direktor aus Frankfurt, der oberste Chef in Deutschland. Und wie nebenbei bin ich auf einmal nicht mehr eingekesselt. Dafür tun sich die kleinen Delegierten weh: Einer brach sich die Hände, ein anderer sägte sich in die Hand, ein dritter hat sich die Hand verbrannt – als wirke hier ein Imperativ, den ich aus Dresden mitgebracht habe. Weil ich alles mit meiner eigenen Hände Arbeit zustande gebracht habe, leiden auf einmal die Hände der Nichtskönner, die sich in einer rivalisierenden Relation befinden. Auch hier lautet die Erklärung: Beziehungsarbeit – was bei Benjamin mit einer Relationsmetaphysik beginnt, landet nach den verschiedenen pragmatischen Anwendungen bei einer Mimetischen Theorie und den dialektischen Bildern eines konfliktuellen Materialismus. Die fehlerhafte Identifikation kann ganz schön gefährlich sein: Einer hat die Vermögensvermehrungspläne seiner Mama hintertrieben, ein anderer hat seine Ehe ruiniert. Ein Meinungsmacher bei der Stuttgarter Zeitung hat einen Sohn verloren, der an der Nadel hing und steht seitdem für die Interventionen gewisser Professoren nicht mehr zur Verfügung. Hier war im letzten halben Jahr ganz schön was los. Im Haus oder in der Umgebung sind bereits manche Störenfriede weggefallen.“

Kurz fällt mir seine erstaunte Reaktion auf, als du den Bezug auf die Bank kommentierst: „Wir haben schon manches gefährliche gemacht. Meist wussten wir erst hinterher, was tatsächlich abgelaufen ist. Während wir es diesmal schon wissen, bevor wir uns darauf einlassen!“ Er schaut fragend, was an der Bank so viel gefährlicher ist, wenn doch Dresden das Maximum an Gefahr sein sollte. Er ist in einem Zwiespalt, will mehr wissen, und gleichzeitig geht er zurück, als wolle er gar nichts mehr hören. Ich sage mir, das könnte auf ein mögliches Angebot seiner Auftraggeber verweisen. In diesem Zusammenhang ist mein Vertragsangebot schon soweit modifiziert, dass es lautet: Wenn ihr was bieten wollt, können wir uns arrangieren, wenn nicht, wird es mit Hilfe der Bank eine rücksichtslose und unerbittliche Dokumentation des Schweinespiels geben. Ich bin an einem Punkt angekommen, an dem ich die Bank als Erpressung einsetze. Das ist eine Strategie, die ich dir noch nicht erklärt habe. Ich rechne weniger mit einem Angebot, eher mit einem Trick, die Bank, an der du mittlerweile hängst, wieder los zu bekommen. Vielleicht ist es mir möglich, Literaturwissenschaft und internationale Bank derart ineinander zu verkeilen, dass ich unerkannt genügend Zeit habe, etwas zu finden, mit dessen Hilfe ich uns wieder in halbwegs normale Verhältnisse einfädeln kann. Vorerst soll der Neumannbesuch als Chance genutzt werden, um die nötigen Signale zu setzen und weitere Quälgeister abzuschrecken.

Also erkläre ich: „Natürlich haben wir davor durchgerechnet, welche möglichen Gefahren hinter der Einladung nach Dresden stecken. Aber ich bin nicht mit dem Bewusstsein hingefahren, dass ich eine Falle zertreten muss. Ich habe die Geschichte positiv angepackt und mich nicht von irgendwelchen Vorbehalten ausbremsen lassen. Im Laufe der Jahre sind so viele Fallen zu Bruch gegangen, dass ich aus Gewohnheit davon ausgehe, das funktioniert wie von allein. Ich muss nichts machen, es reicht, dass ich mich nicht mit den Eingaben von Verwaltungskrüppeln identifiziere. Das ist ein intuitives Schema, das durch irgendwelche Zufälle unterfüttert wird, die mir immer wieder Informationen zuspielen, die es so aussehen lassen, als habe ich schon gewusst, was meine selbsternannten Gegner vorhaben. Das mag zwar nicht der Fall sein, aber darüber mache ich mir im Augenblick keine Gedanken. Ich mache einfach das, was ich für richtig halte und ob es auf die Situation bezogen das richtige Handeln ist, muss nicht hinterfragt werden. Wenn es sein muss, läuft es wie von allein.“

Neumann redet dazwischen, auch das will er nicht hören: „Weißt du, warum die Leute gleich weggetaucht sind? Du hast einen Fehler gemacht! Du kannst sie nicht einfach so überrollen! Die erwarten, dass man Achtung vor ihnen zeigt.“

Ich lache wieder raus: „So wie der Neumann auf der Rückseite des Fischer-Taschenbuchs! Aber die waren für dich da, ohne einen Verlag im Goldenen Westen hätte es einen Gert Neumann nie gegeben! Das macht den Unterschied aus. Es gibt kein anderes Deutschland, in dem für mich mit einem Publikum zu rechnen ist. Aber was soll’s! Als Kriecher bin ich nicht geeignet. Außerdem wussten diese Leute, was auf sie zukommt, sie waren vorprogrammiert. Ich habe bei den spärlichen Blickkontakten die Vorsicht gesehen, die sind weggetaucht, weil sie davon ausgingen, dass sie mir sachlich nichts entgegen setzen können. Ich weiß nicht, was ihnen über mich erzählt wurde, aber sie waren nicht nur auf ein intellektuelles Monster vorbereitet. Sie versuchten die magische Praktiken innerhalb einer solchen Situation für die Institution wirken zu lassen und fürchteten zugleich die Bedingungen der Möglichkeit realer Geistesblitze! Bei diesem Symposion waren die Figuren vor allen Dingen äußerst vorsichtig, denn der Zusammenstoß mit einer Weisheit kann sehr schmerzhaft sein. Deine Aussage ist daneben, ich habe die nicht überrollt, darum ging es in Dresden nicht. Ich habe vorgeführt, was ich kann, weil ich davon ausgehe, dass für jemanden, der dort zu entscheiden hat, das Beste gerade gut genug ist!“

„Aber bitte schön!“ wirft er ein: „Weisheiten liegen jenseits der menschlichen Reichweite.“

„Weißt Du, es gibt einige Spezialisten, die das etwas anders sehen. Aber erst mal zur Erklärung, warum mir nichts geschieht! Ich kooperiere und biete sogar zu kurz gekommenen Intriganten die Chance, meine Fähigkeiten für sich nutzbar zu machen. Wenn sie darüber verfügen wollen, stellen sie allerdings fest, dass diese Kräfte an Bedingungen gebunden sind, über die sie nie gebieten werden. Wenn sie trotzig zerstören wollen, was sie nur durch meine Vermittlung bekommen könnten, arbeiten sie vor allem am Programm der eigenen Selbstzerstörung.“

„Das ist mir zu hoch“, wehrt er ab: „Ich habe manchmal schon auch das Gefühl, dass Du dich in einem Wahnsystem verrennst.“

 „Das ist euer Wahnsystem, ich versuche nach wie vor, die nötigen Abstände einzuhalten. In Zen-Zusammenhängen habe ich mal eine Formulierung gelesen, die die größenwahnsinnigen Projektionsmaschinen des Christentums und der protestantischen Ethik auf einen Nenner bringt, zugleich aber ein Korrektiv bereitstellt: ‚Verhalte dich so, als hinge der Lauf der Welt von deinem Verhalten ab.‘ Aber sofort wird durch eine zweite Einsicht das rechte Kräfteverhältnis hergestellt: ‚Und lache immer wieder darüber, dass du dich selbst so wichtig nimmst, als gebe es irgendeine Instanz in der Welt, die einen Scheißdreck auf dich gibt.‘ Während der Monate, die ich bei der Bank jobbte, geschah einiges, was mir die Wirkungsweisen einer Macht näher brachte, die nicht auf Kriecher und Mitläufer angewiesen ist. Der symbolische Tausch kann sich in eine Waffe verwandeln, wenn von einem keine Negation ausgeht, keine bösen Wünsche, kein hinterfotziges Theater. Wir haben erfahren, wie wir unwillkürlich Kräfte freisetzen, die dann bei Leuten reinschlagen, bloß weil sie uns ein bisschen ärgern wollen oder uns im falschen Augenblick in einer Wolke von Eifersucht oder Neid über den Weg laufen.“

Neumann unterbricht und fragt provokant nach: „Und das gefällt dir?“

„Was?“ frage ich zurück.

Mit einem verlogenen Grinsen unterstellt er: „Die Macht! Die Gelegenheit, andere nieder zu machen. Die Chance, Macht auszuüben!“ Er versucht mich so aussehen zu lassen, als sei auch ich ein verstümmelter Idiot. Nicht besser, als die Leute, die ihn geschickt haben – er will mich eindeutig zu einer Selbstdementierung zu verführen.

Ich schüttle den Kopf: „Nee! Macht und Geld haben mich bisher noch nicht interessiert. Ich habe gelernt, die andere Backe hinzuhalten, die Kränkungen und Nadelpiekse zu ignorieren, weil sie in the long run dem Aggressor besonders weh tun. Die Macht als Selbstzweck macht nur impotent und psychotisch – das stammt nicht von mir, ich kann aber mittlerweile nachvollziehen, dass Lacan richtig liegt. Die Macht verstümmelt jeden, der sie um ihrer selbst willen sucht!“

Ich hole weit aus, schließlich habe ich es mit einem Sprachesoteriker zu tun: „Die Leute, die ich bisher als machtversessen einzuschätzen gelernt habe, waren sexualgestört und nicht in der Lage, auf jenes Unendlichkeitsrepertoire zu rekurrieren, das dem Körper innewohnt. Der Körper ist unsere Wahrheit, alle Wörter haben einen materiellen und biomagnetischen Grund. Erst im Laufe der Zeiten werden sie abstrakter, bis der Geist eine Krücke ist, an dem sich ein defektes Sinnensystem durch die Welt schleppt. Mich faszinieren also viel eher die Techniken des Widerstehens, die Fähigkeit, Konstellationen durch einen minimalen Input umzufigurieren und dann abzuwarten, bis das Signifikantennetz im Sinne Lacans für einen zu arbeiten beginnt. Ich habe im ‚Philosophischen Sperrmüll‘ in den Teilen, die ich dir mitgegeben habe, nur kurz beschrieben, wie die Routinen eines blank polierten Spiegels funktionieren. Und ich könnte viel tiefer schöpfen und die Wirkungsweisen dieser Macht bis in die feinsten Verästelungen nachvollziehen, wenn ich ein paar Jahre Zeit dafür hätte – wenn man mich ließe, was bisher nicht so aussieht. Aber das macht nichts, insgesamt ist es auf einen ganz einfachen Nenner zu bringen: Statt das Böse zu bekämpfen und es damit indirekt zu bestätigen, pflegen wir das Gute. Das ist eine dauernde Übung, am besten jeden Tag, der Rest geht dann von allein. Das Gute muss ich nicht definieren oder zu einer Moral verzwergen. Ich maße mir nicht an, irgendwelche Regeln zu verabsolutieren oder Bilder zur Nachahmung zu empfehlen: Es steckt im Bauplan jeder Zelle, ist der Motor der Evolution und der Triebgrund des Prinzips Hoffnung.“

„Was soll das jetzt“, wirft Neumann unwirsch ein: „Was hat diese Privatmetaphysik mit dem Literaturinstitut zu tun?“

„Oh, sehr viel!“ So leicht lass ich ihn nicht davon kommen: „Weißt Du, für mich ist die Philosophie keine unendliche Annäherung an eine Weisheit, die den Göttern vorbehalten ist. Sie hat uns einen Rahmen gegeben, innerhalb dessen wir zwischen All-is-One und alltäglichen Aufgaben hin und her pendeln können. Solange man uns nicht gestört hat, waren wir mit dieser Regelung ganz zufrieden. Wir wollten nicht mitspielen und waren uns selbst genug, genau deswegen sind wir einigen Mächtigen in die Quere gekommen. Ohne deren Intervention hätte ich mich für keine Stelle beworben, schon gar nicht für ein Institut mit Verwaltungsballast. Für uns ist die Macht uninteressant, wir setzen auf eine gesündere und wesentlich stärkere Droge. In den institutionellen Zusammenhängen müssen die Protagonisten mindestens einer Voraussetzung gehorchen: Entweder sprach- und beziehungsgestört oder gehbehindert und impotent und meist sind mehrere dieser Bedingungen sogar verknüpft. Oft genug findest Du Psychopathen als Leiter, weil nur die rücksichtlos genug mit all denen umgehen, die ihnen unterstehen. Das sind die Zugangsvoraussetzungen jener Macht, von der Du sprichst. Sie grenzt an die Psychose und der Übergang ist fließend, gerade weil ihre Protagonisten so verhärtet sind, dass sie sich nur als böse und verstümmelnd beweisen können.“

Neumann hört nur zerstreut zu. Ich fixiere ihn und bemerke, dass er dem Blick ausweicht. Er will weg, ich gehe davon aus, dass er selbst betroffen ist. Er will nicht hören, was ich gerade erzähle. Also fasse prägnant zusammen: „Wir pflegen das Gute, wir widmen uns der Steigerung des Angenehmen. Den Rest haben wir uns nicht ausgesucht, also haben wir so wenig wie möglich damit zu tun. Aber wir stehen dazu, wenn von diesen hässlichen Krüppeln die eine oder der andere umkippt oder wegfliegt, wenn die Delegierten verkrebsen oder deren Kinder zu Opfern werden. Ich weiß, warum ich keine Kinder gemacht habe, ich muss meine Verantwortung selber tragen. Mir hat schon der Schmerz gereicht, als mein Chow-Chow unter den Einflüssen der Intrige qualvoll krepiert ist. Ich finde es falsch, wenn man für sich die Probleme löst, indem man sie mit Zinsen an die nächste Generation weitergibt. Dagegen setzen wir auf die Verbindung von kreativer Eigenarbeit und Lustpolitik ­– und die Vergangenheit hat gezeigt: Wer nicht in Eigenzeit investieren kann, ist in der Regel auf der Seite unserer Gegner!“

Neumann wehrt körperlich ab. Das Stichwort Krebs will er nicht hören, den Rest will er gar nicht wissen. Diese Themen scheinen eine reale Bedrohung, er beginnt sich in sich zu verkriechen. Ich habe ihn nicht eingeladen, aber wenn er jemand den Gefallen tun muss, hier aufzutauchen, ist das eine Gelegenheit, Botschaften zu implementieren, die ich sonst nur für mich behalten muss. Von mir aus dürfte ich solche Sprüche nie in die Welt posaunen, ohne mich ins Unrecht zu setzen. Wieder einmal spüre ich den jubilatorischen Effekt des Erhebungsmotivs. Verschiedene Fragmente meiner Ich-Erfahrung sind auf einmal zusammen zu fügen, als seien sie aus einem Guss. Für einen Augenblick verwirklicht sich Lacans Spiegelstadium auf der Ebene des kommunikativen Handelns: „Du kannst es als eine Art intellektuelles Ju jutsu verstehen, als eine Potenzierung des gewaltlosen Widerstands. Wenn man die Kräfte des Gegners für sich arbeiten lässt, braucht es oft nur einen kleinen reflexiven Kick, das richtige Wort als Schnitt im Gewebe, und es werden ganz andere Gewalten freisetzt. Es gab Wochen, in denen ich durch den sozialen Tod ging, in denen hier Leute triumphierten, die gar nicht wussten, um was es ging. Du weißt, was es heißt, wenn man auf der Rückseite des Wahns wieder auftaucht! Wenn ich nicht nur Schmu gelesen habe, hast Du einmal erfahren, was es für die Folterknechte bedeutet, wenn man danach noch am Leben ist. Ein seltsames Leben, ich habe immer wieder den Geschmack von verbranntem Metall im Mund oder den scharfen Dunst durchgebrannter Sicherungen in der Nase. Vielleicht haben solche Nachwirkungen der konfliktuellen Mimetik die Phänomenologie des Teufels geprägt. Ich spüre manchmal Spannungsströme unter der Haut und einen enormen Druck auf den Ohren. Aber das ist mit der Gewissheit verbunden, dass es in der Folge den einen oder anderen Quälgeister einfach weghaut.“

Jetzt habe ich ihm ein Stichwort geliefert. Er unterbricht mich, um an seine Steigerungen nach unten anzuknüpfen: „Das ist ja genau wie früher bei uns!“

