Iris Geiger-Musik & Gunar Musik
Katastrophenpädagogik
Materialien zur Chronik eines sozialen Todes
4. Teil der
Galerie der Geistesblitze
Alle Namen
dieser Selbsterlebensbeschreibung – die der öffentlichen Personen ausgenommen –
sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit den maßgeblichen Intriganten sind aber
durchaus erwünscht.
Umschlaggestaltung mit den Fotos von Bildern, die Ende der 70er und
Anfang der 80er Jahre entstanden sind. Die originalen Bilder (ÖL und Acryl auf
mit Leintuch bespanntem Pressspan) wurden aus Platzgründen vor einem Umzug zusammen
mit allen Rohmanuskripten durch die städtische Müllabfuhr entsorgt.
1. Auflage 2022 © Iris
Geiger-Musik & Gunar Musik
MGM-Digital Dresden
ISBN 9798844461460
„Nur eine lange
Zeit fortgesetzter, dem Gegenstand gewidmeter Verkehr wird in der Lage sein,
Geistesblitze freizusetzen. – Es kann mir niemand verübeln, wenn ich die Anregung
aus einem der Briefe Platons mit Leben erfülle und den Verkehr im Sinne einer
ursprünglichen Wahrheit des Erkennens verstehe.“
Das erste Protokoll
Nachdem Ihnen
bereits zwei Einführungen vorliegen, wollen wir es uns nicht zu leicht machen.
Wir könnten uns in der Weise eines Lehrbuchs allgemeine Themen aus der
wohlbekannten Geschichte der Philosophie vornehmen und wohlgeordnet
zusammenfassen, welche Gesetzmäßigkeiten in den vergangenen Jahrzehnten der
Mikropolitik zugrunde lagen. Aber das wäre zu einfach, auf die Dauer nur
ermüdend. Wenn wir die Geschichte ein wenig unter Spannung setzen und uns der
Dynamik überlassen, werden biographische Erfahrungen mit gewissen politischen
Erkenntnissen einher gehen. Zeitgeschichtliche Informationen vermittelt durch
alltägliche Erfahrungen machen in einer performativen Anwendung
nachvollziehbar, wie sich gewisse Axiome und Theoreme kondensieren. Bereiten
Sie sich auf ein Kolloquium zum Thema Identität und Selbsterfahrung,
Selbstbestimmung und Schicksal vor.
Sammeln Sie sich, nichts ist in ihren alltäglichen Kontexten tatsächlich fremd
und doch werden Sie in den kommenden Tagen feststellen, dass Ihnen jahrtausendealte
Wahrheiten nahekommen. Jetzt betreten Sie den Raum. Das Licht geht an, im
Hintergrund verklingt die Musik. Aus den Augenwinkeln realisieren Sie noch die
Schatten flinker Helferlein, fast durchsichtige Grautöne vor einer bläulichen
Hintergrundstrahlung. Dann erhebt sich der Leiter der Datenbankverwaltung zur
Begrüßung. Bei einem derart fliehenden Kinn sind die fetten und rotgeäderten
Hängebacken keine ästhetische Offenbarung. Er nickt Ihnen zu, wendet sich dann
an die anderen, die gleich danach gekommen sind: „Damit sind wir vollständig.
Ich wünsche allen Anwesenden einen angenehmen Aufenthalt. Ich hoffe auf Ihre
Aufmerksamkeit und natürlich auf eine
rege Zusammenarbeit. Wenn Sie sich Stichworte machen wollen, verwenden Sie den
Touchscreen ihres Tischs; die Handschrifterkennung ist so ausgefeilt, dass wir
noch aus den Hieroglyphen eines Mutzlacher ordentlichen Fließtext zustande
bringen. Unser Meister am Mischpult hat die Stimmungen durch Farbspielereien zu
unterstreichen und, soweit Sie uns teilhaben lassen, werden wir die
Assoziationsmuster alter Bildzusammenhänge auf der multimedialen Ebene
aktualisieren. Bei anspruchsvollen Vernetzungen oder aufwendigeren sprachlichen
Verweisungszusammenhängen empfehle ich die bereitliegende Datenkappe zur
Objektivierung des Wissens. Mich wundert ein wenig, warum so selten davon
Gebrauch gemacht wird. Mittlerweile ist die Abtastung energetischer Felder
wesentlich effektiver geworden. Es ist uns möglich, den Nachhall der
Erregungsmuster etwa fünf Minuten in die Vergangenheit zu verfolgen. Warten Sie
auf keinen Einfall, der sich aufgrund der entsprechenden Blockade nur entzieht.
Ziehen Sie die Kappe bitte nicht nur über, wenn Sie von einem Geistesblitz
getroffen werden. Oft genug liefert die lärmende Affenhorde des inneren
Monologs mehr Ergebnisse, als ein exklusiver Einfall, der sich nach und nach in
ein paar Hände voll Lesefrüchte zergliedern lässt. Beim Redigieren sind wir
dann so oder so auf Ihre Mitarbeit angewiesen und was Ihnen nicht behagt,
untersteht der DEL-Taste – ab dem Umgang mit der nötigen Dichte von Daten ist
das die wichtigste Taste bei unserer Arbeit!“
Das Späßchen wird
ganz automatisch abgespult. Er beachtet nicht einmal, dass er kein wirkliches
Publikum hat. Ich schaue mich um, im Dämmerlicht in der Ecke werkelt der Exe
wieder einmal an seinen Mischpulten; ein Helferlein hat den Mund wohl besonders
voll genommen und versucht noch immer, durch einen Switch zu entkommen. Außer
dem elektronischen Spektakel und seinem virtuellen Anhang haben sich Charlus,
Albach, Bornhard und Wolhe eingefunden. Also neben dem amorphen Klops, dem die
abwesende Algo zuzuordnen ist, zwei Paare, die sich schon gehörig in den Haaren
lagen und nun im kühlen Blau scheinbar wahllos im Raum verteilt in den
englischen Sesseln fläzen. Beeindruckend schöne Davenports, senffarbenes Leder
in das die Zeit eine unübersehbare Zahl von Hieroglyphen eingegraben hat. Die
weltanschaulichen Gegensätze der vier hören sich oft unüberbrückbar aus, aber
bei den letzten Begegnungen dienten ihre Spezialisierungen vor allem dazu, mir
auf den Zahn zu fühlen. Sie hatten heraus zu kitzeln, in welchen Zusammenhängen
ich mich anbiedern musste, was ich zu verbergen hatte, wo meine Schwachstellen
lagen.