Ich nicke und sage: „Ja ja, wie in der DDR, nur bunter! Falls du’s noch nicht gemerkt hast, wir befinden uns in einer posttotalitären Gesellschaft, das demokratische Gesülze ist nur ein Deckmäntelchen für den Kapitalismus als Religion, der Umsatz ist ein unerbittlicher Gott.“ Und ich modifiziere, ich will das Thema nicht einfach verlabern lassen: „Es musste sein! Ich habe es mir nicht ausgesucht, ich wünsche niemand etwas Böses, von mir geht keine Negation aus. Ich mache, was notwendig ist, um uns weiter zu bringen. Wenn es sein muss, schaue ich aber genau hin und sehe geduldig zu, wie ein Quälgeist wegkippt! Wenn Unschuldige in der Schusslinie stehen, kann das nicht mein Problem sein, dafür sind die Leute verantwortlich, die die Schweinerei in die Wege geleitet und dann auch noch geschossen haben. Aber vielleicht kann ich auf die Dauer dafür sorgen, dass sie zur Rechenschaft gezogen werden.“

Er meint nachdenklich: „Was das alles Energie kostet, welche Verschwendung! Wie schade das ist, diese Energie müsste doch besser investiert werden!“

Ich unterdrücke einen Rülpser: „Das dachte ich bis zu dem biographischen Knackpunkt auch. Bis ich kapiert habe, dass ich nichts machen muss. Schon das ökonomische Modell der Investition wird den Kräften nicht gerecht, die in solchen Zusammenhängen spielen. Wichtig ist für mich die Erfahrung, einem enormen Druck standhalten zu können. Das muss man erst mal kennenlernen, dafür könnte ich dir zu Dank verpflichtet sein. Jetzt weiß ich noch ein wenig besser, auf was ich mich einlassen kann und wann es sinnvoll ist, einen Kompromiss zu fahren. Wenn ich allerdings weiß, dass es nur um meine Vernichtung geht, ist ein Check up reine Zeitverschwendung. Dann gilt die schon etwas abgedroschene Parole: Ich muss besser und schneller und klüger sein als die anderen und wenn es sein muss auch rücksichtsloser! Weißt du, was der Lernerfolg des Auftritts in Dresden war: Die Tatsache, dass ich entgegen aller Eingaben überall hingehen kann. Zu sehen, dass mir eine Job-Vermittlung innerhalb von drei Tagen weiterhilft. Zu erfahren, dass die Leute, für die ich dann arbeite, so gut sind, dass sie meine Qualitäten zu schätzen beginnen und sich nach einiger Zeit um mich bemühen.“

Das will er wieder nicht hören. Neumann versucht erneut zu diffundieren und setzt auf das Rivalitätsdenken. Er wertet den Typ ab, der jetzt der Institutsdirektor ist: „Damals, als Biermann ausgebürgert wurde, war der Typ zufällig in der Schweiz und ist einfach da geblieben. Das ist doch ein großes Verdienst, und dass man ihn dann mit Rowohlts Jahrhundertbüchern betraut hat, heißt nicht viel für ein Literaturinstitut. Jetzt hat der ein Computerprogramm vorgelegt. Da haben die einfach nicht nein sagen können. Ein Literaturinstitut zu leiten auf der Basis eines Computerprogramms! Was hat das mit Literatur zu tun?“

Neumann versucht also, die Arbeit mit dem Computer zu negieren –ein Punkt, an dem die Leute, die meine Gegner sein wollen, nicht mithalten können. Aber ich muss nicht darauf rumreiten, dass der Umgang mit dem Programmiersystem LATEX die Grundlage für meinen eigenen kleinen Verlag abgeben wird – solange die Entscheidung noch in der Schwebe ist, darf es nicht zerredet werden. Also widerspreche ich: „Das war der Wunschkandidat! Alles andere ist Humbug. Da hätte einiges schief gehen müssen, damit sie den nicht nehmen.“

Neumann schaut kurz in meine Richtung und dann wieder vor sich hin, nimmt sich gleich den nächsten Bewerber vor: „Der hat sich einfach keine Gedanken gemacht, wo die Studenten herkommen sollen. Und das, obwohl er selbst ganz andere Wurzeln hat.“

Damit dreht er die fiese Frage Schädlichs so hin, als sei das das eigentliche Problem des Instituts und damit das gesamte Unternehmen hinfällig. Ich widerspreche ihm: „Darauf habe ich die Antwort schon gegeben, das war einer meiner Punkte!“

Also versucht Neumann eine nächste Negation: „Weißt du, der andere Bewerber aus Berlin hat einen ganz ähnlichen Text geschrieben, aber besser, er ist geschickter gewesen, eindringlicher und nicht so aggressiv...“ Ich lasse ihn nicht ausreden und kontere: „Meine Konzeption war nicht aggressiv und mein Bewerbungsbrief erst recht nicht. Er war nur dicht, entsprechend meinem Wissen und meinen Routinen.“

Und wieder kommt die Unterstellung: „Du musst einen Fehler gemacht haben, sonst hättest du die Sache doch gekriegt. Und dann kann ich nur sagen, du bist zu aggressiv gewesen. Natürlich war der Text dicht, das habe ich an meinem Küchentisch bemerkt. Das ganze Blatt war schwarz. So habe ich früher geschrieben!“

Ich korrigiere ihn noch einmal: „Ich bin nicht aggressiv, das passt überhaupt nicht zu meinem Erfolgsschema. Ich bin kommunikativ und neige sogar dazu, Gegensätze abzumildern und auszugleichen. Ich habe einiges vom diplomatischen Geschick meiner Mutter übernommen, und der ist es gelungen, fast jeden für sich einzuspannen. Aber es kann Situationen in einem Gespräch geben, die es erfordern, drauf zu hauen, damit ein Minimalkonsens des kommunikativen Verhaltens aufrecht erhalten werden kann. Solange das Gegenüber lügt und manipuliert, um den Schein zu wahren, kann ich mit meiner Methode sogar die Kooperation anbieten und brav mitspielen, als würde ich nichts bemerken. Es ist nur eine Sache der Geduld, bis das Signifikantennetz die Rechnung präsentiert. Aber es ist sicher nicht richtig, in scheinbarer Naivität mitzuspielen, wenn dir schon klar gezeigt wird, dass aus reiner Machtgier gelogen wird, dass dir nahegelegt wird, die Lügen zu akzeptieren, weil du in deine Machtlosigkeit einzuwilligen hast.“

„Du willst damit doch nicht sagen, dass die Lügen offensichtlich sein sollen, um zu demütigen!“ unterbricht er mich.

„Doch, genau das, du warst dabei und kannst nicht behaupten, dass es keine Schmierenkomödie war. Das bringt den zweiten Teil meines Auftritts auf den Punkt. Nach der Unterbrechung durch Schädlich und nach deinen seltsamen Auslassungen war klar, dass genau das, was ich beanspruchte, den Leuten beizubringen, bei mir gerade abgestellt werden sollte. Das Souveränitätstraining! Wie lautet die Regel dieses Spiels? Ich sollte erfahren, dass ich nur ein subalterner Depp bin. Warum hat Schädlich so geflüstert, dass auf meinem Platz wirklich nicht mehr viel zu hören war. Warum kam der Minister, nachdem ich angefangen habe, um die aufgebaute Spannung gleich wieder abzuleiten? Warum wurde ich unterbrochen, als ich gerade schön in Fahrt war und das Prinzip Vorahmung auf den Nenner brachte? Warum fragte man nach läppischen Kleinigkeiten, nach Verwaltungskram und Organisationsdingen? Warum diente ein zeitlicher Rahmen dazu, jede inhaltliche Diskussion von Anfang an unmöglich zu machen? Weißt Du, was in einer solchen Situation der Verleugnung und Demontage wirklich verlangt war? Ein souveräner Auftritt gegenüber den Subalternitätsdressuren von Institutionsvertretern! Ex negativo wurde zu diesem Zeitpunkt von mir erwartet, geistesgegenwärtig zu demonstrieren, was ich beanspruchte, anderen beizubringen. Zu zeigen, wie man im Sinne eines Souveränitätstraining mit solchen Störmanövern umgeht. Ich habe die treffenden Stichworte im Augenblick aufs Tablett gebracht und war nicht zu irritieren. Wenn ich das nämlich hier nicht konnte, kam es nicht mehr darauf an, dass ich es einmal gekonnt hatte. Damit wollten sie dafür sorgen, dass ich es künftig nicht mehr können sollte! Später hat diese Einschätzung dazu geführt, das Geschehen rücksichtslos durchzuarbeiten – rücksichtslos vor allem gegenüber den eigenen Erwartungen und Hoffnungen. Auch das steht in der Konzeption. Was mir improvisierend an Stichworten reingelaufen ist, habe ich bei der Rekonstruktion dann mit der nötigen Fachliteratur abgesichert. Wenn ich mal Zeit habe, fabriziere ich damit eine Kritik der impotenten Vernunft oder besser noch, der Vernunft von Impotenten.“

„Ist es auch Wahnsinn, so hat es doch Methode“, schaltest Du dich mit einem spöttischen Unterton ein: „Er hat mir einmal erklärt, eine gerade Linie führe von Kant zu Freud. Die verwaltete Vernunft ist ein Resultat von Triebverzicht und Sublimation. Und dann ist es der Hohn, was diese stillgestellten Funktionäre des Denkens alles in Sexualneid investieren!“

So genau Neumann will das nicht wissen. Sie haben wohl geplant, dass er kein danach hätte geben sollen. Noch jetzt wird mir die Versuchung präsentiert, einer jener Leute zu werden, die eine große Zukunft hinter sich haben. Neumann unterbricht, indem er noch einmal an die Lobhudeleien der Leute erinnert, fragt nebenbei und scheinbar unmotiviert: „Was schreibst Du denn jetzt? Hast Du an deinem Sperrmüll weiter gearbeitet?“

Ich nicke: „Ein paar stilistische Verbesserungen, ein paar inhaltliche Korrekturen, aber insgesamt halte ich den Teil, den Du kennst, für fertig! Mittlerweile habe ich den Rahmen für einen zweiten Teil, etwa der gleiche Umfang. Kein Wort über den Ablauf beim Gründungsrat, aber als Einleitung der Text, den ich bei euch verteilt habe. Ein analytisches Grundgerüst, das mit den Steinen fundamentiert wird, die ich von dort mitgebracht habe – der Rest sind dann Zettelkastenorgien. Wenn es jemanden gäbe, der den Mut hat, so was zu veröffentlichen, könnte das Zeug innerhalb eines Jahres erscheinen. Außer dem heutigen Besuch ist alles Wichtige versammelt. Aber vielleicht gehe ich auf Nummer sicher, damit mir niemand mehr dazwischen quatscht oder irgendwelche Bedingungen stellt, wenn ich unsere Sachen, genauso schön gesetzt wie die Konzeption, in einem eigenen Kleinverlag veröffentliche!“

Darauf erzählt er: „Mein Verleger hat das Handtuch geworfen. Ich wollte den Philosophischen Sperrmüll dort unterbringen, aber er hat sich mit den Geldgebern überworfen. Nun ist es nicht klar, wie lange es den Verlag noch gibt. Aber ihn würde sicher interessieren, dass du die Dokumentation der Dresden-Erfahrung reinpackst, auf solche Sachen steht der.“

Ich schüttle den Kopf und sage: „Das dauert mir viel zu lange! Für das Altpapier haben wir uns drei Jahre mit einem depperten Verleger rumgeärgert. Als dann endlich ein Ergebnis für die Veröffentlichung zustande gekommen ist, haben wir uns gesagt, zur Strafe mit diesem kastrierten Scheiß keine Lesungen zu machen. Wir brauchten eine Veröffentlichung, damit die Jahre nicht umsonst waren, und immerhin das haben wir zustande gebracht – aber das Buch ist ein arg zugerichteter Torso. Wenn es soweit ist, veröffentliche ich einmal das komplette Altpapier.“

„Das würde ihn sicher auch interessieren!“ Neumann knüpft an sein gewohntes Literatengeschwätz an und versucht mich auf das Niveau der unverbindlichen Projektemacherei zu reduzieren. Als solle ich dem größten Ereignis meines Lebens nachtrauern und damit an eine Vergangenheit gefesselt bleiben, die einer ausgeklügelten Verwünschung unterstand.

„Im Augenblick kannst Du das vergessen. Ich habe die Zeit in den letzten Monaten genutzt, um die Dresden-Geschichte aufzuschreiben. Das ist kein schlechtes Thema, ich stelle es mir als Teil in einem nächsten Roman vor. Aber das hat Zeit, ich kann alles Mögliche reinpacken, vielleicht wird es eine Fortsetzung des Altpapiers, und damit ein weiterer Anlauf zur Darstellung einer Liebe als Duell. Allerdings wird es erst erscheinen, wenn ich mir den Druck leisten kann, wenn es uns auf einen Rechtsstreit nicht mehr ankommt. Wenn ich so weit weg von den Krüppelzüchtern bin, dass es völlig egal ist, was sie sich einfallen lassen. Vielleicht ist der Bankjob ein gutes Sprungbrett, um ein paar Jahre lang so viel Geld zu machen, dass ich mir die nötige Werbung leisten kann, um eine passable Auflage in einem eigenen Verlag unter die Leute zu bringen. Dann redet mir keiner dazwischen, und ich muss mir von keinem Krabsl vorrechnen lassen, dass es unverkäuflich sei. Noch in der Woche vor Dresden hat uns dieser Depp angerufen und angeboten, ich könne die Restauflage mangels Nachfrage günstig kaufen – das sah doch glatt so aus, als habe er den Auftrag gehabt, mich vor diesem Termin zu schwächen!“

Neumann will nichts von diesem Anruf wissen und dabei laufen hier alle Fäden zusammen. Er schneidet die entsprechenden Grimassen, zieht die Nase kraus und bekommt ganz kleine Augen, dann schwenkt er rigoros um: „Erzählt mir mehr von der Bank, das möchte ich genauer wissen! Warum ist ein philosophierender Autor für eine internationale Bank interessant?“

Sehenswert ist sein Abblocken, als du erklärst, warum du auf diese Bank vertraust: „Ich brauche nur durch Räume zu gehen, um zu wissen, in wessen Geist hier verhandelt worden ist. Es reicht, dass ich einen Brief wie den aus der sächsischen Staatskanzlei in die Hand nehme, ich muss ihn nicht aufmachen, und ich spüre die Botschaft, die er transportiert. Ich merke sofort, wenn etwas psychotisch ist. Wir haben zum Beispiel schon überlegt, ob wir mal am Samstag auf die Bank gehen. Er hat ja einen eigenen Schlüssel, aber das schien mir gar nicht nötig. Von der Bank habe ich genug mitbekommen. Das läuft zwar eine konfliktuelle Veranstaltung nach der anderen, aber für unsere Verhältnisse ist das nur Kindergeburtstag.“

Neumann schaut komisch beklemmt, als du betonst, dass du die Psychose witterst, er will so etwas nicht genauer wissen. Du beschreibst zur Veranschaulichung: „So wie sich die Delpren auf unserem Anrufbeantworter anhörte, kam für mich ein ganzes Behinderungssystem rüber. Wie unsicher sie klingen wollte, wie sie zweimal ansetzen musste und wie umständlich sie begann zu erklären, um dann um einen Rückruf zu bitten. Das war eine ganz verlogene Selbstdarstellung der Hilflosigkeit, die uns anstecken sollte. Noch dazu, weil sie wusste, dass wir mit der auf dem Briefkopf angegebenen Nummer keine Möglichkeit hatten, sie zu erreichen. Das war eine im Sinne der Institution eingesetzte Psychotisierung. Ge hat anhand dieser Aufzeichnung die Gesetzmäßigkeit einer parapsychotischen Vereinigung auf den Nenner gebracht.“

Neumann wendet er sich demonstrativ von dir ab und beginnt irgendeinen Scheiß an mich ran zu labern, um die Analyse zu unterbrechen. Aber darauf kommt es nicht mehr an, wir geben ihm mit, was er von uns mitnehmen soll. Das war bei vielen der Geschichten so, mit denen wir in die Lage kamen, ein Geschehen auf den Nenner zu bringen. Jetzt plätschert das Gespräch aus, weil wir so nah an der Wahrheit dran sind, dass wir nicht einmal mehr insistieren müssen. Wir sind uns der Sache sicher, das gibt es nichts mehr zu zerreden.

Ihn beeindrucken anscheinend die Stichworte: 17 Stunden Test, Führungszeugnis, eigener Schlüssel für die Bank… Ich unterstreiche: „Der Bankdirektor ist über den kompletten Ablauf informiert, damit habe ich das Interesse gekurbelt, ich habe ihm sogar verschiedene Texte zum Lesen gegeben.“

Neumann tut so, als gehöre sich das nicht: „Das kannst Du doch nicht machen! Das sind Interna, die nur ein kleiner Kreis richtig einschätzen kann.“

„Wieso nicht, es sind meine Erfahrungen. Mit dem nötigen Zugriff hätte ich das Material sogar an die Bildzeitung weiter gegeben.“ Ich stehe dazu: „Wir verwenden die Informationen mittlerweile zu Werbezwecken und für Bewerbungen, wir nennen dich sogar als Referenz! Hast Du noch nichts gehört, hat eine der Universitäten oder Fachhochschulen vielleicht nachgefragt, zum Beispiel die Humboldt-Universität?“

Er schüttelt den Kopf und meint: „Ich habe kein Telefon und das geht in der Regel telefonisch. Zu einer Anthologie ‚Lyrik der 80er‘, habe ich ein Telegramm bekommen, ich soll mal zurückrufen. Ich habe zurück gerufen. Der Typ am anderen Ende hat gefragt: ‚Sascha, ja oder nein?‘ Ich sagte ‚ja‘, der andere bedankte sich – und Sascha war natürlich nicht in der Anthologie.“

Das soll entmutigen, wir sollen einsehen, dass es gar nicht sinnvoll sein kann, sich auf ihn zu beziehen. Neumann erzählt: „Ihr könnt euch nicht vorstellen, was für ein erbärmliches Bild Andersen jetzt abgibt, er weiß überhaupt nichts mehr, kann sich an nichts erinnern, ist völlig verwirrt.“

Ich sehe nicht ein, mich auf dieser Ebene einsortieren zu lassen. „Dass er ein Stasi-Spitzel war, ist mir egal. Ich habe hier mit mindestens so verlogenen Schweinen zu tun und die sitzen nicht nur auf der Uni, die nutzen ihre Möglichkeiten: Ihre Delegierten sitzen im Gemeinderat, im Landtag und sogar im Bundestag. Leider gibt es einen Unterschied. Wir haben hier keinen goldenen Westen des Westens, uns ist jedes moralische Instrument verloren gegangen, mit dem wir gegen die Verfügungsgewalten der behördlich zugeschnittenen Wirklichkeit in offiziellen Registern vorgehen können. Wenn sie einen mit den Maßstäben des Westens kaputt gemacht haben, den sie davor gut gebrauchen konnten, finde ich vor allem die Invektiven eines Grass obszön. Tatsächlich haben die dumpfen Abhängigkeiten und die kleinen Gefälligkeiten dafür gesorgt, dass einer zum Abschuss freigegeben worden ist, der als Sündenbock dazu dient, dass die Maschine weiter läuft.“

„Warte mal ab“, unterbricht er mich: „Bis Du ein gutes Angebot bekommst. Und das kommt sicher. Dann wirst Du alles auf einmal ganz anders sehen.“

Ich schaue ihn eine Weile an. Warum habe ich in Dresden gezeigt, dass das Spiel nicht läuft, wenn man von niemandem abhängt und auf keinen Förderer Rücksicht nehmen muss: „Das Klügste, was die machen könnten, wäre mich einfach weiterwursteln zu lassen. Mich kennt niemand, ich habe kein Bedürfnis, irgendwelche Fürsprecher ausfindig zu machen und tatsächlich habe ich keine Lust, mich in die übliche Tretmühle zu begeben. Man könnte also einfach zusehen, wie ich mangels Aufmerksamkeit einfach verschwinde.“ Um die Distanz zu unterstreichen, erkläre ich die Rolle eines Anderson aus dieser Sicht: „Was Ihr für seine Geschichte haltet, ist für ihn nur eine Nebensache gewesen, die Hauptsache war, was er an Einfluss zustande bringen, wie viele Leute er in seinen Texten vernetzen konnte. Wenn er nun auf den Stasizuträger festgenagelt wird, rechtfertigt er sich mit Themen, die die angeblich so kritischen Urteile über Sascha Arschloch zur Nebensache erklären – schließlich hat die Stasi manche Veranstaltungen erst ermöglicht. Das ist ein Selbstschutzmechanismus, damit er nicht in ein schwarzes Loch fällt. Ich kann das nachvollziehen, weil sich bei mir ein komplementärer Prozess eingestellt hat. Als die Geschichte im März schwer wurde, habe ich nur noch punktuell existiert. Ich war in dem schwarzen Loch, Schritt für Schritt, ohne Erinnerung, ohne Zukunft, von einem Punkt zum nächsten Punkt. Ich habe fast nichts mehr wahrgenommen und alles ausgeblendet, was nicht ins Survivalschema passte. Das waren ganz kleine Schritte, manchmal nur Millimeter, aber es war die einzige Möglichkeit, durch den Beton durchzukommen.“

Während er bisher ständig versucht hat, runter zu ziehen, das Verfahren abzuwerten, den ganzen literarischen Bereich zu irrealisieren, lässt Neumann jetzt zum zweiten Mal die Bemerkung fallen: „Ich rechne damit, dass die Geisteswissenschaften anspringen. Da kommt etwas, ihr könnt auf einen Anruf warten!“ Er will also weg vom Gegengewicht einer Bank, würde gern dafür sorgen, dass ich weiter hinzuhalten bin, deutet noch mal an, dass ein Bankdirektor kein angemessener Adressat meiner Texte ist. Für mich impliziert diese Betonung einen Verweis auf die Nachfrage aus München und auf Lautmanns Besprechung des Altpapiers in einem Lexikon für schwule und lesbische Sozialisationsformen.

Du fragst dazwischen: „Warum kann ein Baumgart in der ZEIT nichts für uns bewirken? Eine Besprechung, vielleicht mit dem Hinweis auf die Konzeption, und mit dem Absatz des Altpapiers sieht es schon ganz anders aus!“

Hier wiegle ich ab: „Ich lege keinen Wert auf Abhängigkeiten und vor allem arbeite ich nicht mit Vitamin B.“

Neumann schüttelt den Kopf und sagt: „Mit der ZEIT habe ich selbst meine Probleme. Ich will lieber versuchen, den Sperrmüll bei einem der Leuten unterzubringen, über die ich im Januar erzählt habe.“

Das wird mir zu diffus: „Unser letzter Verleger machte den Eindruck, er lasse sich für Machtspiele honorieren, die uns ausbremsen sollten. Warum sollte mich die nächste Verheißung an der Nase herumführen, jemand werde den Sperrmüll verlegen. Am Schluss ist nur die Zeit kaputt. Außerdem lege ich keinen Wert auf Lesungen, auf Reisen, Schall und Rauch: Ich werde jetzt das Geld machen, mit dem ich von den Krüppelzüchtern unabhängig bin! Oder eine Stelle übernehmen, mit der die Leute, die sich derart ins Unrecht gesetzt haben, ein bisschen von ihrer Schuld abtragen und ich der nächsten Generation beibringe, wie man sich vor solchen Krüppelzüchtern hütet. Ich werde mich einen Scheiß um ein Manuskript kümmern, das fertig ist und nicht mehr vergessen gemacht werden kann, mehrere Versionen liegen den Bewerbungsunterlagen auf verschiedenen Unis bei. Wenn es jemanden verlegen will, soll der das ruhig machen, aber ich will erst wieder davon hören, wenn es im Druck ist.“ Ich spekuliere darauf, dass er einen Kuhhandel im Hinterkopf hat, vielleicht für den Verzicht auf eine Veröffentlichung etwas bieten kann und frage: „Hast Du das vollständige Manuskript eigentlich noch?“

Er bestätigt: „Natürlich habe ich das Manuskript noch! Ich habe angefangen, es zu lesen. Aber ich habe viel gearbeitet, ich lese fast gar nichts mehr. Dafür liest meine Frau gerade das Altpapier.“ Er muss betonen: „Ich habe den Leuten im Gründungsrat das Manuskript gezeigt, doch die alten Männer haben abgewinkt, so ein dickes Ding!“

Ich unterstreiche: „Für die Theorie steht schon alles drin. Es braucht keine Erweiterung, nichts was mir in Dresden begegnet ist, bleibt unerklärt. Aber wenn ich mir die Zeit für den Gründungsrat nehme, wäre eher eine literarische Umsetzung interessant, eine Art perverses Symposion. Ein viel größerer Reiz könnte sich daraus ergeben, ein Drehbuch oder ein Computerrollenspiel aus dem Material zu machen, um eine andere Leserschaft zu erreichen. Die Rolle des Sokrates würde ich in diesem Fall dekonstruieren, bis er kein Sündenbock mehr ist, sondern ein Kanzlist des eigenen Innern. Der Schierlingsbecher müsste dann an seine der institutionalisierten Gewalt verpflichteten Gegner weiter gereicht werden – ich könnte mir dich in der Rolle des Aristophanes vorstellen.“

Das will er nicht hören, Neumann fällt mir ins Wort. Ganz unvermittelt beginnt er von einem Werner-Herzog-Film zu erzählen: „Du hast sicher von diesem berühmtem Skispringer gehört, der so weit sprang, dass es schon ein Skandal war. Die anderen brauchten nicht mehr mit zu springen, das war unsportlich, das war kein Wettbewerb mehr. Schließlich lief es darauf hinaus, dass dieser Ausnahmesportler nur aus der unteren Luke springen durfte, wenn er überhaupt mitmachen wollte. Manchmal gibt es Situationen, da sind die Guten des Besseren Feind!“ Vorgetragen mit einem Pathos in der Stimme, als sei es etwas ganz besonderes, sich auf Herzog berufen zu können.

Ich komme nicht einmal drauf, dass das Timbre mir gilt, denke an die frühere Chefin des Buchhandels, die Herzog kannte und die mir in einem Zusammenhang, als ich sagte, dass ich ein überzeugter Fußgänger bin, erzählt hat, dass er von Stuttgart nach München gelaufen ist. Das ist schon lange her, mittlerweile haben wir auf unseren Spaziergängen mit den Hunden bereits mehr als die Hälfte der Distanz zwischen Erde und Mond zurück gelegt. Ich mache ein Späßchen, um von der negativen Energie weg zu kommen, die er mit der Stimme rüberbringt: „So geht es mir regelmäßig! Irgendwann ist man so gut, dass ein Punkt erreicht ist an dem sie einen nicht mal mehr unter künstlichen Behinderungen starten lassen. Das haben wir bereits alles hinter uns!“ Neumann beobachtet mich und deutet ein Nicken an. Ich bin mir nicht sicher, vielleicht bilde ich mir ein, dass er gerade eine Möglichkeit der gütlichen Einigung andeutet. Wenn man mich nur ließe, würde ich für den Anfang auf halber Höhe abfliegen. Ich schaue kurz zu dir rüber und als ich wieder in seine Richtung blicke, wirkt er müde und ausdruckslos.

Neumann ist mit der Zeit weniger und kleiner geworden. Wenn ich mich an das Machtvolumen vom Januar erinnere, sollen wir wohl mutmaßen, dass den Leuten, die hinter ihm stehen, der Dampf ausgegangen ist. Sie können nichts mehr, sie haben keinen Einfluss mehr, sie haben vielleicht noch nie große Einflüsse gehabt. Das sieht alles so aus, als sollen wir runter gezogen werden, als müsse mit einer Verleugnung unterstrichen werden, dass nie etwas geschehen ist. Als müsse unterstellt werden, wir spintisieren uns etwas zusammen, um die Bedeutsamkeit der Dresden-Geschichte aufzublähen. Vielleicht bilden wir uns sogar eine Intrige ein, viel Feind viel Ehr. Dabei soll es sich nur um ein paar müde alte Männer handeln, die nicht mehr viel bewirken können und sich vor allem nicht einmal einig sind. Neumann hat sich abgenutzt, gegen Ende des Gesprächs versucht er seine Rolle so darzustellen, als sei er in Sachen Geld und Möglichkeiten in eben der Situation, in der wir bereits im Februar waren.

Ich betone, um den Abstand zu unterstreichen: „Weißt Du noch, wie leicht es tatsächlich ist, sich zu bewähren, wenn man selber arbeitet – wenn man die Gelegenheit hat, abends erschöpft ins Bett zu fallen. Also nicht auf irgendeine Fürsprache, für die man ein Leben lang dankbar und abhängig ist, angewiesen zu sein. Scheiß zu machen, für den man sich eigentlich schämen müsste. Also keine Zeit abzusitzen und sich in dümmste Machtspiele verwickeln zu lassen, sondern selbst etwas zu tun. Wenn es sein muss, sorgt man für einen Job in einem Bereich, bei dem die Krüppelzüchter keinen Finger drin haben – und wenn man dann abends erschöpft ist, fühlt sich das gut an.“

Ein bisschen wundert es mich, dass er sich die Sachen anhört. Er wehrt sich nicht und steckt die Urteile ein, provoziert sie fast. Ich vermute, dass er uns aushorchen und zugleich in einen Mangel an Bedeutsamkeit wiegen soll. Ich denke mir, dass er eine Show als geprügelter Hund abzieht, um uns runter zu ziehen und bin froh, als er endlich aufbricht. Ich bringe ihn zur Tür und verspüre wie früher nach einem Besuch bei meiner Mutter das Bedürfnis, mir die Birne zuzusaufen. Du hast es leicht, mich davon abzubringen – das ist schon ewig lange her. Wir gehen erst mal mit Kai Wah spazieren. Neumann ist nicht meine Mutter und die Widersprüche, in denen er steckt, sind nicht unser Problem. Wir haben ein Nichtverhältnis, selbst wenn eine seiner Aufgaben lautete, mich in eine Abhängigkeit zu verstricken.

Diese Stunden haben, anders als das erste Telefonat oder der Besuch im Januar, nicht besonders angestrengt. Wir gehen ausführlich spazieren, besprechen was von diesem Besuch zu halten ist. Das ist jetzt die Haltestelle nach Dresden, lange genug danach. Diese Leute sollten mittlerweile einschätzen können, dass ihre Voodoo-Spielereien genauso wenig gezogen haben, wie die Autorität der großen Namen. Sie müssten jetzt wissen, dass ich weiß, dass jedes weitere Wettrüsten meine psychischen Systeme mit mehr Kraft ausstattet. Wir finden es erhebend, dass ich in der Lage bin, die von ihnen aufgewendete Kraft zu absorbieren. Das mag die Konsequenz beinhalten, dass meine universitäre Karriere an ihrem Ende angelangt ist. Du findest das beruhigend, während ich mir immer noch Hoffnungen mache, dass die Botschaft, mit der ich Neumann betraut habe, eine unvorhergesehene Lösung bewirkt. Das ist mein Prinzip Hoffnung: Wenn alles verratzt war, habe ich in der Vergangenheit noch immer einen extrem unwahrscheinlichen Ausweg gefunden. Wenn der gesunde Menschenverstand zu rechnen beginnt, um mir die lang ersehnte Quittung zu präsentieren, laufe ich zur Hochform auf. Du erwartest nichts mehr von den Krüppelzüchtern, versuchst mir vor Augen zu halten: „Was meinst Du, was es bedeutet, wenn die dauernd daran arbeiten, dich zu beschäftigen, ohne dass je an eine Stelle gedacht ist. Denk mal an deinen Hund, irgendwann tritt die nächste Schwachstelle auf und dann fressen die sich fest. Sie würden dich ausbluten lassen, ohne dass Du irgendetwas davon hast!“ Und ich lache darüber: „Wenn die sich wirklich diese Mühe machen, wäre das das Beste, was mir überhaupt zustoßen könnte. Damit ließe sich arbeiten und auf die Dauer werden genügend andere neugierig, um unsere Texte zur Kenntnis zu nehmen. Das Schlimmste wäre doch, wenn sie mich einfach wursteln lassen, wenn ich am Schluss mangels Aufmerksamkeit einsehe, wie sinnlos unsere Selbsterlebensbeschreibungen sind und aufgebe. Was meinst Du, warum ich Neumann genau das als Tipp mitgegeben habe?“

 

„Ich denke, mit den restlichen Aufzeichnungen zur Bank müssen wir uns nicht weiter aufhalten“, schließt Wolhe: „Alles, was bis zum Jahresende noch wichtig wird, haben Sie in den verschiedenen Zusammenhängen bereits angedeutet. Die Bank können wir jetzt abhaken, zum Thema der ‚allmählichen Verfertigung junger Götter‘ hat diese Institution nichts beizutragen. Aber immerhin eines ist auffällig: Ihr Verhältnis zum Geld hat unter diesem Einfluss gewaltig geändert.“

„Ich habe Geld immer als nebensächlich empfunden und bin davon ausgegangen, dass die wichtigen Dinge für Geld nicht zu haben sind. Selbst als wir jede Mark zweimal umdrehen mussten, legte mir der Zen-Buddhismus nahe: Jeder Haufen Scheiße kann eine Erleuchtung bewirken! Diese Erleuchtung hat auf mich gewartet, bis mir eingeleuchtet hat, dass Geld eine Variable für alle mögliche Scheiße ist. Nachdem mir von allen Seiten nahegelegt wird, dass ich mich nicht mehr außer Haus trauen soll, weil mich überall, egal wo ich mich vorstelle, die gleiche Botschaft erwartet. Die Leute, die unsere Gegner sein wollen, haben über den Informationskanal des Arbeitsamtes die Möglichkeit in jener Bank, in jenem Buchhandel, bei jenen Rechtsanwälten, in jenem Verlag, bei jener Zeitung, in jenem Werbebüro und bei allem, was mir gerade nicht einfällt, Einflüsse spielen zu lassen. Also nehme ich die Botschaft ernst und bleibe zu Hause, suche keinen neuen Job mehr, der wieder nur eine kurze Frist liefert, bis die Krüppelzüchter zeigen können, wie allgegenwärtig sie sind. Wir basteln eine Anzeige und bringen den kleinen Zweizeiler eigenhändig zur Stuttgarter Zeitung: Schriftsteller, vielseitig und belastbar, Dr. Phil., sucht Nebentätigkeit. Ich jobbe nicht mehr lange bei der Bank – bis zum Jahresende sind es jetzt noch einmal drei und einmal zwei Wochen. Ich mache mich selbständig mit nichts und keinerlei Startkapital, ausgestattet nur mit einem Telefon und der körperlosen Präsenz meiner Stimme. Weil man mir keinen Ort in der Welt lassen wollte, bin ich am Telefon omnipräsent; auf einmal kann ich in ein und derselben Stunde in mehreren Großstädten Anzeigen für die Lokalausgaben eines Luxusmagazins verkaufen. Wie von allein löst sich der Einflusswahn impotenter Behördenkrüppel in dünne Nebelschlieren auf.“

„Ich denke vor allem an den Bezug auf Ihre Sekundärsozialisation am anderen Ufer und natürlich an die frühere Selbstdefinition durch die Drogenszene. Sie hatten schon einmal, als Sie sich prostituierten oder mit Drogen dealten, die Erfahrung gemacht, dass das Geld die Welt regiert.“ Sie macht dabei einen ganz sachlich, distanzierten Eindruck und versucht mich wohl zu einer Selbstdementierung zu nötigen.