„Ich sehe an Ihrem fragenden Blick, dass Sie
Algo vermissen.“ Er lacht fett und selbstgefällig. Ich bemerke keine
Aggression, aber die Stimmung ist leicht orange mit einigen roten Spitzen: „Sie
lässt sich entschuldigen. Nachdem ihr die letzten Vorträge derart auf den Magen
geschlagen haben, ist es nun meine Aufgabe, für die nötige Vernetzung zu sorgen
– aber dafür habe ich die Berechtigung, über wesentlich mehr Speicher zu
verfügen. Wir haben bisher nur die verschiedensten Andeutungen oder Ankündigungen
zu hören bekommen, außerdem diverse Ausführungen, sei‘s die Abschweifungen,
sei’s die Vorlesungen oder Vorträge, alle auf einem sehr hohen theoretischen
Niveau angesiedelt. Nun sollten wir uns den alten Texten aus jener Zeit widmen.
Das ist die naheliegende Vorgehensweise: Sie sind aus konkreten Situationen
hervor gegangen, mit denen sich überzeugende Querbezüge zu den späteren
Schlussfolgerungen herstellen lassen. Damit es leichter nachvollziehbar ist,
wie gewisse Einsichten entstanden sind, starten wir mit einer Zusammenfassung. Gibt es dazu noch Fragen?“
„Mich würde interessieren, auf welche Daten
Sie zugreifen können?“ frage ich und habe einen metallischen Geschmack im Mund:
„Also außer dem, was Sie der Rede oder Schrift oder unserem Denken entnehmen
konnten?“ Das ist mir wichtig, beim Umstieg vom einen auf das nächste
Betriebssystem sind im Laufe der Jahrzehnte immer wieder Texte und Dateien
verloren gegangen oder unlesbar geworden. „Außerdem würde ich gern das Privileg
genießen, gewisse Situationen nachzulesen, die nie geschrieben worden sind. Ich
habe von einigen wesentlichen Weichenstellungen nur ein paar mehrdeutige, damit
interpretierbare Bilder übrig behalten,
manchmal noch Redefetzen, die von Geruchs- und Geräuschclustern umspielt wurden,
und von einigen der wichtigsten Situationen sind mir nur die Abdrücke
geblieben, die sie in meinen Träumen hinterlassen haben.“
„Wir haben ziemlich viel aus den alten
Archiven gerettet“, er grinst mich mit einem gewissen Besitzerstolz an: „Und
damit haben Sie das Privileg, mit über den Sinn des Lesens zu entscheiden. Das
Erkenne-dich-selbst der Philosophie bleibt eine unendliche Aufgabe, der
gegenüber die Redaktion eines Datenkonvoluts aber zu ganz brauchbaren
Ergebnissen führen sollte. Bei der Gelegenheit fällt mir ein, dass ich Sie auf
einen Widerspruch festnageln wollte. Sie definieren sich in allem möglichen
Zusammenhängen durch die Wirklichkeit des Paars: Sie haben recht
nachvollziehbar gezeigt, dass der Homo Clausus immer wieder neu hergestellt
wird, um die Beherrschbarkeit des Menschen zu gewährleisten. In Ihren Texten
wurzeln die private Beziehungsunfähigkeit und der wissenschaftliche Solipsismus
im gleichen Grund – sie werden mehr oder weniger zielgerecht hergestellt.
Später haben wir diese Anregungen verdichtet, um dann für unsere Schule der
Liebe oder für die Akademie des Geistes die notwendigen Konsequenzen zu ziehen.
Wir haben damit jenen festen Punkt gefunden, mit dem eine Welt, in der alles
nur im Als-Ob erfahren wird, aus den Angeln zu heben ist. Es muss eben nicht so
sein, dass die tatsächliche Kapazität der allmählichen Verfertigung junger
Götter beim Lieben nur ein Traum oder eine Sehnsucht bleibt, aber niemals in
unsere Reichweite geraten darf.“
„Das ist eine treffende Zusammenfassung. Vor
Publikum habe ich das Thema gern umspielt und kaschiert, aber selten in dieser
Klarheit zur Sprache gebracht – ich möchte nicht unversehens in die Nähe der
Evolutionsbiologen geschoben werden. Körpereigene Drogen und hormonelle
Register mögen eine latente Matrix bilden, aber tatsächlich entscheiden die
kulturellen Kontexte und das in Interpretationstraditionen vermittelte
Repertoire über unsere Selbstdefinition und die Kräfte, die wir in der jeweiligen
Situation freisetzen. Wir sind nicht so determiniert, wie es die
Komplexitätsreduktion einiger Fachidioten behauptet.“ Ok, ich habe es mit einem
Update zu tun! Ich sehe ein paar ungewohnte Kräftepfeile, auf der Zunge
schmeckt es nach durchgebrannter Sicherung: „Seit den vergangenen Sitzungen der
Schule der Liebe haben Sie die Strategie geändert. Während meine Argumentation
sonst absurd verzerrt oder irrealisiert wurde, übernehmen Sie jetzt gleich am
Anfang die Basissetzungen?“
„Nun, mir haben die energetischen
Aufzeichnungen am Ende unseres letzten Gesprächs ein paar wichtige Einblicke
vermittelt – für Algo war der Speicher schon zu, während ich die Reproduktion
ihres Zugriffs auf die Wirklichkeit nachvollziehen konnte. Allerdings wollen
wir unter dieser Perspektive manche Gesetzmäßigkeiten etwas genauer wissen. Ich würde gern mit einer kurzen Apologie für Überlebenskünstler
beginnen, um erst einmal nachzuvollziehen, warum Sie trotz des rigorosen
Ausschlussverfahrens nicht abgestürzt sind.“
„Das sollte zumindest ergänzt werden durch
eine reziproke Fragestellung!“ Charlus spielt wieder mit
erhobenem Zeigefinger den Oberlehrer: „Wen interessiert schon eine Algodizee
für Borderliner! Ich würde gern abklopfen, wie er die Leichen zustande brachte,
die seinen Weg säumen, ohne jemals dafür belangt worden zu sein. Warum ist er
noch immer in der Lage, uns hier Rede und Antwort zu stehen.“
„Für diese
Fragestellung ist es noch zu früh“, bremst ihn der Moderator: „Wir kommen
darauf zurück. Das kann ich Ihnen versprechen. Aber erst einmal brauche ich das
Tableau, dann können wir uns den Feinheiten widmen.“
„Einverstanden! Aber wenn es sich anbietet
gehe ich gern auf Charlus‘ Fragestellung ein.“ Ich korrigiere ihn, weil ich
nicht einsehe, dass gleich am Anfang irgendwelche Tabus gesetzt werden: „Wenn
George Steiner in ‚Der Meister und seine Schüler‘ darauf hinweist, dass die
Sphäre der Seele ihre Vampire hat, nennt er zwar die ausgebeuteten Schüler,
deren Geist gebrochen wurde, deren Hoffnungen vernichtet worden sind. Aber das
scheint für ihn zu vernachlässigen gegenüber den Meistern, die verraten,
gestürzt und zugrunde gerichtet wurden. Aus meiner Sicht spricht das
Machtgefälle für den Schüler, der nicht auf der Strecke geblieben ist, also
nicht für den Schmarotzer, dessen Fehlverhalten durch eine Hierarchie gedeckt
wird!“
„Ich denke, Sie tun Steiner unrecht“,
unterbricht mich Albach mit spitzer Zunge: „An einer Stelle kennzeichnet er die
wahre Lehre als gefährliches Unternehmen, weil der Meister das Innerste seiner
Schüler, den zerbrechlichen und entflammbaren Stoff ihrer Möglichkeiten zu
formen beginnt. Aus diesem Grund hat er sie zum Andersdenken auszubilden und
für die Trennung vorzubereiten. Steiner betont, dass der richtige Meister am
Schluss allein sein sollte.“
„Das mag sein, aber unter dieser Voraussetzung
hätte man mich gehen lassen“, erwidere ich: „In jedem Prozess des Lehrens und
Lernens gibt es Anreize zu Treue und Vertrauen, zu Verführung und Verrat.