Ich grinse sie an: „Das steht alles schon im Altpapier.“ Schon damals habe ich wichtige Gesetzmäßigkeiten kapiert, dann allerdings gedacht, dass sie in befriedeten geisteswissenschaftlichen Regionen keine Rolle spielten. Das war ein Irrtum: „Wenn ich es genau nehme, gibt es noch viele Versionen von mir, die meisten dürfen sich eben zu Zeiten der Bank nicht ans Tageslicht trauen. Wenn das von der Bank produzierte Krampfbaby in den Vordergrund tritt, verschwinden die anderen hinter einer Nebelbank. Wenn allerdings die Wirklichkeit der Bank zu drängend wird, verkriecht sich das Krampfbaby in einem hinteren Winkel, und irgendwelche Ichfragmente dürfen sich einen abstrampeln, um wenigstens die Minimalbedingungen für ein Prinzip Hoffnung zu gewährleisten. Im Ringen zwischen den alternativen Wirklichkeitsausschnitten verliert die Selbstdefinition des Autors als junger Affe immer mehr an Gewicht, auch von der Erotomanie der Vergangenheit ist fast nichts mehr zu spüren. Eine Version meines biographischen Kaleidoskops beginnt allerdings zu dieser Zeit die Erfahrungen auf der Bank mit denen eines Verführten und denen eines Flippies zu verschmelzen. So ergibt sich ein Notausgang aus der vernagelten Welt: Das Telefon aus der Matrix, mit dem bisher immer nur versucht worden war, uns zu paranoisieren. Die Leute, die sich anmaßen, über unsere Lebenszeit zu entscheiden, sorgen tatsächlich dafür, dass ich jene Techniken entwickle, mit denen es möglich ist, über die Selbstdementierung des Bildungsbeamten und die dauernden Subalternalisierungen durch einen Behördenapparat hinauszugehen. Erleuchtet beginne ich zu telefonieren. Das geht von zu Hause aus, ich muss mich nicht unter Arschlöchern bewähren und ich muss meine Frau auch nicht alleine daheim lassen.“

„Ok, dann kommen wir jetzt auf die Aufzeichnungen zurück, die während der zweiten Bankvertreten entstanden und zeigen, wie sie erst einmal von diesem früheren Repertoire eingeholt werden.“

„Das ist mir ein bisschen zu schnell“, wendet Albach ein: „Erst einmal hätte ich gern gewusst, warum Sie durch die dauernden Zeichen der Paranoisierung nicht in den Verfolgungswahn geleitet wurden und abgestürzt sind. Wir haben genug Zeugnisse aus der Kulturgeschichte, einige große Namen sind dabei. Die Kontingenz wird verleugnet und auf einmal untersteht alles einem Plan, es gibt keinen Zufall mehr und im Zentrum steht der Paranoiker, der sich mit einer gottgleichen Gewalt ausstattet. Warum werden diese Entwicklungslinien bei Ihnen einfach verkehrt? Warum kommen Sie auf die Idee, sich an der Gesetzmäßigkeit der allmählichen Verfertigung junger Götter abzuarbeiten, warum sind Sie auf den Gedanken gekommen, dass ihre, ich sag jetzt mal Verfolger, tatsächlich daran gearbeitet haben, ihre Selbstoptimierung und Sinnproduktion zu gewährleisten? Und der zweite Problemkomplex ist um einiges konkreter. Nennen wir es eine Strategie der Unterwanderung. Wie haben Sie es geschafft, die Szene für sich arbeiten zu lassen, woher kam diese Politik der Einflussnahme auf den Registern der Süchtigen und Prostituierten?“

„Ganz einfach, ich habe mich im Nichttun geübt.“ Damit er nicht auf die Idee kommt, ich wolle ihn nur verarschen, schaue ich ihn nachdenklich an, bis er unruhig wird und wegschauen muss: „Mein Grundsatz ist das Glück des Unvorhergesehenen, ich setze also auf den Zufall, was bei meiner Biographie kein Wunder ist. Mit dem Bezug auf die Kontingenz kann alles so oder auch anders sein, ich akzeptiere keine harte Programmierung. Damit fiel aber die Paranoisierung auf die Intriganten zurück. Ich muss mir keine Verfolgerkausalität einbilden, wenn die Krüppelzüchter Wert darauf legen, dass wir bemerken, wie sie überall die Fäden ziehen. Wenn Sie so wollen, habe ich irgendwann kapiert, den Einfluss dieser Leute, die in die Welt gesetzten Gerüchte, das Flirren biomagnetischer Felder, für mich arbeiten zu lassen. Ich kann mich mit dem Gedanken beruhigen, dass auf jeden Fall etwas hinzubringen ist, wenn diese Leute sich eine solche Mühe geben. Sie arbeiten schließlich an unserer Bedeutsamkeit und setzen in dieser absurden Welt unsere Kapazität frei, einen eigenen Sinn zu stiften. Das dürfte doch nicht allzu schwer zu verstehen sein.

Mit der Drogenszene musste ich mir bis auf einen klärenden Zusammenstoß keine extra Mühe geben. Ich habe damit zu tun, für uns rauszureißen, was überhaupt zu gewinnen ist und die Szene erschnuppert auf dem mimetischen Register die Ähnlichkeiten. Wir mussten nichts vorführen, um zu beindrucken, es waren keine depperten Selbstdarstellungen nötig. Ich habe nur dafür zu sorgen, gewisse psychotische Quälgeister in Schach zu halten, und genau das setzt eine enorme Resonanz frei – die Sucht ist eine Form der Komplexitätsreduktion, mit der die Leute, solange ihr Körper mitmacht, die psychotischen Energien des Familienkontextes als nichtig behandeln. Ansonsten muss ich eben die entsprechenden Umsätze bewegen. Damit kultiviere ich eine weitere Ähnlichkeit, denn die Fixer und die Drogenprostituierten setzen im Monat jeweils mehr Geld um, als ein Bankdirektor verdient und wir sind nicht weniger auf den Umsatz angewiesen, als die Süchtigen. Nur wenn der Umsatz dem nötigen Drive untersteht, geht es uns gut, und dann verwandelt sich die Szene in einen Resonanzraum. Das geht so weit, dass einmal die Straße zu vibrieren beginnt, als wir nach Hause laufen und als wir gerade ankommen, ein Anruf von Porsche Design aus Österreich die Aufträge für einen dicken Umsatz ankündigt. Sie wittern das Spannungsvolumen und den damit verbunden Umsatz; die Szene hat immer wieder eine prophetische Gabe, wenn es um die Ekstase des Geldes geht; wir müssen nur bereit sein, uns auf den Spaziergängen anhimmeln zu lassen. Alles andere geht von allein, denn die Ähnlichkeit der Bestrebungen setzt Bewunderung und Nachahmungsbedürfnisse frei.“

„Ok, dann schauen wir uns das in Auszügen an“, unterstreicht Wolhe: „Wir werden sicher nicht in irgendwelche Lobhudeleien einwilligen, denn es darf nicht unterschätzt werden, wir nahe sie bei Ihrer Tätigkeit als Freelancer den Randbezirken der Illegalität gekommen sind. Aber die analogen Spannungsverhältnisse, der Rausch des Geldes und der Droge, die Leidenschaft des Spielers und die Gesetzmäßigkeiten der Prostitution geben immerhin zu denken.“

„Moment, ich bin noch nicht soweit“, bremst Albach: „Wir haben vor einigen Jahren eine dicke Kritik der paranoischen Vernunft zu lesen bekommen. Alle wichtigen Bedingungen wurden von ihren Gegnern wie Programmcodes eingesetzt, selbst die mangelnde Vateridentifikation lag als unabdingbare Voraussetzung vor. Nur, Sie üben sich in Humor und gehen davon aus, dass diese Leute ihre Verteidigung gleich mit übernehmen? Das kann nicht alles sein!“

„Aber doch! Wenn jemand erst einmal kapiert hat, dass mit einer immer wieder andauernden Übung das Paradies für eine minimale Unendlichkeit zu ervögeln ist, bleibt keine Kraft mehr für die Paranoia übrig. Meine selbsternannten Gegner unterstanden Verfolgungszwängen, weil sie nie in der Lage waren, ihre psychischen Energien in derart lustvollen Übungen abzufahren, dass nichts mehr davon übrig blieb. Nur wer es nicht bringt und noch dazu in Verwaltungsvollzügen festhängt, wird ein derartiges Ressentiment aufbringen, dass sich der Neid und der Vernichtungswille festfressen. Das ist ein Resultat der Stillstellung und bedauerlich, aber schon lange nicht mehr mein Problem.“

„Das mag sein, aber weil Sie es zum Problem einiger Statthalter der Macht gemacht haben, ging es nicht einfach an Ihnen vorbei!“ Albach wiegt seine Argumentation bedächtig ab und bewegt dabei den Kopf in einem Kreisbogen hin und her: „Ich habe gerade mit der Suchmaschine die restlichen Texte aus der Zeit des Bankjobs gesichtet und Sie glauben nicht, was ich gefunden habe als ich die Suchbegriffe ‚Beamtensohn‘ und ‚Sucht‘ und ‚prostituiert‘ verknüpft habe. Es war nur ein Versuch, weil ich der Resilienz unserer Moderatorin nicht allzu viel zutraue. Und siehe da, das ergab einen Treffer. Auch hier wieder die Frage: Wie gehen Sie vor, wenn ihnen die magische Verfolgerkausalität in den verschiedenen Zeichensystemen präsentiert wird. Natürlich sind diese beiden Abschnitte jetzt völlig aus dem Zusammenhang herausgerissen, doch warum soll uns das stören? Bevor wir zu den abgesegneten Auszügen kommen, werde ich Ihnen diesen Text präsentieren!“

 

Dann wäre es doch die Krönung der institutionalisierten Verdummung, wenn der Streetworker, dem ich in den ersten Monaten zweimal auf der Post begegnet bin, als ich die Frankiermaschine der Bank aufgeladen musste, diese Süchtige auf mich angesetzt hat. Eine Assoziation, die ich als unrealistisch verwerfe, weil er mich dann in der Post abgepasst haben müsste. Er hat vermutlich nur so seltsam befangen gewirkt, ist nach der kurzen Andeutung eines Nickens vorbei geeilt, weil er während seiner bedächtigen Fleiß- und Abschreibarbeit zur Kenntnis nehmen musste, in welch kurzer Zeit ich eine Promotion erledigt habe. Er brauchte ein paar Jahre dafür. Vielleicht sind ihm noch irgendwelche Gerüchte über den Auftritt in Dresden zu Ohren gekommen. Aber sehr wahrscheinlich werden solche Sachen so lange es geht geheim gehalten.

Einige Zeit nach dem Zusammenstoß entdecken wir das Foto dieser Fixerin in der Stuttgarter Zeitung und lesen von einem Streetworker, der sich für diese Frau einsetzt, die schon seit vielen Jahren an der Nadel hängt. In dem Artikel muss hervorgehoben werden, dass sie in den Beratungsgesprächen steif und fest behauptet, sie sei noch nie auf den Strich gegangen. Nicht die Selbstdementierung dieser Schwachsinnigen kommt mir seltsam vor, sondern das Engagement der Streetworker – außerdem konnte ich beobachten, dass sie sich als Zuhälterin kleiner Stricher hervorgetan hat. Einer der Streetworker hat über Fromm promoviert, und als ich ein bisschen in meinen Aufzeichnungen krame, ist es jener Beamtensohn, der über mich verbreitete, ich sei kommunikationsgestört. Während des Studiums unternahm er LSD-Versuche mit seiner Katze und erzählte mir in einem Lacan-Seminar von den Forschungen Stanislav Grofs. Für mich ein Schwätzer und Schmarotzer, Beamtennachzucht, ich war nicht bereit, seine Profilierungsversuche ernst zu nehmen und hielt es nicht einmal für nötig, ihn darauf hinzuweisen, dass ich die Trips geworfen habe, über die er nur in Büchern las. Hätte sich diese blöde Kuh uns gegenüber nicht derart bösartig verhalten, hätte sie mir leid tun können. Nun ist sie in den Fängen von Vampiren gelandet und hat die Regeln der Normalität einer Beamtenwelt zu bestätigen. Schließlich habe ich einmal gelernt, was es heißt, sich für ein paar alltägliche Notwendigkeiten und den Hoffnungsstrahl von Anregungen für eine noch unvorstellbare Zukunft zu prostituieren – so sage ich mir, dass es ihr ganz recht geschieht. Kommunizierende Röhren: Der drogensüchtige Ausschuss unseres Schulsystems und die stillgestellten Bildungsbeamten. Wenn die Strippenzieher dann ihre Beziehungen spielen lassen, disqualifizieren sie sich ab dem Augenblick, ab dem zu bemerken ist, dass ihre Delegationen ins Leere laufen.

„Und damit sind wir wieder bei der Paranoia“, unterstreicht Albach: „Es werden lauter Signale gesetzt, und Sie haben die seltsame Gabe, die Zeichen zu registrieren und in irgendeiner Schublade abzulegen. Noch dazu befinden Sie sich in einer Lage, über die wir uns in anderen Zusammenhängen schon einmal ausgelassen haben. Sie hätten sich als Zuhälter einer attraktiven Frau manche Mühe sparen können, für dieses Schema gab es genügend Zeichensetzungen, die bereits von deren Eltern präpariert worden waren. Aber Sie haben es vorgezogen, ihre Partnerin zu schonen und sich selbst dafür auszusetzen. Da frage ich mich natürlich, ob das ein Teil ihres Erfolgsrezepts ist.“

„Ich sage es noch einmal. Wenn Lustpolitik und Beziehungsarbeit dafür sorgen, dass die nötige Libido bis zur Erschöpfung abgefahren wird, bleibt keine Energie für die Paranoia mehr übrig. Und die von der Lust getragene Beziehung duldet keine Entwertung; wenn ich in der Lage bin, das Höchste mit einer Partnerin zu erreichen, jenseits des Tauschmechanismus leerer Variablen, dann werde ich sie doch nicht in ein Zahlungsmittel verwandeln! Was soll ich dazu noch erklären?“

Wolhe mischt sich jetzt unwirsch ein: „Das geht vom hundertsten ins tausendste und dabei haben wir diese Fragestellungen bereits mehrfach zu klären versucht. Ich sehe gar nicht ein, dass Sie zu Profilierungszwecken über unsere Zeit verfügen. Wir sollten wir uns vielleicht erst einmal die tatsächlichen Zusammenhänge ansehen, die Spekulationen erledigen sich dann von allein. Ich würde jetzt gern zu einem Ende kommen!“

 

Während dieser zweiten Phase der Botengänge sehe ich an dem Ampelübergang bei der LZB, wenn ich morgens um elf kurz bei dir vorbeischaue, ein skurriles Grüppchen. Um elf Uhr sind die wohl grade aus dem Bett gekrochen, wirken vor dem schwarz verglasten Block einer Bar verknittert und ausgemergelt grau. Das sind Leute, die die Nacht zum Tag machen und mit Hilfe von Alkohol und Drogen versuchen, mit ein paar Stunden Schlaf auszukommen, um mindestens sechsunddreißig Stunden in einen Tag zu quetschen. Ich kann mich noch daran erinnern, wie es sich anfühlt, wenn der Körper dehydriert ist, wenn die Haut brennt und sich dabei kalt und schmierig anfühlt, wenn der Kopf hämmert, die Ohren unter Druck stehen, die Augen schmerzen und hinter einem schummrigen Licht vor sich hin trielen. Die Reminiszenz setzt trotz der Distanz in keine Ablehnung frei, eher ein Schaukeln der Wirklichkeit. Ich schaue mir diese Leutchen aus der Entfernung von siebzehn oder achtzehn Jahren an und überlege, ob es tatsächlich die Mühe wert war, die ich in dieser Zeit der kulturellen Umwege auf mich genommen habe. Ob es nicht sinnvoller gewesen wäre, den akademischen Scheiß zu lassen und zwischen Räuschen und Malen und Schwulenkontakten vor mich hinzugammeln, bis die Zeit rum war. Vielleicht wäre ich längst tot und hätte keinen Grund mehr, mir Sorgen zu machen oder mich sinnlos anzustrengen. Allerdings weiß ich mittlerweile, dass die machtgierigen Krüppelzüchter nur von unseren Ängsten und Erwartungen leben – das ist der Ertrag dieser Jahre, so etwas lernt man nur unter Schmerzen. Einem orgiastischen Chimney sweeping können sie nichts entgegensetzen, solange es ihnen nur darum geht, Macht auszuüben.