Nachdem ich einmal einer Verführung ausgeliefert war, die die entscheidenden
Weichenstellungen für die damalige Entwicklung bewirkte, zog ich es vor, mir
die wichtigen Einsichten selbst beizubringen. Ich war ein besessener Leser, auf
zwischenmenschliche Kontakte legte ich keinen Wert, die Seminare waren
lediglich zur Hinterbandkontrolle nötig. Unter diesen Voraussetzungen war es
völlig unangemessen, wenn die aus einem Besitzanspruch resultierende gekränkte
Eitelkeit nicht loslassen konnte und eine Intrige inszenierte.“
„Und das erklärt Ihren sprunghaften Stil, Ihr
willkürliches Hin und Her zwischen Erzählung, Essay und Abhandlung?“ mutmaßt
Charlus.
„Sie können davon ausgehen, bei mir gibt es
keine gerade Linie“, unterstreiche ich:
„Dafür viele Sowohl-als-Auchs, keine dialektischen Widersprüche, aber enorme
Ambivalenzen. Ich halte mich an jene subjektiven Erfahrungen, die
vielschichtige Wahrheiten freisetzen. Die Konsequenz und Widerspruchsfreiheit,
die Algo öfter angemahnt hat, dürfen Sie also nicht erwarten.“ Charlus lässt
sich in seinem Sessel zurückfallen und grinst mich schelmisch an.
„Dann können wir jetzt beginnen“, gibt der
Moderator das Startsignal. Wie zur Bestätigung taucht ein diffuser Nebel die
Wand in ein schales Licht: „Mal abgesehen von Ihrer Geschichtsvorstellung, nach
der sich historische Tatsachen mit jeder Darstellung und Reproduktion ein wenig
verändern, bin ich parallel zur Inthronisierung des Paars auf eine sehr
befremdliche Selbstprogrammierung gestoßen. Wie klären wir den folgenden
Widerspruch: Sie haben sich als Teil einer größeren Ganzheit empfunden, aber in
gewissen Situationen der extremen Infragestellung wurden Sie zu einem Projektil
mit unbekannter Zielprogrammierung oder zu einem auf ein Geschoß reduzierten
Bomberpiloten. Wie bringen Sie diese Dimension Ihres von Heraklit inspirierten
Traumerfahrens – in der Tiefenstruktur, am Nabel des Traums, teilen die Träumer
dieser Welt alle den gleichen Traum – mit der Wunschvorstellung oder den
Erwartungen zusammen, dass der Mensch als Einzelner nicht existiert, sondern
immer als Teil eines Paars gedacht werden muss. Legen Sie damit nicht nahe,
jede abgeschlossene Identität habe eine explosive Struktur – die unter den
Bedingungen einer Mikrophysik der Macht, den freiwillig übernommenen Zwängen,
irgendwelche Anlässe der Implosion sucht. Oder ganz einfach formuliert: Wie bringen
Sie die Hingabe an eine große Liebe mit der Struktur eines Selbstmörders in Einklang?“
Keine schlechte Tarnung für so einen
Frontalangriff! Jetzt verstehe ich, wo dieser Geschmack nach geschmolzenem
Metall herkommt. Sie versuchen das, was sie bisher von meiner Strategie kapiert
haben, gegen mich zu verwenden. Also werde ich die Wirkungsweisen eines Blankpolierten
Spiegels erklären und die Macht des Lassenkönnens demonstrieren: „Das ist
leicht zu beantworten: Je einzigartiger die Liebe wurde, je mehr wir Tag für
Tag an ihrer konkreten Umsetzung übten, je weniger konnte uns geschehen. Wenn mich
die Gewissheit des ‚Gut-dass-es-dich-gibt‘ trägt, sind auf einmal die
Begegnungen unwichtig, die mich verletzen würden. Wenn ich mich vorbehaltlos in
die Aufgabe investiere, für dieses Du ein angemessenes Leben zu erkämpfen, stehen
mir ganz andere Kräfte zur Verfügung, als wenn ich nur an mich denke. Die Angst
zu versagen, der Vorbehalt der Blamage, setzen keine Bremsenergie frei, denn
sie entfallen einfach. Ich muss nicht in Extremsituationen über meinen Schatten
springen, sondern ich bin schneller als der Schatten und im rechten Augenblick
nicht mehr an den linearen Zeitablauf gebunden.“
Albach spielt den gelangweilten Ästheten und
klatscht müde in die Hände; die Ambilightspielereien des Exe reproduzieren
einen sanften Trauerflor: „Irgendwie will mir nicht in den Kopf, dass sich eine
große Liebe und der Selbstmord nicht gegenseitig ausschließen. Aber vielleicht
stellt sich in diesem Fall die Frage: Wie sieht es dann mit der Identität als
Bombe aus? Was bleibt übrig, wenn die Bahn durchlaufen wurde, dank der man sich
sagen sollte, es gehe schließlich nicht anders? Waren Sie nicht irgendwie
erleichtert, als endlich feststand, dass es so nicht mehr weitergehen konnte?“
Ok, er war schon öfter der Claqueur. Dabei
dient diese Frage nur dem Versuch, mich zu einer Identifikation zu verführen.
Ich soll mich um ihn als Bundesgenossen bemühen – in der Hoffnung, wir hätten das
gleiche Interesse an der Erkenntnis, wobei es um alles andere eher geht, als um
eine Erkenntnis. „Ich glaube nicht, dass diese Fragestellung mir weiter
geholfen hätte. Heute könnte ich kontern, schon die Vorsokratiker haben die
Macht der Rede mit der Wirkungsweise eines Projektils verglichen, aber dieses
Sprachspiel hätte mir damals nicht weitergeholfen. Natürlich gab es irgendwann
das Bild in meinem Kopf, dass ich mich auf meiner Bahn durch die Unendlichkeit
des Alls ohne irgendeinen Treffer in einer unvorstellbaren Leere verlieren
konnte. Aber das waren induzierte, depressive Hänger, die mit jedem GV, also
mit der unmittelbaren leiblichen Erfahrung des Paars, in die Flucht geschlagen
wurden. Vielleicht half sogar die Komplexitätsreduktion, denn nach den Prüfungen,
die mir auferlegt worden waren, hatte ich keine Angst mehr. Allein, dass es uns
noch gab, war schon der Gewinn. Das war also kein Widerspruch. Wir waren ganz
auf uns gestellt, es gab niemanden, der uns von der Verantwortung für unsere
Zukunft freistellen konnte. Bei Sartre habe ich einmal die radikale Kennzeichnung
gefunden: An dieser Stelle war er ganz allein, niemand war sein Zeuge… – und
wir waren immerhin zu zweit“, erwidere ich nachdenklich: „Das zeigt
tatsächlich, der hoffnungslose Weltzusammenhang, in dem ich mich damals zu
bewegen hatte, war eine schlichte Eingabe. Ich hatte ein Hintertürchen reserviert,
mich mit einem lauten Knall zu verabschieden, wenn wirklich nichts mehr zu
retten war. Aber tatsächlich war die Wirklichkeit, die über uns verfügt wurde,
nur komplett vernagelt. Es ist nicht abwegig, dass manche der philosophischen
Konzeptionen, die den Homo Clausus vorbereiten konnten, aus ähnlichen Zwängen
geboren worden sind. Als es in den universitären Zusammenhängen nicht
weiterging, konnte ich mir den Luxus von Zweifel oder Selbstmitteilung nicht
mehr leisten. Wir lebten von der Hand in den Mund: Die verschiedenen Versuche,
auf jenen Feldern Geld zu machen, auf denen die Bildungsbeamten keine Einflüsse
hatten, ließen mir keine Zeit für irgendwelche Sentimentalitäten. Die
geradlinige Flugbahn eines Projektils war eine Idealvorstellung, während ich
mich am Hakenschlagen eines Hasen zu üben hatte. Als Schamane im Bücherregal
musste ich in Kontexten auftauchen, in denen mich niemand erwartete, um dort zu
jobben, bis irgendwelche Einflüsse der Flüsterpropaganda zu bemerken waren.
Dann hatte ich mich still und leise wieder zu verabschieden und mit den
minimalen Beständen zu rechnen. Es dauerte, bis uns klar war, wir würden in
durchschnittlichen Arbeitsverhältnissen auf keinen grünen Zweig kommen, denn
diese Arschlöcher hatten über Abhängigkeiten oder die Beziehungen ihrer Schüler
die Möglichkeit, überall rein zu pfuschen. Sie schafften es sogar, über den
Rechtsanwalt unseres Hausbesitzers die Atmosphäre im Haus zu vergiften, mir
also die Hausmeistertätigkeit so schwer wie möglich zu machen. Wir wurden
ausgespäht, in allen möglichen Zusammenhängen abgepasst, wir begegneten
fortwährend irgendwelchen Zeichensetzungen, die uns nahelegten: Gib auf, gegen
diese Übermacht kannst Du nicht gewinnen! Eine perverse Erfahrung, auf einmal
war eine übermenschliche Disziplin nötig, um die kleinsten tagtäglichen Belange
ordentlich zu erledigen.“
„Das ist eine Ironie der Geschichte!“ Unter
dem Eindruck eines klaren blauen Himmels bringt Albach das Spiel auf einen
Nenner: „Jahrelang propagieren Sie, dass Sie nichts werden wollen, weil jede
abhängige Tätigkeit nur die Zerstörung von Lebenszeit bedeute. Sie widmeten
sich dank dieser Hausmeistertätigkeit dem Lesen, Malen und Schreiben und
finanzierten die Eigenarbeit mit einem Minimum an Hilfsarbeiten – und man
erschwert Ihnen diese primitive Form einer Grundsicherung, die dank des
Buchhändlerrabatts schon fast an den Naturalientausch erinnert, um die
Veröffentlichung weiterer Analysen zu verhindern. Wenn Sie dann meinen, sich
einfach als Durchschnittsarbeitnehmer für irgendwelche akademischen
Dienstleistungen zu bewerben, kann das doch gar nicht klappen! Jeder, der ihre
Abschlüsse und Zeugnisse in die Hand bekam, musste nur noch zum Telefon
greifen, um ein paar Erkundigungen einzuziehen, damit war die Kacke am dampfen.“
Er ist an einem Wahrheitsgehalt dran,
verbreitet Wogen von Nektar und Ambrosia – er würde mir gern nahelegen, mich
mit der Klage zu bescheiden, das Leben sei ungerecht. Aber genau das akzeptiere
ich nicht. Wenn sich Bildungsbeamte als Stalker betätigen, es ist einfach
kriminell: „Genau so lief es! Das hat sich derart psychotisch angefühlt, als
würde von allen Seiten gleichzeitig an einer Entdifferenzierung gearbeitet –
die Absagen der Unis, selbst wenn sie unterschwellige Botschaften
transportierten, waren noch das harmloseste. Viel wirksamer war die
Flüsterpropaganda, die mir als Hausmeister bei den Handwerkern und
Dienstleistern in der Stadt schaden sollte, die die Luft verpestete und sich
von der Müllabfuhr über die Postboten bis zu Haus- und Zahnärzten oder Anwälten
ausgebreitet hatte. Die sich außerdem im Ressentiment und Sexualneid alter
Weiber vervielfältigte, sogar noch an den Supermarktkassen beim Nanz oder Aldi
zu spüren war, uns also bei den täglichen Kleinigkeiten mit einer bedrohlichen
Atmosphäre umgab. Keine Paranoia, sondern die unmittelbare Resonanz der
tratschenden Schwägerin unserer Hausbesitzer, die als Bäckerin in der unmittelbaren
Nähe dieser Geschäfte die nötigen Botschaften aus der großen Welt übermittelte.
Der Hohn war, ich habe einmal beobachtet, wie sie mit einer unverschämten
Selbstverständlichkeit Butter klaute, während die Angestellten vom Pennymarkt
neben ihr die Regale füllten. Schwäbische Millionäre, Handwerk hat goldenen
Boden – aber es gab keinen dieser Leute, mit denen ich in der damaligen Zeit
oder auch später, als ich ein Luxusmagazin für die oberen Zehntausend
belieferte, zu tun hatte, der nicht gewaltig verstrickt war. Die Leute durften
mit Grundstücken spekulieren oder sich an der Macht ansaugen, aber sie mussten
Dreck am Stecken haben, damit man im Bedarfsfall über sie verfügen konnte. Weil
das bei mir nicht der Fall war, weil mir Geld oder Macht nichts bedeuteten,
wurde mit aller Gewalt daran gearbeitet, mich in die Verlegenheit zu bringen,
darauf angewiesen zu sein – um mir dann zu zeigen, dass ich nirgends zugelassen
wurde.“
„Haben Sie sich damals vielleicht einmal
Gedanken darüber gemacht, warum das so lief? Haben Sie nicht irgendwann bereut,
dass nur ein paar Kleinigkeiten hätten anders laufen müssen, der ganze
Schlamassel wäre Ihnen erspart geblieben?“ Die fette Wolhe kann ihr
sadistisches Behagen nicht kaschieren, während braune Helferlein zerflederte
Landserhefte durch die Luft wirbeln.