Wenn ich dem Grüppchen dann oft am Nachmittag auf dem Heimweg noch einmal vor dem Radio Barth begegne, stehen sie unter Strom und rufen bei mir Lou Reeds ‚waiting for my man‘ ab. Ein junge Frau mit zwei Schäferhunden, die wie die Kopie einer überangepassten Tochter aus ganz kleinen Verhältnissen wirkt. Die Karikatur einer Hausmeistertochter, spießige C&A-Klamotten, eine Blumenkohlfrisur, die sie wohl älter aussehen lassen soll. Dabei trägt sie so kurz abgeschnittene Jeans, dass die Arschbacken raushängen, der lasche Hängehintern von jemandem, der in seinem Körper nicht zu Hause ist. Fraglich sind eher die beiden Bubis mit kurzen Hosen und Kniestrümpfen, die sie begleiteten, einer immer auf einem Kinderfahrrad. Auf den ersten Blick sollen sie wie dreizehn- bis fünfzehnjährig aussehen, aber bei genauerem Hinsehen sind sie vielleicht schon zwanzig. Ich bin zu abgefahren, um groß auf die Gruppe zu achten, müde und kaputt: Warum mich überhaupt mit jemandem abgeben. Mir wollen so viele Arschlöcher auf den Wecker gehen, die Gewohnheit des Abblockens sorgt mittlerweile dafür, dass ich die meisten Leute nach einem sichernden Blick nicht mehr zur Kenntnis nehme. Mir fällt nur die Häufigkeit der Begegnungen auf. Erst als der eine der Typen einmal an der Ampel eine primitive Anmache versucht und so demonstrativ seinen Sack zu kratzen beginnt, dass der Pimmel und ein Ei zum kurzen Hosenbein raushängen, fällt bei mir der Groschen. Ich schaue desinteressiert weg, bemerke aber den ausspähenden Blick dieses Kinderdarstellers und höre das höhnische Lachen der Frau. Als ich mich unter Schwulen bewegte, habe ich einen Puzzi sofort erkannt; jetzt ein Wiedererkennen: Das sind Stricher! Das Kinderfahrrad und die kurzen Hosen dienen als Maskerade für eine ganz spezielle Zielgruppe. Dann ist die Frau ihre Zuhälterin, so stinkig und verkommen, wie die sich an manchem Morgen in den Tag quälen, sind das Junkies. Ich werde bei dem Grüppchen vorsichtig; mich wundert nicht, dass sie sich in dieser Bankengegend aufhalten und den Markt abgrasen. Ich habe schon mitbekommen, wie die beiden Bankboten der Berliner Bank aus der Nr. 39 kamen, dem Block, in dem der Rechtsanwaltssimulant ein Appartement hat, um schnell zu seiner Praxis zu kommen. Es ist bekannt, dass außer Arztpraxen, Rechtsanwaltskanzleien und Briefkastenfirmen in dem schalldichten Betonkasten Prostituierte Einzimmerapartments angemietet und sich auf alle Arten von Sonderwünschen spezialisiert haben. Bei dem, was ich bisher von den Töchter zeugenden Bankern mitbekommen habe, wunderte es mich nicht, dass es hier einen Markt für Abseitigkeiten gibt. Vielleicht ist die Selbstdarstellung einer unterbelichteten und überangepassten Spießertochter eine geschickt gewählte Arbeitskleidung dieser Frau: Vielleicht lässt sie sich dafür bezahlen, dass sie verbogenen Spießern die Möglichkeit bietet, endlich mal das zu machen, was sie schon immer mit ihren eigenen Töchtern machen wollten, wenn sie nicht zu große Angst hätten, gestraft zu werden. Einmal bekomme ich sogar mit, wie dieses Grüppchen mit den beiden Schäferhunden und dem Kinderfahrrad gegenüber der Nachtbar im Parkdeck der LZB verschwindet. Vielleicht laufen hier nicht nur die Buchungen der verschiedenen Banken zusammen; Geld macht geil, anscheinend haben manche Bankangestellten noch andere Bezüge einzulösen.

Ich bin anonym und ganz zurückgenommen. Nachdem ich kapiert habe, um was es dem Grüppchen geht, blocke ich jeden Blickkontakt ab, zeige ich eindeutig, dass ich kein Interesse habe. Natürlich kann ich mich fragen, warum mir zum gegenwärtigen Zeitpunkt so etwas begegnet. Setzen solche Passformen wie eine Verführung oder der Todeslauf einer phallischen Frau derartige Energien frei, damit Variationen des Spiels in Verkleidungen neu auftauchen? Aber ich habe nicht die Zeit, nicht mehr die Kapazität, mich solchen Fragestellungen zu widmen – ich wälze alle möglichen Informationen zu Thema Selbständigkeit hin und her, habe schon mit zwei Ämtern telefoniert, welche Regeln zu beachten sind, welche Unterlagen ich vorlegen muss. Wenn beim Jobben Buchhändlerinnen oder Rechtsanwaltsgehilfinnen auf mich angesetzt wurden, war das leicht zu verstehen: Jemand versuchte, Macht über mich zu gewinnen, indem er oder sie – ich wusste noch nicht, woher der Wind wehte – Gelegenheiten schuf, um mein Begehren zu kodieren. Für mich war das einfach abzuhaken; ich sagte mir, dass das weibliche Ich-bin-wichtig durch die meiner attraktiven Freundin geltende konfliktuelle Mimetik angekitzelt wurde. Auf der Uni waren die Kräftepfeile schon klarer zu sehen. Umso mehr ich mich durch Leistungen exponierte, umso häufiger stellten sich depperte Studentinnen als Delegierte ein, die ganz offensichtlich meine Beziehung stören sollten. Im ‚Philosophischen Sperrmüll‘ habe ich den eingeschnappten Ton einer Verlegerstochter analysiert. Sie bekam alles, was sie wollte und quengelte, als sei nichts so, wie sie es sich vorgestellt habe. Wie mir Delegierte erzählten, um mich anzuspitzen, war am meisten Knatsch und Abwertung im Stimmton zu hören, wenn ich in der Nähe war. Dabei werde ich für so jemanden erst interessant, weil ich bereits vergriffen und schon aus Prinzip für eine Millionärstochter nicht zu haben bin. Wenn in den folgenden Jahren die Stuttgarter Literaturwissenschaft unbemannte Examenskandidatinnen in meine VHS-Kurse schickt, ist klar, dass es sich um Machtstrategien handelt, weil ich out of control geraten bin. Aber nun, nach Dresden und als einfacher Bankbote, scheint es so, als klinke sich das Gesetz der Straße in diesen universitären Signifikanten ein. Dabei gab es garantiert keine Verbindungen zwischen der akademischen Elite und dem Drogenstrich – nur weil sich jemand mit den Künstlichen Paradiesen oder den Bekenntnissen eines Opiumessers, mit der Bohème oder den Bordelleskapaden des Fin de Siècle auf dem Papier profiliert, nur weil im Straßencafé ein bisschen Halbwelt simuliert wird, ist damit noch lange kein Weltbezug geerdet. Es gibt vielleicht einen Bezug über den depperten italienischen Friseur in unserem Haus. Er hat lange nicht kapiert, dass die Junkies sein Außenklo verwenden und einige seiner Friseusen sich ein paar Häuser weiter in der Neununddreißig prostituieren, um irgendwann auf dem Drogenstrich zu landen. Aber vielleicht sind es kommunizierende Röhren, schon Lichtenberg war aufgefallen, dass die wichtigsten Dinge mit Röhren verbunden sind: Das Zeugen, das Schreiben und das Totschießen… Wenn vor langer Zeit einmal die surrealistische Hoffnung lautete, die Kräfte des Rausches in den Dienst der Revolution zu stellen, so ist diese Hoffnung akademisch zugerichtet glatt in ihr Gegenteil verkehrt worden. Die Drogensucht, die Spielleidenschaft, die Erotomanie und die Sammelwut sind Formen der Komplexitätsreduktion, auf die jede/r ausweicht, die/der das hoch gekitzelte Spannungsvolumen nicht mehr aushält – und deswegen werden Spannungen von den Leuten, die etwas erreichen wollen, systematisch zur Verführung eingesetzt. Nach diesem Auswahlprinzip besiedeln in den meisten Fällen stumpfe, impotente Zwangsneurotiker oder frigide Stressmaschinen die Schaltstellen der Macht. Und trotzdem ist damit noch nicht alles erklärt. Kommunizierende Röhren funktionieren tatsächlich über Zeiten und Orte hinweg. Bei einem letzten Anmachversuch an der Ampel vor der LZB – danach folgen Aggressionen – haben die drei ein attraktives phallisches Modell mit blauschwarzen Haaren dabei, das sofort auf meinen sichernden Blick anspringt und versucht, sich festzusaugen. Als ahnt ein derart primitives und dummes Volk, weil es durch die magischen Kräfte der Droge angetrieben wird, was mir damals die Verheißung für ein erfülltes Leben bedeutet hat. Sie haben auf der vorsprachlichen Ebene einen Riecher für spezifische Konditionierungen. Du hast dir vor zwanzig Jahren die Haare blauschwarz gefärbt und ich habe dich als abgefahrener Flippie auf dem Schulweg angesprochen. Der Querbezug transportierte etwas unheimliches, aber ich fühlte mich derart abgenutzt, dass ich solche Signalsysteme nur konstatierend in irgendwelche Kästchen zur weiteren literarischen Verwendung einsortierte. Ich bin nicht mehr zu erreichen, schaue mir die Schöne in aller Ruhe an, bis es ihr unheimlich wird und sie nicht mehr weiß, was sie machen soll. Der Kleine auf dem Kinderfahrrad ist mittlerweile abgedreht und wieder ein Stück die Lange Straße hochgefahren; der zweite Typ hat die Spannung nicht gehalten und ist einfach losgelaufen; zwei Autofahrer hupen, einer muss scharf bremsen; die nachgemachte Spießerin kümmerte sich um die Schäferhunde. Dann ziehe ich ein ausgiebiges Gähnen so lange hin, bis mir die Tränen in die Augen treten und demonstriere, dass mich diese weibliche Verkupplungsstrategie nur ermüdet. Ich wende mich ab, um über die Straße zu gehen, damit ist die Sache für mich erledigt.

Genau dieses Desinteresse will die spießige Missgeburt nicht akzeptieren. Ich habe das nötige Quantum Hass freigesetzt. Sie versucht uns auf den Abendspaziergängen abzupassen und mit den Schäferhunden einzuschüchtern. Auf den Botengängen sehe ich das Grüppchen fast nicht mehr, aber wenn ich am späten Nachmittag nach Hause gehe, dreht der Typ auf dem Kinderfahrrad vor dem Radio Barth in schöner Regelmäßigkeit seine Kreise, manchmal ist der zweite Typ mit dem kleineren Schäferhund dabei und sitzt auf der Bank des Rondells neben dem Eingang. Wenn wir dann später mit Kai Wah über die Finanzamtwiese gehen, kann es geschehen, dass uns das Grüppchen schon erwartet. Weil wir dann ausweichen, hinten am Finanzamt entlang gehen, fühlen sie sich bestätigt und meinen, wir haben Angst vor ihnen. Das ist die typische Reaktion kleiner Krüppel. Ich nehme Rücksicht oder versuche einen Konflikt zu vermeiden und sie fühlen sich aufgefordert, die Sau raus zu lassen. Die nächsten beiden Abende meinen sie, uns zu vertreiben, wenn sie die Hunde über die Wiese hetzen. Die Frau wird von einer verbohrten Zukurzgekommenheit gelebt und steckt voller Scheiße; die Stricher stehen als ihre Delegierte zur Verfügung. Die drei sind so daneben, dass sie meinen, uns eine Negation fühlen zu lassen, die ihnen von genau jenen gesellschaftlichen Werten angetan wird, die wir mit Erfolg ausgehebelt haben. So funktioniert der perverse gesellschaftliche Zusammenhang, wenn die Ausgespuckten, die Geschlagenen und Getretenen selbst daran beteiligt sind, die Unterwerfung zu rechtfertigen und sich ihre Wut und Zerstörungskraft vor allem auf jene richtet, die dieses Unrechtssystem in Schach halten oder unterlaufen. Ich lege keinen Wert auf einen Konflikt, versuche dich zu beruhigen, weil dein psychisches Gerüst noch immer so wacklig ist, dass du oft nur auf eine Gelegenheit zu warten scheinst, um alles für umsonst zu erklären. Ich betone: „Wir müssen gar nichts machen. Das geht wie von allein, wenn sich diese Leute in einer Weise daneben verhalten, bei der vorher zu sehen ist, sie wie bei der nächsten Gelegenheit die Ordnungsmacht provozieren. Diese Schwachsinnigen graben sich selbst das Wasser ab!“ Ich muss dafür sorgen, dass Kai Wah nichts geschieht, ansonsten bin ich für ausweichen und umspielen. Stattdessen steigerst du dich in eine verbohrte Wut rein und fragst wiederholt: „Können wir denn gar nichts tun?“ „Warum denn? Das bringt doch nichts.“ Aber wir müssen doch was tun!“ „Aber, sicher! Wir können andere Wege gehen. Wir sind selbst schuld, wenn wir nicht regelmäßig unsere Runde ändern, dann weil wir zu träge dazu sind.“ Für dich scheint das ein Armutszeugnis, aber mit der Delegation eines Alber im Genick arbeiten noch immer einige deiner Persönlichkeitsfragmente daran, unser Scheitern zu erzwingen. Wir ändern die abendliche Runde ein wenig, gehen etwas später oder erst einmal die Rotebühlstraße hoch oder in Richtung Unipark. Die dreieinhalb Bankwochen gehen schließlich dem Ende zu. Wenn wir unsere Zeit wieder selbst einteilen, gehen wir abends Richtung Weißenburganlage. Dann, am Donnerstag in der letzten Bankwoche, sind wir abends auf dem Rückweg vom Unipark, als uns das Grüppchen auf dem Zebrastreifen vor dem Radio Barth entgegen kommt. Ich versuche nach rechts auszuweichen und bemerke sofort, dass es diese Schwachsinnige auf einen Konflikt anlegt und die Richtung wechselt, um unsere Bahn zu kreuzen. Damit ist wieder einmal der Groschen gefallen. Ich beschleunige und führe Kai Wah so an der Leine, dass sie hinter mir verschwindet. Ich mache zwei-drei schnelle Schritte auf das Grüppchen zu und als die Schäferhunde noch etwa einen Meter entfernt sind, lasse ich einen der Brüller los, den ich früher im Hunderudel geübt habe und trete mit dem linken ausgesteckten Fuß in Richtung des größeren Hundes, während gleichzeitig die linke Faust vorschnellt. Ich habe einmal gelernt, dass ein Hund aus Reflex schnappt, wenn man ihn tritt oder schlägt. Also habe ich schon bei den Hunden, die wir ausführten, Doppelschläge geübt, bei denen Fuß und Faust praktisch gleichzeitig an zwei verschiedenen Punkten auftreffen. Die beiden Schäferhunde springen links und rechts beiseite, ich habe nicht einmal den Hauch eines Kontaktes. Der kleine Schäferhund rennt auf die andere Straßenseite, ein Auto muss bremsen, ein paar Fahrer hupen. Die beiden Puzzis verschwinden sofort, der eine rennt dem Hund hinterher und der andere radelt wie wild zum Wilhelmsbau runter. Die Drogennutte steht blöde hilflos rum, weiß nicht mehr, was sie machen soll und ihr Schäferhund hängt desorientiert an der langen Leine, schaut in die falsche Richtung. Ich gehe langsam weiter, ziehe Kai Wah jetzt an meine Seite vor, noch immer bereit, sofort zu reagieren. Die Traube von Leuten, die davor die Ampel überqueren wollten oder auf der Insel in der Mitte standen, habe ich nicht beachtet, plötzlich ist ein völlig leerer Raum um uns herum entstanden. Es dauert, bis die Spannung von mir abfällt, in der Sophienstraße muss ich dann lachen. Das Energielevel dröhnt im Körper, die Ohren vibrieren, spüren den Druck, das Zwerchfell trommelt noch – aber ich muss lachen, weil ich wieder die Energie spüre, die mir während der ersten Monate auf der Bank fast verloren gegangen ist.