„Klar, meine ganze Biographie. Meine Zeugung
habe ich mir nicht ausgesucht, die perverse Familienkonstellation oder die sich
fast zwingend ergebende Verführung nicht weniger… Alles was ich dann später an
eigenem zustande bringen wollte, war schon immer das Resultat einer Rolle als
auserwählter Sündenbock. Alles, womit ich mich von den nachgemachten Menschen,
den verkrüppelten Mitläufern unterscheiden konnte, lief darauf hinaus, dass ich
mich ohne Reserven in eine Beziehung investierte, die zu einem Vabanquespiel wurde.
Da war keine Kleinigkeit zu korrigieren oder ein Fauxpas zu vermeiden. Meine
Mutter hatte ihre Besonderheit durch die Rolle, die sie mir zugedacht hatte,
bewiesen – und wenn ich nicht vom Gewicht einer Welt zu kurz gekommener Krüppel
erdrückt werden wollte, musste ich besser werden, als die anderen. Die
Botschaft, die sich später ein paar Bildungsbeamte für mich ausgedacht hatten,
war klar: Ich sei mir zu schade, um mich mit normalen Studenten abzugeben, ich
würde einen Elitegedanken vertreten, der heute nicht mehr en vogue sei. Tatsächlich
sollte ich darunter leiden, dass ich besser war – ich sollte mein
Ausschlussverfahren selbst verantworten. Als durfte ich keinen Grund haben,
stolz auf meine Leistung zu sein, als müsste ich meine Leistungsfähigkeit
verfluchen und verleugnen, weil ich nicht bereit war, die nötigen
Subalternitätsdressuren zu akzeptieren. So sieht es in den Herrschaftsbereichen
einer kommunikativen Vernunft aus, wenn an den wichtigen Schaltstellen
Parapsychotiker sitzen. – Dabei musste ich mich nur an der vollendeten inneren
Leere üben und die Bedrohung, die uns begleitete, wurde zurückgespiegelt. Die
braven Zuträger und delegierten Mitläufer bekamen es mit der Angst zu tun, weil
sie aufgrund ihrer konfliktuellen Mimetik davon ausgingen, dass wir noch mehr
in der Hinterhand hatten, wenn uns die Umzingelung nicht beeindruckte. In der
Vorlesung zum Souveränitätstraining habe ich fünfundzwanzig Jahre später
nachvollziehbar gemacht, warum ein als Blankpolierter Spiegel wirkendes
psychisches System überhaupt nichts in der Hinterhand haben muss,
vorausgesetzt, dass die Beweggründe lauter genug sind.“
„Das will ich genauer wissen!“ Charlus schüttelt seine Lethargie ab: „Hier müssen wir nachhaken, das
sollten wir in ein operationales Schema bringen.“
Der Leiter ignoriert ihn, bleibt aber
sympathisch dran, während uns der Exe in eine blaue und kalte
Unterwasserlandschaft taucht: „Es ist bekannt, dass in unseren
Großinstitutionen häufig genug Untote und Simulanten der Lebendigkeit gefördert
werden! Sie kompensieren den Mangel an Substanz oder ihre Impotenz durch die
Behördenabsicherung; sie fühlen sich erst dank sadistischer Intrigen wirklich
lebendig. Gegen Ihre Analysen habe ich nichts einzuwenden, mal abgesehen davon,
dass wir für diese Erkenntnis keinen Musik brauchen –
den Statthaltern des Wissens ist das schon lange bekannt. Aber schließlich
gehört es zu meinen Aufgaben, dieser von Ihnen als System von Behinderungen
gekennzeichneten Institution, die nötige Anschlussmöglichkeit an eine lernfähige
und effektivere Zukunft zu verpassen. Das soll uns diese Geschichte vermitteln
– wir greifen auf ihre Lernprozesse zurück, um die Gesetzmäßigkeiten heraus zu
filtern.“
„Da habe ich nichts dagegen – solange Sie
damit haushalten können, den Adepten den sozialen Tod in mehreren Dosen zu
verabreichen. Der Tod der Familie, das Enden der Selbstidentifikation, die
Liquidierung der konfliktuellen Mimesis, das Aufsprengen einer kontingenten
Geschichte... Die Erfahrung, dass es keine Tatsachen gibt, sondern nur
Interpretationen von Tatsachen! Wir müssen mit Mehrdeutigkeiten und
Ambivalenzen auskommen, jeder Zwang zu einer eindeutigen Zuordnung bedeutet
bereits eine Komplexitätsreduktion, die uns um die Fülle der Wirklichkeit
betrügt. Ganz am Ende, wenn Sie begabte Aspiranten zustande gebracht haben,
verpassen Sie ihnen noch die Erfahrung, dass alles, was sie bisher
ausgezeichnet hat, die Gründe für ein Ausschlussverfahren liefert.“
„Immerhin sind Sie doch vernünftig geworden“,
wirft Wolhe ein, während sie giftig gelbe Lichter zwischen die dunklen Wogen
wirft: „Sie haben sich an verschiedenen Universitäten beworben. Wobei es schon
wieder auf eine seltsame Form von Erfolgsorientiertheit verweist, wenn jemand,
der es abgelehnt hat, zu habilitieren, sich um eine Professur bewirbt!“ Der Exe
macht sich einen Spaß daraus, Totenschädel und andere Vanitasdarstellungen im
Dämmerlicht zu materialisieren.
„Als mich die Krüppelzüchter soweit ausgelaugt
haben und ich nicht mehr wusste, was ich künftig machen sollte, dienten diese
Bewerbungen einem ganz anderen Zweck. Nach Dresden taugten sie weitgehend dazu,
Informationen zu streuen und die Zeit als Bankbote auszuhalten – wer hätte mich
nach meiner Konzeption und dem Auftritt vor dem Gründungsrat in der
Staatskanzlei überhaupt noch als Assistent oder Mitglied des Mittelbaus ausgehalten?
Also benutzte ich die Bewerbungen, um mich im Gespräch zu halten. Außerdem war
ein virtuelles Gegengewicht zu den Angeboten des Bankdirektors nötig, der ganz
nebenbei immer wieder die Zeichen setzte, durch seinen Vater, einen promovierten
Germanisten, mit der Literaturwissenschaft vernetzt zu sein. Ich brauchte die
Bank, um die Minimalabsicherung für das laufende Jahr zu gewährleisten, aber
das strengte derart an, dass ich in dieser ganzen Zeit fast nichts zustande
brachte. Drei Buchbesprechungen, mehrere Versionen einer Rekonstruktion des
Auftritts in Dresden, außerdem regelmäßige Aktualisierungen irgendwelcher
Bewerbungsschreiben, die vor allem dem Prinzip Hoffnung geschuldet waren, damit
nur die Funktion hatten, Anschlusswerte zu simulieren. Das wurde gerade deshalb
nötig, weil mir das Ausschlussverfahren in den unterschwelligen Andeutungen
mancher Absagen nahe gelegt wurde, die vor allem den SPD-Zuträgern eines
Harpprecht zu verdanken waren. – Sie sehen also, mit aller Gewalt wurde daran
gearbeitet, mich in einen Untoten und Simulanten der Selbstheit zu verwandeln.
Bereits im Sommer, vor der zweiten Bankbotenvertretung, deutete sich an, dass
ich mich selbstständig machen musste, um eine Position zu erreichen, auf der
ich mich vor keinem dieser universitären Strippenzieher mehr verantworten musste.“
„Wie macht man das als Einzelner ohne
Eigentum, dem noch dazu nahegelegt worden ist, sich in einen Mann ohne
Eigenschaften zu verwandeln.“ In die Bildwelten eines Großbrands gehüllt, versucht
Wolhe mich weiterhin zu provozieren, während Bornhard in der Idylle eines
Strandbads an der Ostsee versucht, diese Vorgehensweise mit einem
missbilligenden Lächeln abzumildern.
„Ich konnte bocken, auf dem Nein beharren,
über die Ungerechtigkeit der Welt klagen und mich damit bereitwillig in den
Status eines Opfers einschreiben. Oder ich konnte mir den Wahnwitz des Systems
zu eigen machen, den mir schon das Feuer in der
Kronprinzstrasse nahegelegt hatte. Wie es der damalige Stand von Datenschutz
und Telefonmarketing nahelegte, boten sich Telefon und Fax in der weitgehend verwaltenden
Welt als Sphäre für mediale Wegelagerer und Raubritter an. Die Ironie der Geschichte: Der Versuch, mir jeden geregelten Gelderwerb
durch einfache Jobs, als Packer im Buchhandel, als Kursleiter auf
Volkshochschulen oder dann als Bankbote, mit denen ich eine von Duldung oder
Förderung unabhängige Schreibe finanziert hatte, unmöglich zu machen, lieferte
im Endeffekt das notwendige Sprungbrett. Als freier Anzeigenverkäufer bewegte
ich in den nächsten Jahren mit genau dem Telefon, mit dem immer wieder
Bosheiten in unsere Biographie gefiltert worden waren, zwei Millionen Mark
Umsatz! Welch eine Beweisfigur für den organlosen Körper der Stimme, den
eschatologischen Untergrund der Lachkultur! Diese biographisch verwurzelte
Erfahrung unterstrich Kampers Plädoyer für eine methodische Schizophrenie: Was
mir wertvoll war, sollte mich aushungern, aber was ich verachtete, lieferte uns
bis dahin unvorstellbare Mittel.“
Charlus lacht böse
vor sich hin, kommentiert dann zynisch: „Man sollte eben nicht Gefahr laufen,
die sublimierte Perversion einer Analfixiertheit durch eine tödliche Krankheit
abzuzahlen.“
„Das geht jetzt zu weit, ist auch nicht unser
Thema. Aber ich habe doch einen gewissen Rechtfertigungszwang bemerkt.“ Der
Leiter bemüht sich, die Spannung raus zu nehmen, er straft Wolhe mit Ignoranz:
„Zum Thema Gericht möchte ich nur ergänzend unterstreichen, dass es nicht darum
geht, warum es Sie noch gibt. Im metaphorischen Sinn stehen Sie viel eher in
der Position des Zeugen. Da haben wir den Zeugen wieder, den Sie mit Sartre
zitiert haben: Ursprünglich der Märtyrer. Sie liefern uns die Materialien und
Einsichten, damit wir das entsprechende System der Selbstoptimierung nachvollziehen
können. Uns interessiert, warum Sie den Todeslauf überstanden haben, weil sich
hier Potentialitäten des Menschlichen zeigen, die für ein evolutionäres Repertoire
zur Verfügung stehen sollten. Der Ehrgeiz unserer Algo hat einiges in eine Ecke
gedrängt, die uns gar nicht so lieb ist. Es geht nicht um ihre Rechtfertigung,
das haben Sie in den falschen Hals bekommen. Aus diesem Grund halte ich die
nörgelnden Provokationen nicht für zielführend! Zudem habe ich auch nicht das
Gefühl, dass die Visualisierung die richtige Perspektive vorgibt, eher scheint
sie das Aggressionspotential zu erhöhen. Ich möchte die Sensibilisierung für
Stimmungen zurückfahren.“ Der Exe reagiert mit einem gequälten Stöhnen, aber
kurz danach hat sich das Ambiente normalisiert, nur die hin und her rasenden
Helferlein scheinen sich nicht zu beruhigen.
„Danke schön. Nachdem Algo am eigenen Programm
gescheitert ist, tangiert mich das wenig. Was sich damals in meinen Traumwelten
als Erfahrung eines Projektils zeigte, war nur das Resultat einer mit vielen
Tricks und Delegationen in Gang gesetzte Umzingelung, die noch immer in den
Imperativen einer Algo nachklang. Wann taucht die Sprengmetapher in den
Diskursen auf, wenn nicht in Situationen der Ausweglosigkeit – das beginnt
schon bei Kant. Aber Sie haben meine Frage nicht beantwortet! Ist es in
irgendeiner Form möglich, psychische Besetzungen abzugreifen und zu
dokumentieren, die über eine Generation zurück liegen?“
„Wo denken Sie hin! Wir kommen niemals in die
Vergangenheit, wir nötigen aus dem Spannungsfeld der Gegenwart die präsenten
Quellen nur zu Deutungsansätzen.“ Die Helferlein führen schemenhaft vor, wie
sie versuchen, die sich bewegenden Massen einer Sanddüne wegzuschaufeln. „Es
gibt keine objektive Erfahrung, genauso wenig wie es das Ding an sich gibt! Zugegeben,
erst einmal sehr wenig, aber vermittelt durch Ihre Reproduktion und die
Techniken des Durcharbeitens wird manche Vergangenheit wieder lebendig.“
„Das ist bedauerlich, denn in meinen
Selbstwahrnehmungen, den sinnlichen Erfahrungsformen des Hier und Jetzt, bin
ich eine Metonymie des An-sich-Seins“, insistiere ich: „Das ist nicht auf
Interpolationen beschränkt, mit denen wir unsere geschichtliche Erfahrung
herstellen. Gerade in den medialen Zusammenhängen bin ich auf eine
Zeiterfahrung gestoßen, die die Differentialrechnung imprägniert hat. Unsere
Gegenwart ist kein alleiniges Resultat der Vergangenheit, sondern sie hängt an
einem teleologischen Index, der aus der Zukunft auf uns zu kommt. Und wenn wir
die nötigen Informationen in den digitalen Zusammenhängen einer Turing-Maschine
situieren, wird die Eigenzeit auf einmal in beide Richtungen durchlässig.“
„Das ist ein interessanter Hinweis, der mit
Robert Spaemanns Ausführungen zur Teleologie abgesichert werden sollte. Aber
soweit, dass wir den Informationsfluss in beiden Richtungen in der Zeit
verfolgen können, sind wir noch nicht – ihr Bezug auf die durch die
elektronischen Medien geprägte Aisthesis ist wohl nur metaphorisch zu verstehen.“
„Das sehe ich etwas anders. Mit Gumbrecht
kommen wir im Hier und Jetzt der Präsenz an, weil noch immer jener
magische Akt funktioniert, durch den eine zeitlich und räumlich entfernte
Substanz präsent wird – das klassische Beispiel ist das katholische Abendmahl.