Ich kann also noch zaubern und das ist die nächsten Meter kein schlechtes Gefühl. Nach und nach, als du dich in eine bösartige Wut reinredest und die ganze Welt wieder verfluchst, als sei sie eine extra für deine Nervenwaage ersonnene terroristischen Veranstaltung, heißt es: „Du kannst darauf warten, bis ich gar nicht mehr außer Haus gehe. Das ist doch alles Scheiße, was habe ich von der Erfahrung unserer Kraft, wenn es nur darauf hinausläuft, dass ich dafür kaputt gemacht werde!“ Nach einer halbe Stunde Abstand ist das alles andere als unterhaltsam. Du machst ein Mordsbrimborium und ich habe den Verdacht, dass die Wut mir gilt und nicht der Fixerin. Natürlich kann es einem völlig fehlinvestiert vorkommen, wenn ich mich mit Abschaum rumzuschlagen habe – als es noch Professoren waren, habe ich mich immerhin daran üben können. Bei der Szene kann ich nichts zu gewinnen und so klingen deine Vorhaltungen: „Warum kommen wir überhaupt in solche Situationen? Warum können wir nicht einfach unser Leben leben? Warum stehen wir sofort immer im Interesse irgendwelcher Arschlöcher, ich will doch nur meine Ruhe!“ Dabei ist es schon kein schlechter Gewinn, wenn die Junkies und Prosties uns nicht weiter belästigten, sondern nach und nach zu immer besseren Delegierten gegenüber den Normalos werden, die noch immer der Ansicht sind, uns zu ärgern und zu behindern. Die Szene kippte prompt in Bewunderung um, als wir mit Fritz aus dem Tierheim kommen, als wird damit ein Schalter umgelegt. Die nächsten Wochen ist zu bemerken, wie die Szene an uns dran hängt. Sie versuchen uns zu begegnen, um zu huldigen, folgen uns auf der anderen Straßenseite in einem respektvollen Abstand, ohne zu bedrohen. Davor mag es ambivalent gewesen sein, sie haben nicht gewusst, wie sie uns einschätzen sollten. Gelegentlich bot uns einer auf den Spaziergängen guten Stoff an – direkt am Hinterausgang des Wissenschaftsministeriums, den ich über Jahre hinweg benutzen konnte, ohne den Ausweis zeigen zu müssen. Gelegentlich haben sie versucht, uns einzuschüchtern, besonders dann, wenn ich so ein verstopftes und bleiches Riesenbaby aus dem Keller hochscheuchte, weil  ich nicht einsah, dass seine knochentrockene hundert Jahre alte Scheiße das Treppenhaus vom Keller bis in den fünften Stock in eine Gaswolke einnebelte, die nach Buttersäure und faulendem Fleisch stank. Soll er doch bei sich zu Hause und zu Ehren der Mama kacken, der er die Sucht verdankt. Nach der Geschichte mit der absausenden Fixerin haben wir plötzlich eine Aura der Bewunderungswürdigkeit und das steigert sich mit Fritz, als ein paar italienische Junkies beginnen, dich anzuhimmeln, um nach und nach die Fernliebe der Minnesänger einzuüben. Manchmal wenn wir abends unterwegs sind, begegnen wir Junkies, die noch nicht lange drauf sind. Die Droge kratzt die Jungs noch derart auf, dass sie die Straßen entlang rasen und sich währenddessen in der Hose einen runterholen. Ich bin abgefahren, weit weg von diesen Erfahrungsformen, bemerke es nicht einmal und du musst mich interessiert darauf hinweisen. Mir fällt auf, dass es dich amüsiert und erregt – was immerhin ein Fortschritt gegenüber dem Wechselspiel aus Wut und Weltschmerz ist. Ich stelle schnell fest, dass wir auch in dieser Hinsicht von der Szene profitieren. Du kannst dich an geilen kleinen Jungs aufladen und ich darf wieder und nicht nur einmal jenes Rezept beherzigen, das Goethe in Versen über seine Wertherfigur verraten hat.

Als wir der Fixerin einige Zeit später wieder in der Tübingerstraße begegnen, hat sie einen und wir wieder zwei Hunde. Die Stricher sind weggefallen und die Mimesis hat den Schäferhund auf dem rechten Auge erwischt, er hat einen genau so hervortretenden Glubsch wie Kai Wah in ihren schlechtesten Stunden. Der symbolische Tausch zeigt uns hin und wieder eine Form der Gerechtigkeit, die sich innerhalb des Signifikantennetzes wie von selbst einzustellen scheint. Im Normalfall hilft uns das nicht über die Tatsache weg, dass die meisten Krüppelzüchter viel zu lange an der Verstümmlung der von ihnen Abhängigen arbeiten dürfen. Wenn wir in jedem Fall wüssten, wie sie für ihr Fehlverhalten gestraft werden oder wie sie auf die Dauer daran arbeiten, sich selbst zu strafen, wäre die Welt um manche Negation ärmer. Denn auch Rachegelüste sorgen dafür, die Homöostase des Elends auf dem gewohnten Niveau zu halten.

 

„Ich hoffe, Sie sind damit einverstanden, wenn wir hier einen Schlussstrich ziehen. Ich will mich jetzt nicht noch einmal auf eine Auseinandersetzung über die konfliktuelle Mimetik einlassen und über die Gesetzmäßigkeiten der Drogenszene haben wir schon mehr gehört als mir lieb ist.“ Wolhe hat offensichtlich genug.

„Aber meine Liebe, wir wollen Sie doch nicht nerven“, versucht sie Albach zu besänftigen: „Sie werden uns aber zugestehen, dass noch einige Fraglichkeiten zu klären sind. Die wichtigste für mich lautet: Wie hat er es geschafft, dass die in seiner Biographie akkumulierte negative Energie ihn nicht ausgebremst hat? Wie war dieses Gewicht einer Welt aus Bosheiten und üblen Nachreden auf einmal umzuprägen, um in den affirmativen Zusammenhängen der Werbung zu zünden?“

„Und wenn wir schon Wünsche anmelden dürfen“, wirft Charlus ein: „Dann hätte ich gern noch ein bisschen mehr über die Kunst der Schlussfolgerung, das psychologische Geschick, die gesellschaftskritischen Einsichten und die hermeneutischen Routinen erfahren: Alles, was Sie den Geisteswissenschaften verdanken, haben Sie als Rhetorik und Überredungskunst in Umsatz umgemünzt. Dazu kommt die Kenntnis der Verflochtenheit der verschiedenen Geschäfte, die speziellen Angebote am Markt, die Strategien der Selbstdarstellung in der Werbung. Wer heute Geisteswissenschaften studiert, wird in eine Schublade gesteckt, laut der mit viel Glück eine Beamtenstelle zu erwarten ist und ich habe ganz bewusst nicht Karriere gesagt. Dabei haben Sie genau mit diesen Pfunden zu wuchern gewusst! Also ergibt sich die ganz einfache Frage von allein: Was haben Sie anders gemacht?“

„Erst einmal bin ich auf die richtigen Informationen angewiesen“, erkläre ich: „Entscheidend ist natürlich, dass wir die notwendige Arbeitsteilung gefunden haben. Meine Frau suchte mir aus den verschiedenen Medien das notwendige Wissen zusammen: Ihr Anteil an diesem Unternehmen ist die Auswertung verschiedener Tageszeitungen und Wochenmagazine. Wie ich in der Bank jeden Tag in den Wirtschaftsteilen der FAZ, des Handelsblatts und anderer Magazine die Artikel auszuschneiden und in verschiedenen Sammelmappen zu sortieren habe, ist es jetzt ihre Aufgabe, alles zusammen zu stellen, was in ein Luxusmagazin passen könnte. Man kann die Paranoia entschärfen, indem man sie in Dienst stellt. Meine Frau kann einen enormen Riecher entwickeln, wenn sie erst einmal Lunte gerochen hat; das Material reichte schon, um die Leute bei einem Treffen zu beeindrucken und den ungefähren Rahmen für ein Interview oder eine Produktpräsentation vorzuschlagen. Außerdem kommt ein Insiderwissen hinzu, das den vielen Jahren als Packer und Bote zu verdanken ist. Ich habe fast alle wichtigen Geschäfte in der Innenstadt mit juristischer Fachliteratur beliefert und dabei Informationen aufgesaugt, ohne zu wissen, dass sie bares Geld wert sind. Ich kannte sogar die Hintereingänge, wusste in vielen Fällen den kürzesten Weg zum jeweiligen Chefsekretariat, oft sogar den Namen der Sekretärin oder des Assistenten. In manchen kannte mich sogar ein alter Schwabensack, der den Chef spielte. Ich war also bestens gerüstet und habe nur den notwendigen Anstoß gebraucht, ins Nichts zu springen und auf jene kleinen Kompromisse zu verzichten, mit denen wir uns bis dahin über Wasser gehalten haben. Wir waren ja so bescheiden gewesen, weil davon auszugehen sein sollte, dass mit den Techniken des Wissens nur die Legitimation des Geldnehmers oder Kostgängers zu erwerben war. Eine der in dieser Gesellschaft notwendigen Lebenslügen, mit der dafür gesorgt wird, dass die Technologien des Wissens entschärft werden, bevor sie überhaupt in die Nähe brisanter Einsichten kommen. Damit das Wissen nicht zur Macht wird, unterstellt eine perverse Behördenstruktur, die mit ihren Imperativen bis in die Werbung und Unterhaltung reicht, alle von ihr kontrollierten Wissensweisen fortwährend der Inflation. Es fehlte der Dampf, die Power eines ursprünglichen Antriebs, aber sie bringen eine enorme Kraft und Intelligenz auf, wenn es darum ging, den Nachwuchs zu behindern und auszubremsen!“

„Aber als Sie dann nicht mehr auf der Bank jobben, soll noch einmal versucht werden, die Geschichte zu revidieren.“ Bornhardt nutzt die Gelegenheit: „Während der ersten Viertelmillion Umsatz werden einige der Delegierten noch einmal angestachelt und hoffen darauf, Sie zu irritieren oder zu stören. Das Spiel hat sich soweit verselbständigt, dass sogar ihre Schwiegereltern versuchen, den gemeinsamen Start in die Selbständigkeit auszubremsen und von Treffen zu Treffen immer wieder neue Irritationen ausbrüten. Damit darf ich Albachs Frage noch einmal unterstreichen: Wie bewegt man sich in einem derartig mit Elend gesättigten Feld, um diese Homöostase aufzusprengen?“

„Das ist gar nicht so schwer zu beantworten“, werfe ich ein: „Statt das Böse zu bekämpfe, kann man sich die Mühe sparen und die Kraft dem Guten widmen. Wenn überhaupt etwas Wert hat, dann nicht, weil es zu beweisen oder zu bekämpfen ist. Wenn es einen Gradmesser gibt, mit dem dieser Wert eingeschätzt oder besser noch, geschätzt werden kann, dann wird er durch die dem Körper eigene Säftelehre bereitgestellt. Diese Energeia stellt in gewissen Augenblicken ein verkleinertes Modell der für den Menschen unerreichbaren Wahrheit dar – und wenn es nur ein Modell ist, so liefert es doch eine Methode, sinnvoll mit der zur Verfügung stehenden Zeit umzugehen.“

„Das ist für mich nicht überzeugend“, wirft Charlus ein: „Wie macht man jemand fertig, mit dem man sich nicht im direkten Kampf messen kann oder darf? Man schießt ihn hoch, wiegt ihn in der Illusion, zu den Größten zu gehören und lässt ihn dann einfach fallen, ohne dass irgendwelche realen Bezüge übrig bleiben. Und Sie machen Werbung mit diesem Verfahren und rühmen sich für ihren Auftritt in der sächsischen Staatskanzlei. Sie hatten keinerlei Legitimation für eine Professur vorzuweisen, aber Sie schickten nicht gerade selten auf Ausschreibungen, die ihren Fachgebieten entsprachen, Bewerbungen, denen Sie noch dazu die Konzeption beilegten. In drei Fällen schickten Sie sogar einen Ausdruck des ersten Teils ‚Philosophischer Sperrmüll‘ mit. War das eine falsche Spur, ein Ablenkungsmanöver? Tatsächlich haben Sie zu diesem Zeitpunkt bereits einen derartigen Abstand erarbeitet, dass nicht mehr zu erwarten war, sie würden so eine Stelle ernstnehmen. Noch dazu hält innerhalb der kulturschwulen Rivalitätsstrukturen niemand einen Mitarbeiter aus, der nicht willig oder in der Lage ist, sich mit seiner Aufgabe zu identifizieren.

„Wir drehen uns um Kreis, das Thema wurde schon mehrfach angesprochen“, Wolhe klingt jetzt recht gequält: „Ich möchte doch bitten, dass wir zu einem Ende kommen. Ich schlage vor, dass Musik zum Abschluss ganz kurz die wesentlichen Antworten auf ihre Fragen zusammenfasst.“

„Ok, einverstanden.“ Mich machen die ständigen Rückgriffe nicht unbedingt wacher, ich würde mich lieber mit dem Start ins nächste Jahrtausend beschäftigen: „Punkt 1: Die Leute wissen nicht mehr – oder sie haben es noch nie gewusst –, wem sie einen Gefallen tun sollen, wenn sie versuchen uns zu nerven, während ich den ganzen Tag telefoniere. Aber das ist nur noch eine Sache des Geldes, keine Sache der Identifikation mit den Geisteswissenschaften. Hundert Leute am Tag anzurufen – ob sie Werbung für Uhren von Rolex oder Lange & Söhne buchen wollen, für Autos von Maserati oder Lamborghini, für Mode von Versace oder Escada, Küchen von Ligne Roset oder Bulthaup, Kapitalanlagen der DEGI oder des Schweizerischen Bankenvereins... – auch das ist eine Möglichkeit, die Negation zu verdünnen, die über uns aufgestaut worden ist. Also kommen wir zu Punkt 2, mit dem wohl Albachs Frage hinreichend beantwortet wird: Ich muss nur genügend Leute sprechen und damit dafür sorgen, mich in einer Form der Rede zu verausgaben, die die Akkumulation psychischer Energien verhindert und direkt in Geldbewegungen umleitet. Punkt 3: Ich verzichte darauf, weiter an meinem geistigen Wachstum zu arbeiten, sorge aber dafür, dass induzierte bösartige Spannungen sofort weiterverteilt werden und in meiner psychischen Ökonomie keinen Schaden anrichten. Zur Rechtfertigung kommt mir gelegentlich der Einwand, dass das geistige Wachstum, wenn es in den falschen, weil stillstellenden Kontexten stattzufinden hat, verdächtig an das Wachstum eines Geschwürs erinnert. Ich musste eben eine Nische finden, in der ich auf Mächtige treffe, die ihre Möglichkeiten keinen Abhängigkeiten verdanken, sondern der eigenen Initiative, keiner Kunst des Speichelleckens, sondern den harten Kämpfen im Verdrängungswettbewerb des Marktes. Punkt 4: Das Realitätsprinzip eines Seminardarwinismus hieß: Wer kriecht, kommt ein Stückchen voran. Das des Marktes heißt, wer gründlicher zuschlägt, wer besser liefert, wer schneller sticht, setzt sich durch. Der Dschungel auf dem Asphalt ist mir näher, als das Panoptikum der verwalteten Welt – allerdings habe ich dafür zu akzeptieren, dass unter dem Pflaster kein Strand zu erwarten ist. Nebenbei lerne ich, wie gut ein maßgeschneiderter Abendanzug bei mir wirkt und dass mein früheres Aber gegen Krawatten gerechtfertigt ist, weil mir eine diskret glitzernde Fliege viel besser steht, als ein Kastrationssymbol. Punkt 5: Während wir auf die zweite Million Umsatz zugehen, sind die bedeutenden alten Quälgeister aus unserem Gesichtskreis verschwunden. Ein paar schwäbische Hausbesitzer sind gestorben, ein Paar Professoren hat es vorgezogen, wegzuziehen. Wir arbeiten mittlerweile in einem Wohnbüro auf der Luxusmeile der Calwerstraße und gönnen uns gelegentlich den Luxus einer verspielten Antiquität; meine kleine Arbeitsbibliothek geht auf die Achttausendermarke zu. Es ist schwerer geworden, der Markt ist viel widerspenstiger als vor fünf Jahren. Aber es läuft, und vor allem haben wir bewiesen, dass es weiter gehen kann, dass es immer noch weiter geht, selbst wenn ein paar Mächtige beschlossen haben, dass alles zu Ende sein soll. Und mit diesem Wissen werden wir, selbst wenn dieses Luxusmagazin nicht mehr zieht, in der Lage sein, irgendetwas Neues anzupacken. Man darf sich eben nicht auf die Behördenmaschine verlassen, sondern muss selbst etwas in Bewegung setzen… Also der abschließende Punkt 6: Die Mächtigen sind heute so schwach und subaltern und von so vielen Instanzen abhängig, dass für sie der ideale Untertan ein Sozialhilfeempfänger ist – ein sozialdemokratisches Systemprogramm scheint mittlerweile die politischen Schaltstellen zu prägen. Die Prämisse lautet, dass niemand mehr kennen und wissen darf als alle anderen, damit die Parteidisziplin gewahrt bleibt. Allerdings erwirtschaftet ein stillgestellter Idiot keinen Wert und so graben sich die Statthalter der großen Volksparteien in ähnlicher Weise das Wasser ab, wie dies schizophrenogene Mütter tun, die ihre Macht daraus beziehen, dass sie alles verkleinern und verstümmeln, was tatsächlich zum Instrument ihrer Macht taugen könnte. Das ist ein Resultat von Lebensangst und Inkompetenz. Ein Arnoid ist keine besonders unfähige Missgeburt, sondern ein durchaus repräsentativer Repräsentant der Unfähigkeiten der politischen Entscheidungsträger. Sie kaufen den Sachverstand für teures Geld ein, aber weil sie nicht in der Lage sind, die richtigen Schlussfolgerungen zu ziehen, laufen sie einer immer höher beschleunigten Wirklichkeit nur hinterher. Wer diese Abhängigkeitsbeziehungen nachvollziehen kann, hat die Chance, etwas Wichtiges zu kapieren: Die Zukunft ist offen. Sie wird nicht durch Inkompetenzkompensationskompetenzen gestaltet, die nur funktionieren und das für eine beschränkte Zeit, wenn diese Offenheit soweit es geht reduziert wird. Tatsächlich wird unsere Zukunft erst aus dem gebaut, was wir aus dem Zusammenstoß unserer Möglichkeiten mit dem Repertoire des Unvorhergesehen machen. Das war’s – mehr habe ich nicht anzumerken.“