So wie der zeitliche Vektor suspendiert wird, geht es nicht mehr um Deutung und
Interpretation, sondern um die Vergegenwärtigung einer Gestalt im räumlichen
Zusammenhang. Jede Form von Kommunikation setzt in irgendeiner Weise die
Produktion von Präsenz voraus. Der von den Kommunikationsmitteln herkommende
Effekt der Greifbarkeit durch Bewegungen zunehmender oder abnehmender Nähe und
zunehmender oder abnehmender Intensität beeinflusst uns als Kommunizierende,
wir werden in der Materialität unseres Körpers affiziert. Es ist eine Funktion
der Mimesis, entfernte Zeiten und Orte zu einer gemeinsamen Gegenwart zu
verknüpfen. Wie nebenbei bewirkt dies, dass sich Personen, während sie
kommunizieren, in spezifischen und wechselnden Weisen berühren – es geht eben
nicht nur um unverbindlichen warmen Wind und wiedergekäute Sprechblasen. Der
Raum, der währenddessen entsteht, ermöglicht die Gleichzeitigkeit des
Ungleichzeitigen, damit die momentane Suspendierung der Abwesenheitsdressur.
Und seltsamerweise ist das an einem Computer leichter zu bewerkstelligen, als
mit einer Schreibmaschine.“
„Also sollten wir Ihren Zeitbezug bei
Gelegenheit genauer untersuchen. Sie haben einmal Huxley paraphrasiert: Wenn wir uns bemühen, die Zeit in irgendwelchen Objektivationen wieder
zu finden, wenn wir sie festhalten wollen, haben wir das Paradies verloren.
Wenn wir uns dem Augenblick hingeben und uns im Hier und Jetzt bewegen, geht
dagegen die Zeit verloren, und das ist für Augenblicke das wieder gewonnene Paradies!“
„Richtig, ich erinnere mich noch an den
Zusammenhang, der einiges über die Tricks verrät, die ich gegenüber der Intrige
einsetzte: Wer jeden Augenblick leben will, wie er sich
darbietet, muss in der Lage sein, nicht zurück zu schauen und nichts zu
erwarten. Das beinhaltet die Kapazität des Lassen-Könnens, damit die Fähigkeit,
an keiner Erinnerung haften zu bleiben, sie also zugunsten der Präsenz
absterben zu lassen. Das ist eine Aktualisierung jenes uralten Menschheitswissens,
das noch vor der Schrift als Mortifikationstechnik taugte und sich den
Erzählungen verdankte, die niemals eindeutig und identisch waren, sondern sich
immer den unmittelbaren Erfahrungsmustern anschmiegten. Wir sind noch heute in
Geschichten verstrickt und haben die Möglichkeit, uns von den vorgegebenen
Wissensweisen, die eine fensterlose Monade der Biographie garantieren sollen,
zu distanzieren. Wir können uns – und sei es mit der Starthilfe von
Halluzinogenen – auf intensive Wahrnehmungen einlassen, um zu hören und zu
fühlen, um zu riechen und zu schauen und uns von Rhythmen tragen zu lassen.
Diese Erfahrung der Präsenz setzt einen anderen, nichtlinearen Zeitprozess voraus.“
„Das ist stimmig, das werden wir genauer
untersuchen. Aber im Augenblick müssen wir erst einmal einen Zeitbezug
entschlüsseln, der Ihre Erfahrungen in der Vergangenheit einkerkern sollte.
Erst in einem nächsten Schritt wollen wir dann genauer wissen, wie man sich dem
entwindet. Sie sind zu schnell, wenn Sie uns gleich die Lösung präsentieren.
Solange wir nicht nachvollziehen, wie die Wirklichkeit in einen sich
verengenden Tunnel verwandelt worden ist, ist es nicht plausibel, warum die
Lösung Erfolg versprechen soll.“
„Dazu sollte ich erst einmal die Datenbasis
kennen. Ich muss keine Vergangenheit bewältigen, denn die ist schließlich
vergangen. Aber vielleicht verfügen Sie über Material, das mir nicht mehr
zugänglich ist. Oder über gewisse Informationen von der anderen Seite, über die
ich nur spekulieren konnte?“
„Wir haben alle möglichen Zeugnisse, aber die
sind erst einmal nur stumm – abgesehen von den Ansagen auf zwei Anrufbeantwortern.
Das würde einige Anstrengungen kosten, über Stimmanalysen das Setting einer
Konstellation herauszuarbeiten, die für Sie das Ende der Zeit und ein
ausbruchssicheres Gefängnis bedeuten sollte. Also haben wir uns an die alten
Disketten gehalten, auf denen sich immer wieder Dateien fanden, die noch nicht
zerschossen waren oder an die erste Festplatte, die glücklicherweise nur
gelöscht, aber nicht formatiert oder überschrieben
wurde. Dazu natürlich zwei Umzugskartons voll Ordner mit Handschriften, sei’s
von Ihnen, sei’s von Ihrer Freundin und späteren Frau. Wobei es ein leichtes
war, alles zurückzuholen, was einmal mit Kugelschreiber geschrieben worden war.