„So! Dann darf ich mich für Ihre Aufmerksamkeit bedanken.“ Wolhe will sich davon stehlen und packt das technische Equipment zusammen. „Wir sehen uns. Nach diesen drei Tagen habe ich erst einmal eine Erholung nötig.“

„Ich kann mich eines Kommentars nicht enthalten!“ unterbricht Albach die Reproduktion der alten Aufschriebe: „Wie einfach es doch ist, bei den Reisen im Bücherregal von einer reflexiv gefederten Identität auszugehen. Wie selbstverständlich es sich aus Ihrer Biographie ergeben hat, an nichts hängen zu bleiben, mit nichts wirklich identifiziert zu sein. Und dann braucht es nur so einen kleinen Zusammenstoß mit der Wirklichkeit. Auf einmal haben Sie Angst vor der Einschätzung völlig fremder Menschen. Sie waren jemand, der Wert darauf legte, sich nicht festlegen zu lassen und dafür eher in Kauf nahm, Leute vor den Kopf zu stoßen, die Sie bewunderten und als Verbündete getaugt hätten!“

„Das stimmt, das war sicher keine Erfahrung, die sich einfach integrieren ließ“, gebe ich zu: „Aber wahrscheinlich sollte mein forsches Auftreten und die rigorose Kompromisslosigkeit schon damals verdecken, dass ich mich vor der Einschätzung der anderen fürchtete. Vielleicht hat diese Erfahrung einige Gesetzmäßigkeiten vervollständigt und eine graduellen Zunahme an Wahrheiten bewirkt, denen meine Biographie so oder so unterstand. Der Ich war eine Ansammlung von Geschichten, die nur durch Brüche erklärbar sind. Vom verführten Puzzi in einem Doppelleben, zum ausgeflippten Chaoten und Schulsprecher, über den Studenten als stummen Outsider zum promovierten Schriftsteller auf einem Todeslauf! Dieses breit gefächerte Spektrum an Geschichten, die dank der Instantaneität des Bewusstseins nicht haften, solange keine Zeugen zu einer Objektivierung nötigen, wurde tatsächlich durch das Wandern des Buchstabens ‚r‘ zusammengehalten – wenn ich mit der mütterlichen Willkür beginne, zwischen dem biologischen und dem nominellen Vater zu unterscheiden, sind das 37 Jahre, die einen Bogen von den Brüchen zu den Büchern beschreiben. Zum Zeitpunkt des Rastplatzes ist diese Einsicht sehr weit weg. Also aktiviere ich einen einfachen Perspektivenwechsel in der psychischen Ökonomie, mit dem der Druck zu verlagern ist. Ich muss nicht vor Scham im Boden versinken, weil ich meiner Frau versprochen habe, ein brauchbares Ergebnis zustande zu bringen – dass es sie gibt, ist für mich wichtiger, als irgendwelche suggerierten Befindlichkeiten oder implementierten Selbstvernichtungsimperative. Schließlich ist sie der Mensch, der mich bis dahin am meisten in Frage stellen und damit auch fordern, also optimieren konnte.“

„Damit führen Sie eine zweite Ebene der Liebe als Duell ein!“ Bornhardt klingt fast empört: „Ich dachte, wenigstens dieses schwierige Thema hätten wir erledigt und in den Archiven untergebracht. In den meisten Fällen führt die Lösung einer solchen Lebensproblematik doch nur zu einer Potenzierung der Fraglichkeiten, während eine ordentliche Archivierung einen Cut macht. Das Problem wird nicht gelöst, sondern einfach vergessen – man muss sich nicht mehr daran erinnern, weil es eingeschrieben worden ist. Mortifikation, so heißt es doch!“

„Wo denken Sie hin“, fährt ihr Wolhe dazwischen: „Das ist ein Thema, auf das Sie tatsächlich alle anderen zurückführen können. Etwa im zeitliche Umfeld der ersten Aufzeichnungen zu diesem Ausflug mit den Bankern findet sich die Notiz: ‚Wir haben mal einen Klodeckel mit Absenkautomatik gekauft, weil du dazu neigtest, den Deckel einfach immer fallen zu lassen. Dann hat dich der knarrende Ton der Absenkung genervt und du hast die Scharniere geölt: Mit dem Erfolg, dass der Deckel seitdem besonders laut knallt.‘ Das ist eine absurde Geschichte, gerade weil sie Gesetzmäßigkeiten, die sich im Sinne des Familiensignifikanten durchsetzen wollen, auf einen Nenner bringt!“

„Der Kontext lässt sich leicht einordnen“, werfe ich ein: „Damit ist der Widerspruch aufzuschlüsseln. Meine Freundin hat bereits einen Hauptgewinn gezogen, als ihr ein Partner zur Seite stand, der die Lügenwelt ihrer Eltern aushebeln konnte. Aber zum gegenwärtigen Zeitpunkt spielt meine Frau mit dem Gedanken, die Alten um Hilfe zu bitten, wenn ich es nicht schaffe, uns durch die Bank abzusichern. Dieser knallende Klodeckel setzt mich ganz anders unter Druck. Kleine Änderungen ganz einfacher Parameter und der tägliche Hinweis auf das primitive Bedürfnis, unsere monatlichen Minimalkosten abzudecken, reduzieren die Freiheitsspielräume auf das, was tatsächlich von Äquivalententausch und uneingeschränkter Selbstausbeutung übrig geblieben ist. Mittlerweile prostituiere ich mich wieder einmal auf einer unteren Ebene der gesellschaftlichen Wirklichkeit. Hier fragt niemand mehr danach, ob ich Bildungsbeamte oder Funktionäre aus Funk und Fernsehen zu Prostituierten erklärt habe. Solange man dazu gehört, darf noch die härteste Kritik als kommunikative Selbstbefriedigung durchgehen – es muss nur gewährleistet sein, dass niemand die Kritik wirklich beherzigt. Das Schema der Selbstdementierung ist der anerkannte Lebensnerv von Bildungsbeamten, doch wenn sich einer nicht an diese Regel hält, geht es nicht mehr um die scholastische Fragestellung, ob das Fressen vor der Moral kommt.“

„Bevor wir hier weitermachen, möchte ich doch einige der Unterlagen heranziehen, die die Problematik der Unterstützung durch die Eltern ihrer Frau auf den Nenner bringen.“ Ganz bedächtig, als sei er nicht schon längst weggedämmert, gibt Charlus dem Gespräch einen anderen Drive: „Ich denke jetzt einfach an ein paar Texte, über deren Auswertung wir uns einigen sollten, anstatt uns schon jetzt auf einen Interpretationsmodus einzuschießen.“

„In den Restedateien finden sich verschiedene Momentaufnahmen“, erkläre ich: „Der Zeitpunkt, als meine Frau Ihre Eltern um Unterstützung bat; diverse Situationen zu Beginn meiner Selbständigkeit, in denen Sie uns den Start so schwer wie möglich machen und ständig suggerieren, dass so etwas gar nicht gelingen kann. Jeder Kontakt war schmerzhaft und schon im zweiten Monat ist meine Frau nicht mehr in der Lage, um die nächste Zahlung zu bitten. Das muss ich noch viermal übernehmen, erst dann läuft die Geschichte und wir können von der Provision leben. Aber genau das macht die Begegnungen nicht angenehmer, je klarer der Erfolg abzusehen ist, je unmöglicher verhält sich meine Schwiegermutter, denn genau das passt nicht in ihr Konzept. Jedes Treffen wird zu einem Machtspiel, ständig versucht sie meine Frau zu bevormunden und ihr das Recht auf ein eigenes Urteil abzusprechen: ‚Das bildest Du dir nur ein‘ lautet die Standardansage, wenn sie versucht, Kritik anzumelden oder sich zu wehren. Die Provokationen gehen soweit, dass sie den Kontakt mit der Mutter ein zweites Mal abbrechen will und das zu Zeiten, als noch längst nicht sicher ist, ob die Einnahmen von Dauer sind. Das heißt, dass der Druck auf mir zunimmt, und genau so hat sich die Psychotikerin das ausgerechnet. Ihr ist es nicht egal, ob ich umklappe, sie lässt sich boshafte Fragen und vor Dummheit schreiende Verleugnungen einfallen, damit ich scheitere. Für sie zählt tatsächlich nur, wieder die Macht über ihre Tochter zu gewinnen. Allerdings sind das Zusammenhänge nach dem Ende der Bank. Ich glaube nicht, dass an dieser Stelle eine Unterbrechung sinnvoll ist.“

„Doch, das glaube ich schon“, insistiert Charlus: „Wir brauchen ein paar Kostproben ihrer Kunst und natürlich ein bisschen Situationskomik. Sie können uns nicht Seiten über Seiten mit der Humorlosigkeit und Pedanterie krimineller Banker langweilen.“

„Einverstanden, das machen wir“, unterstreicht Wolhe und gibt ein paar Stichworte in die Suchmaschine ein: „Ich begrenze das auf einen Rahmen von etwa zwanzig Seiten, damit wir nicht den Faden verlieren. Ist das nicht fantastisch! Wir brauchen Jahre um das gesamte Material zu sichten und eine intelligente Datenbank schafft das in der Zeit, während der ich auf den Knopf drücke und mich zurück lehne. Voilà, hier ist das Material!“

 

Sommer 92 – zu einem Zeitpunkt, als ich noch dazu verdammt sein soll, auf die Nachwirkungen meines Auftritts in Dresden zu warten, bis ich völlig ausgebremst bin. Nachdem es nicht gelingt, die Antriebsstörung zu delegieren und, wie die weitere Entwicklung zeigt, eine eigene Entscheidung möglich ist, überzeuge ich dich davon, dass der Sprung in die Selbständigkeit die Zugriffsmöglichkeiten dieser Intriganten ausschalten kann. Ich beginne neben dem Bankjob zu telefonieren, mir die Grundlagen des Telefonmarketings beizubringen: Learning by doing. Weil das nicht ohne weiteres auf einen Rutsch gelingt, brauchen wir im nächsten Jahr, als die Reserven der Bank abgeschmolzen sind, zur Überbrückung für ein paar Monate Geld. Du willst die Unterstützung bei deinen Eltern freisetzen – ich ziehe es vor, meine Lebensversicherung zu beleihen, aber da bist du strikt dagegen.

An dem Abend, als ich mit Kai Wah im Taxi zum Notdienst einer Tierärztin fahre, weil jetzt unser zweiter Chow eine Magendrehung hat, rufst du bei den Alten an und erklärst, dass wir in einer Notlage sind und Unterstützung benötigen. Als ich zwischendurch nach Hause komme, erklärst du kurz, was jetzt auf uns zu kommt und staunst, wie einfach das war, wie selbstverständlich das Telefonat abgelaufen ist. Mir ist das gerade egal, die Ärztin macht auf Optimismus, glücklicherweise sei ich noch rechtzeitig gekommen – aber die Sprechstundenhilfe schaut mich in einer Weise an, dass ich keine großen Hoffnungen habe. Um elf Uhr kommt der Anruf, die Operation sei gut verlaufen, ich könne den Hund um Mitternacht abholen. Ich mache mich auf den Weg durch die Altstadt, am bunten und aktiven Straßenstrich entlang, ein paar Stäffele hoch und bin ein paar Minuten zu früh an der Praxis, alles ist dunkel. Nach dem Läuten werde ich über die Sprechanlage zum Hintereingang dirigiert und komme vom Keller aus in die Praxis. Kai Wah ist noch nicht aus der Betäubung aufgewacht, wir wollen noch eine Weile warten, während der mir gezeigt wird, welche unverdauten Haferflocken den Mageninhalt ausmachten. Ich kann mir nicht vorstellen, dass von unserem Industriefutter nur solche kleinen Haferflocken und sonst nichts übrig bleibt, aber gerade kann ich nicht klar genug denken, um zu kapieren, dass die mir einen selbst angerührten Scheiß präsentieren. Die Ärztin hält mir eine Predigt, dass es jetzt sehr viel Disziplin braucht, ich die nächsten zwei Wochen sehr vorsichtig mit dem Hund umgehen, am besten immer wieder nur einen Löffel voll Säuglingsnahrung füttern soll. Sie betten Kai Wah in einen flachen Weidenkorb auf eine umgeschlagene Decke – das Zeug soll ich in den nächsten Tagen wieder bei ihnen vorbeibringen oder, wenn es außerhalb der Zeit ist, hinten vor der Kellertür abstellen. Ich bitte die beiden, mir wieder ein Taxi zu rufen und warte, bis der Fahrer läutet. Kai Wah atmet ganz flach, sie hat sogar die Augen offen, fühlt sich weich und beweglich an. Auf der Rückfahrt gehen die Augen zu, dann bemerke ich keinen Atem mehr. In der Wohnung rufe ich gleich die Ärztin an. Ich soll einen Spiegel vor die Schnauze halten, aber obwohl es nur der ganz kleine Spiegel aus deiner Handtasche ist, beschlägt er nicht mehr. Ich entschuldige mich für die späte Störung und lege auf. Jetzt ist der zweite Chow tot. Viel schlafen kann ich nicht, schon um sieben Uhr bestelle ich wieder ein Taxi und fahre völlig abgestumpft zur Kleintierleichensammelstelle. Schon während der Fahrt ist mir klar, dass wir ganz schnell im Tierheim den nächsten Hund besorgen, um nicht noch einmal in so ein Loch zu fallen. Um zehn Uhr sind deine Alten zu erwarten.

Wir zeigen Ihnen meine Bewerbungsunterlagen und die Schreiben aus der Sächsischen Staatskanzlei, erklären lang und breit, wie es zu einem solchen Behinderungsunternehmen kommen konnte. Wir berichten vom Mobbing der VHS und deiner Kündigung. Sie sind skeptisch und wollen sich diese Informationen erst einmal durch den Kopf gehen lassen, ich biete ihnen an, dass sie den Aktenordner gern mitnehmen können, um unsere Geschichte zu überprüfen. Das steht nicht zur Debatte, aber während sie zusagen, uns zu unterstützen, legen sie gleichzeitig nahe, wie unglaubwürdig die Geschichte ist. Wir landen also bei genau jenen verstümmelten Verstümmlern und sind auf die Unterstützung dieses Beamtenehepaars angewiesen, das immer nur die Strategien verfolgt hat, die Tochter an keinen fremden Mann abzugeben. Wenn Sie nicht über viele Jahre hinweg mit ihrer Verleugnung versucht hätten, unsere Beziehung zu irrealisieren, hätte ich vermutlich keinem Bildungsbeamten, der Sympathie signalisierte und immerhin vorgab, um meine Mitarbeit zu werben, gesagt, dass auf der Uni fast nur unterdurchblutete Arschlöcher rumlaufen.

In der Literatur und den psychologischen Fallbeispielen gibt es genügend Anschauungsmaterial, das demonstriert, wie das größte Risiko während der Zeit besteht, in der meine Arbeitskraft auf dieses Geld angewiesen ist. Denn wir laufen Gefahr, dass der mit der Unterstützung verbundene Imperativ den Prozess derart verdreht, damit ich nichts hinbringe und scheitere, weil die Gelder fließen,. Am Anfang geht einiges schief. Mein erster Abschluss kommt nicht zustande, weil der Mann, mit dem ich den Auftrag besprochen habe, kurz danach einen schweren Autounfall hat und seine Frau den Vertrag nicht unterschrieben zurückschickt, weil sie nicht einschätzen kann, ob das Geschäft weiter läuft. Der nächste Auftrag wird am Telefon vorbereitet und dann von einem Grom abgeschöpft, der die Hefte an die nötigen Verteiler ausliefert und bei der Gelegenheit die Unterschrift bei der Kosmetikerin, die ich bearbeitet habe, gleich für sich mitnimmt. Ein paar Kleinigkeiten klappen mit Hängen und Würgen, für einen weiteren Abschluss muss ich beim Verlag nachfragen und prompt wird der Grom informiert, um mir den Auftrag wegzuschnappen. Es ist längst noch kein Horizont in Sicht. Dann fahren die Alten für ein paar Wochen nach Bayreuth. Die Blase der Bremsenergie ist weg und prompt schreibe ich einen Vertrag über 24000 Mark für die Neueröffnung einer Schlemmeretage: Voraussetzung ist, dass wir das bereits im Sommerausgabe bringen. Die Titelseite auf dem Magazin und zwei Seiten PR-Text für den ich mit dem Werbebüro zusammenarbeiten werde, außerdem zwei weitere Seiten in den kommenden Heften. Weil wir uns noch kein Fax leisten können, holt meine Frau die Unterschrift, während ich mit dem Verlag telefoniere, um die Titelstory für uns zu reservieren. Das ist gar nicht so einfach, denn angeblich hat der Grom den Titel bereits verkauft – aber als ich meinen Umsatz nenne, habe ich die Zusage. Als die Alten aus dem Urlaub zurückkommen und unseren Optimismus mit den unangenehmen Geschichten ihrer halbtoten Verwandtschaft und den in die Brüche gegangenen Beziehungen betäuben wollen, sind sie geschockt, als wir freudig berichten, dass für das Sommerheft bereits 30000 Mark zustande gekommen sind.

Sie haben schließlich gezahlt, um aus mir einen Versager zu machen, um dafür zu sorgen, dass ich abgestoßen werden kann. So hat die Geschichte aus der Sicht dieser Eltern eigentlich einmal begonnen: Als SPD-wählende Beamte konnten sie progressiv vorgeben, einen versponnenen Ausgeflippten ein bisschen unterstützen, bis es soweit war, dass ihre Tochter die Lust verlor, um sie dann wieder unter Beschlag zu nehmen. Manchmal braucht es weite Umwege, aber die Probleme sind nur an der Wurzel anzupacken, brauchbare Lösungen gibt es auf keinem Nebenkriegsschauplatz und die Variablen des Wiederholungszwangs kann man noch so oft besiegen, das ursprüngliche Verbrechen wird damit nicht aus der Welt gebracht. Also ein neuer Anlauf, bei dem die Aufgabenstellung mittlerweile als gedoppelte gesehen werden kann: Während wir eine eigene Existenz aufbauen, muss im gleichen Zug das Behinderungssystem niedergerungen werden, dem wir früher nur auswichen. Als wir vor über zwanzig Jahren begannen, war nicht einmal vorstellbar, welche Bremswirkung von dieser herrschsüchtigen Psychotikerin ausging, wie sie durch dauernde Nichtanerkennung und Verleugnung versuchte, jegliche Leistung und Einsicht zu reduzieren auf den Status ihrer konfliktuellen Mimetik. Endlich wird auch für dich deutlich, welche Erpressungstechniken sie im Laufe ihrer Ehe ausgefeilt hat, um einen uralten Verstoß zu ihren Gunsten umzufälschen: Schwanger mit Siebzehn. Die Strategie, die ihr einen abgesicherten Lebensalltag garantiert hatte, die dafür sorgen konnte, dass diese kleine Verkäuferin ihre ältere Schwester und ihre Mutter ausgespielt hatte und keinem Realitätsprinzip mehr unterstand, konnte gleichzeitig dazu taugen, den Mann zu erpressen. Sie wusste einen Schlapp-Schlapp so zu nötigen und unter Druck zu setzen, dass er sich ihrem Lügensystem unterwarf und an jeder Verleugnung mit strickte, manchmal log er so eifrig mit, ohne eigentlich ein Interesse an ihrem Spiel zu haben, dass sie ihn zu ihrer kleinen Freude schon wieder als unflexiblen Deppen bloßstellen konnte. Wir landen also wieder an dem Punkt, an dem für mich der Kampf gegen das Beamtensystem einmal begonnen hat.

Wie uns Umsätze gelingen, wird dieses System aus Lebenslüge und Behinderung haltloser. Als nicht mehr zu verleugnen ist, wie Leistungsfähigkeit und Ausdauer in der freien Wirtschaft ein ähnlich überragendes Ergebnis zu erwarten lassen, wie bei den Uniabschlüssen, wir also nicht mehr gebremst werden können, schlägt das Nein und die Verleugnung nach hinten durch. Ab dem Punkt – etwa auf der Höhe der ersten 300 000 Mark Umsatz treten auf der anderen Seite biologische Schwachstellen auf –, droht die Psychotikerin zu erblinden. Dann brichst du erneut den Kontakt ab, obwohl ich es vorgezogen hätte, diese Missgeburten in ihrer aus Lügen und Unredlichkeiten gezimmerten Welt braten zu lassen. Tatsächlich war eines zu sehen: Die Hölle wartet in keinem Jenseits, sondern sie ist die tagtäglich mächtiger werdende Schuldverschreibung für Verstöße gegen das quasigöttliche Recht des symbolischen Tausches – und sie schreibt sich noch heute mit einer seit Ewigkeiten bestehenden Gewalt ein. Sie prägt die Physiognomien, sie klingt im Stimmton mit, sie ist in den Bewegungsabläufen zu erkennen; sie zeichnet die Körper und prägt ihnen die Male der Schuld auf. Sie findet dann die Schwachstellen, mit denen sich das biographisch in Privatsprachen kommunizierende System der Behinderungen mit jedem Zusammenbruch mehr verrät und an denen der institutionell abgefederte Autismus von Verstrickten und der dauernden Erpressung unterstehenden Charaktermasken durchschlagen wird. Eine Krankheit, ein Unfall, eine Scheidung, ein Geschwür: Tatsächlich sind das im Zeitalter einer Theorie des kommunikativen Handelns die Siglen einer uralten Flammenschrift.

 

In der Vorlesungsreihe zum Souveränitätstraining habe ich mich auf Rita Bischof bezogen, um zu zeigen, wie die Konzeption der Souveränität bei Carl Schmitt die Ausnahme beseitigt, um das Gesetz zu stiften, also ein formales Recht absolut zu setzen, obwohl es aus schlichter Willkür resultiert. Die Dialektik von Schmitts politischer Theologie beansprucht jenen Willkürakt für die Macht des Staats, der den Individuen verboten ist. Damit bewährt sich die Souveränität des Staates, der im Ausnahmefall das Recht außer Kraft setzt, um es zu retten, gerade in der Suspension des Rechts, die es in der Welt verwirklicht. Dieses Spiel mit dem Zauber der Reflexionsfigur der Negation gehört mit Sicherheit nicht in die Hände von Delegierten formaler Institutionen! Für meine Begriffe ist es ein wichtiges Repertoire der Kräfte des Subjektiven – denn im besten Fall verwirklicht das Individuum die Ausnahme. In die Sphäre der Verantwortungslosigkeit von Bürokraten und Funktionären sollte es sich nicht verirren. Damit ist die Entscheidung für einen Weg oder ein Ziel nur für das Subjekt zu rechtfertigen, das bereit ist, dafür zu bluten und sein Glück in die Waagschale zu werfen. Schon früh hat Schmitt die Kategorie des Ent­schiedenseins in jeder Rechtsprechung herausgearbeitet: Allem Recht ist ein Moment inhaltlicher Willkür wesentlich – das Vorrecht der Mächtigen als Privileg. Diese Form der Entscheidung ist keine Tat, sondern ein Offenbarungsersatz – alle prägnanten Begriffe der modernen Staatslehre gelten ihm als säkularisierte theologische Begriffe: Souveränität säkularisiert die göttliche Allmacht, die Entscheidung das Jüngste Gericht und der Ausnahmezustand das Wunder. Der souveräne Herrscher hat unbegrenzte und unbegrenzbare Befugnis, ohne Rücksicht auf die Ordnung; seine Macht ist absolut. Allmacht im Ausnahmezustand und Unfehlbarkeit als Aura erweisen die geschichtlichen Gestalten echter Souveränität als Stellvertreter Gottes, also für den Katholizismus Schmitts als göttliche Gewalten. Im rechtlichen und geistigen Leben der Menschheit gilt als wichtigster Akt, dass der wirklich Mächtige Begriffe und Worte zu bestimmen vermag, also über das verfügt, was die anderen für Wirklichkeit halten. Ich muss meine Zeit jetzt nicht mit den Querbezügen zu den Perversionen des Dritten Reichs verplempern. Sombarts ‚Deutsche Männer und ihre Feinde‘, müssen Schmitt nicht einmal gelesen haben, um aufgrund der gestörten Sexualität das Realitätsprinzip derart zu deformieren, dass kleine Krüppel noch Jahrzehnte nach dem Untergang ihre Parolen wiederkauen. Sie waren nicht wirklich mächtig, sondern gedrillte Verstümmelte und von der Masse getragene Psychotiker. So ist mit Theweleit daran zu erinnern, dass die von der Theologie okkupierten Energien ursprünglich in den Strömen der Geschlechterdifferenz zu lokalisieren sind und das Kraftwerk des Glaubens der Erotik zu verdanken ist – ein Gründungsheroe lehrt die Religion der Liebe, während die späteren Funktionäre des Glaubens die Perversionen des Sadismus exerzieren. Der Orgasmus setzt den göttlichen Funken frei, auch wenn wir in der Regel nur in der Not oder Verzweiflung die Notwendigkeit verspüren, uns an Gott zu wenden. Für Benjamin reduziert sich die Frage nach der irreduziblen Gewaltstruktur des Poli­tischen auf die Idee der Rechtsvernichtung. Diese anarchistische Lösung ist die entscheidende Bedingung der Möglichkeit einer Kritik der Gewalt und erledigt den Dezisionismus. So ist auch für Benjamin die Suspendierung des Gesetzes Kennzeichen der Souveränität. Aber der wirkliche Ausnahmezustand ist nicht mehr Gegenstand einer Entscheidung, sondern die Verheißung sinnlichen Glücks. Die Vernichtung der Staats­gewalt ist reines und deshalb gewaltloses Mittel eines anarchistischen Vollzugs im Jenseits aller Rechtsord­nung.

Max Weber hat dem Einzelnen gegen den Staat Recht gegeben und die persönliche Leistung gegen die Ansprüche von Amt und Tradition verteidigt. Wenn die eigentlichen Entscheidungen privat fallen, folgen wir nach Weber dem eigenen Dämon, wählen das eigene Schick­sal. Wenn wir in der Geschichte diverser Ausnahmezustände eine personelle Macht aufbauen und das Glück des Unvorhergesehenen kleine Wunder zustande bringt, verdanken wir die freigesetzten Kräfte einer erotischen Sphäre, der die Verwaltungskrüppel von Gnaden der Körperschaft nichts entgegen zu setzen wissen. Es ist nur stimmig, dass Schmitt den erotischen Ausnahmezustand als Rebellion eines asozialen Individualismus gegen das Bündnis von Staat und Intellekt abgewertet hat.

Bei Bataille dagegen ist die Souveränität das Resultat der Entgrenzung und erweist sich an der absoluten Ausnahme. In meiner Geschichte scheinen sich diese beiden Perspektiven derart ineinander verschränkt zu haben, dass ich die Ausnahme durchsetzte, um auf ein ursprüngliches Gesetz zurück zu kommen. Gegen Anpassungszwänge des Konformismus und Verschleierungstechniken verschiedener informeller Machtstrategien waren in der Biographie vormoderne Perspektiven und archaische Wirkungsmuster freizusetzen, bis die bedeutungsstiftende Kraft des Mythos zu wirken begann. Das ist die Erzählung vom großen Paar, das eine eigene Welt ins Leben ruft. Wie sich zeigte, haben Bedeutungen eine reale Kraft. Folgerichtig bot sich wie nebenbei die Modifikation der Souveränitätstheorie an – und zwar in den Zusammenhängen, in denen die Subjektphilosophie schon immer der Selbstversicherungsverein einer Männerwelt gewesen ist. Gegen die Akkumulation toter Werte kennzeichnet Bataille die Ökonomie der Verausgabung, die der Bejahung des Lebendigen gewidmet ist und auf ein Repertoire der personellen Macht verweist. Der ursprünglich in der Erfahrung des Göttlichen aufblitzenden Souveränität ähnelt sich diese der Aufmerksamkeit verdankte Macht an; sie spiegelt sich in einer überwältigenden Schönheit – und das ist vermutlich die verdrängte Erklärung, die alle Logik und alle Kriegskunst zu verleugnen sucht: Dass es eine Form der weiblichen Macht gibt, die ohne irgendeinen Waffengebrauch siegt. Die Souveränität Batailles siedelt in der Ausnahme, im Jenseits von Durchschnitt und Statistik; sie liefert damit viel tiefer verwurzelte Ansätze für den Stellenwert der Qualitäten des Subjektiven. Die Verschwendung steht gegen die Akkumulation, gegen die Gesetzmäßigkeiten der großen Zahl und den Vorrang des Formalen, sie wird zu einer Kategorie des individuellen Allgemeinen und thematisiert den Stoffwechsel der persönlichen Kraft. Sie prägt vor allem eine Ökonomie der Aufmerksamkeit, ihre Wirkungen lassen sich am leichtesten in der Beziehungsarbeit nachweisen. Nicht zu sparen und zu raffen, nicht zu übervorteilen und zu betrügen – sondern vorbehaltlos zu geben, in die Hoffnung auf Reziprozität zu investieren, ohne Sicherheiten… und dabei mit ein wenig Glück einen Zauber auszulösen.

Die Gesetze dürfen nicht immer nur von Verstümmelten und Missgeburten pervertiert werden! Die Macht ist nicht dazu da, dass sich sexuell Antriebsgestörte und hoffnungslos Kommunikationsbehinderte an ihr therapieren – die wirkliche Macht beginnt erst mit einem umfassenden Ja zu den Gesetzmäßigkeiten des transzendierenden Lernens und der richtigen Nutzung evolutionärer Entwicklungsmöglichkeiten… Und genau das findet in der Beziehungsarbeit statt. Im besten Fall oder nach den entsprechenden Lernprozessen jenseits der Dialektik von Opfer und Henker. In unserem Fall hat die Erfahrung einer Liebe als Duell immer das Risiko beinhaltet, in den Verdinglichungen einer solchen Dialektik hängen zu bleiben – aber vielleicht ist das genau die Aufgabe, deren Lösung jedes Paar für die Selbsterfahrung zu erarbeiten hat. Die Souveränität erweist sich in der Fähigkeit begründet, Wirklichkeiten umzugestalten und damit gewisse Systemsprünge im Signifikantennetz zu bewirken. Solange dies nicht gesehen werden darf, verlängern alle Auswege nur die Sackgassen der Subjekt-Objekt-Dichotomie. Schauen Sie sich an, welche sprach- und erkenntnistheoretischen Exkurse Bischof benötigt, um Bataille gegen den Vorwurf des Irrationalismus zu verteidigen – und dabei sind gewisse Erkenntnisse eines Gotthard Günther zur transklassischen Logik oder der sprachphysiognomische Ansatz eines Benjamin, die der Zeit entstammen, in der Bataille seine wichtigsten Anregungen verarbeitet hat, völlig ausreichend, um die Haltlosigkeit solcher Unterstellungen zu erweisen.