Ich lasse die nicht dokumentierten Vorträge oder die Übungen weg – es gibt zehn
Jahre Kurse auf verschiedenen Volkshochschulen zu Philosophie, Literatur und
Kreativem Schreiben, aber leider keine ausformulierten Texte. Sie neigten dazu,
über ein paar Stichworte zu improvisieren und dann in einer Mikroschrift mit
Bleistift signifikante Beobachtungen oder Schlussfolgerungen festzuhalten – an
vielen Stellen war der Strich völlig blass geworden. Dann verlassen Sie sich
mal auf den Abdruck im Papier, wenn das Zeug so unendlich klein ist. Wir haben
die nötigen technischen Medien bemüht, die Sie ja schätzen, wir verfügen über
ziemlich viel Material. Deshalb darf ich vorschlagen, wir setzen uns erst mal
der unmittelbaren Wirkung aus, bevor wir an die Wertung und Interpretation gehen.“
„Richtig“, ergänzt Charlus: „Wir haben heute
die Möglichkeit, die Komplexität einer persönlichen Entscheidung und die
Inkommensurabilität eines Augenblicks in einer ungeheuren Datenvielfalt
aufzuzeichnen. Nur haben wir in der Regel nicht die Zeit und die Kapazität,
diese Datendichte aufzuarbeiten. Das ist ein einfaches Gesetz: Je mehr Informationen
und Optionen, je kostbarer und knapper wird die Zeit. So, wie es aussieht,
werden wir einen unverhältnismäßigen Aufwand treiben, um die Gesetzmäßigkeiten
weniger Begegnungen zu rekonstruieren. Also sollten Sie uns helfen, die
entscheidenden Regeln eines maximal unwahrscheinlichen Erfolgs nachvollziehbar
zu machen.“
„Also wie gesagt, alles was Ihnen wichtig
erscheint, notieren Sie mit ein paar Stichworten. Wenn es sich anbietet,
verwenden Sie bitte die Dokumentation durch Screenings. Mit einem gewissen
Erfolg sind die Restbestände jener Besetzungsmuster abzugreifen, wenn Sie mit
den Zusammenhängen in den Dokumenten Ihrer Vergangenheit zusammenstoßen. Wir
versuchen Kontexte zu schaffen, in denen die Besetzungen noch einmal
aktualisiert werden und vermeiden dabei, soweit es irgend geht, irgendwelche
jüngeren Fragen oder Schlussfolgerungen mitwirken zu lassen. Ich denke, wir
können jetzt beginnen.“
„OK, dann versuche ich ein erstes Brainstorming! Wobei es mir recht
wäre, wenn Sie den Scan als Text ausgeben und auf irgendwelche blödsinnigen
Visualisierungen verzichten. Ein Bild mag mehr sagen, als tausend Worte, aber
es braucht dann mindesten zehntausend, um auf den Nenner zu bringen, was alles
damit transportiert wird. Jene Leute, denen es an Sprachgewandtheit und
Repertoire mangelt, verlassen sich auf die Manipulationskraft der Bilder. Aber
das kann ganz schön in die Hose gehen.“ Ich streife die Kappe über, das Material
ist angenehm kühl und anschmiegsam. Der Operator überprüft kurz die Kontakte
und gibt den Kanal frei. Die unzähligen kleinen Noppen auf der Innenseite
beginnen zu kribbeln. „Also schauen wir uns einmal an, wie es ausgesehen hat,
als die Arbeitgeber meiner Freundin im Auftrag der Uni Stuttgart ein Maximum an
Störversuchen zu inszenieren hatten.“
Als
die Stelle beim Vize wieder einmal anhängig ist, haben wir beschlossen, ja zu
sagen und mitzumachen, nur so war das dauernde Theater abzustellen. Seitdem die
Gerüchte über unsere Selbsterlebensbeschreibung die Runde machten, war immer
wieder versucht worden, deinen Ehrgeiz anzustacheln oder durch ein
Bewerbungsverfahren umzuleiten. Du hast am Anfang abgeblockt, später auch erklärt,
dass wir die gemeinsame Zeit für die Schreibe brauchten und außerdem mit dem
bisherigen zeitlichen Aufwand schon genug ausgelastet waren – aber die
dauernden Nachfragen, dazu noch der Ehrgeiz einer Fachbereichsleiterin, dich
dem Vize abzujagen und für eigene Pläne anzuspitzen, führten zu ständigen
Irritationen, kosteten einiges an Konzentration und versauten die Stimmung. Sie
versuchten, unsere Atmosphäre zu vergiften; solange wir nur passiv abblockten,
waren wir den ständigen Hysterisierungen ausgesetzt, unsere kreative Basis
wurde inkliniert, ohne dass wir etwas dagegen tun konnten. Der naheliegende
Schluss hieß: Wir sagen Ja, dann schauen wir uns an, was ihnen einfällt und verwenden
das in unserem Sinne. Wenn sie es darauf angelegt hatten, uns in die Defensive
zu treiben und in der Passivität ausbluten zu lassen, war ein Ja die richtige
Reaktion in dieser Situation. Aber nachdem wir entschieden hatten und damit
klar feststand, dass wir jetzt nicht nur in Opposition zur Chefin meiner
Aushilfstätigkeiten im Buchhandel standen, sondern auch noch deine
Schwachsinnigen im öffentlichen Dienst ausspielen mussten, bekam ich Beklemmungen
beim Vögeln: Rattern in der Brust, das den Hals hoch bis in die Ohren hämmerte,
dann Atemprobleme, danach extreme Schwächegefühle. Der Verdacht war nicht von
der Hand zu weisen, die Arschlöcher wollten dich vereinnahmen, um mich kaputt
zu machen. Das waren die Folgen eines Imperativs jenes sozialen Körpers, dessen
Gesetzmäßigkeiten von Geh- und Sprachbehinderten, von Impotenten und Frigiden
geprägt worden waren. Die mussten mit dem Köder der Macht an der Perpetuierung
der eigenen Verstümmelung arbeiten, um sie an die nächste Generation weiter zu
geben. Zwei Tage später war ich mit Hilfe von autogenem Training wieder auf dem
Damm, wir hatten diesen Kampf aufzunehmen – wenn wir nicht alles aufgeben und
in einer anderen Stadt neu anfangen wollten, gab es keine andere Möglichkeit.
Ein paar Monate lang spürte ich einen Druck in der Herzgegend und konnte nicht
mehr auf der linken Seite liegen. Auf die Dauer zeigte sich, dass die
Entscheidung richtig war. Wir kamen nun, weil wir mitmachten, an die Leute ran,
konnten immer mehr Negationen drehen und an den Absender zurückschicken. Uns
war überhaupt nicht klar, wer die tatsächlichen Absender waren. Dass es nicht
nur kleine Idioten sein konnten, die aufgrund ihrer Zukurzgekommenheit immer
irgendwelche Schwierigkeiten machen, war an den Intensitäten abzumessen, vor
allem aber am Timing, mit dem die Störungen lanciert wurden. Die Geschichte
hatte irgendwer von oben angekurbelt – nur, wo war oben? War es ein schlichter
Zufall, wenn dem Vorstandsvorsitzenden zu dieser Zeit eine Ehrenprofessur
verliehen wurde? War der für kleine Krüppel einer solchen Institution schon ungewöhnliche
Ehrgeiz beim Ausbrüten von Behinderungen auf die schlichte Tatsache
zurückzuführen, dass sie von außen angestachelt wurden, weil ihr Chef auch nur
ein Delegierter war, der die Belohnung eines Direktorenpostens zur besseren
Motivation bereits erhalten hatte?
Parallelen
zu diesen Störversuchen finden sich bei all meinen Versuchen, das nötige Geld
zu verdienen. In der Praxis war zu lernen, wie sich die magische
Verfolgerkausalität aufbaute, bis die Funken flogen. Erfahrungen, die im
Tiefparterre von Schauerroman und Gruselkrimi gelandet waren, wurden wieder zu
Wirklichkeiten, nachdem die Mimesis zu rotieren begann und an allen Ecken
konfliktuelle Rivalitäten entstanden: Spannungsphänomene, Wirkungen über weite
Distanzen, Zeichensetzungen und Signale wurden wie bei Paracelsus zu wirkenden
Kräften. Ausfälle traten vor allem bei Apparaturen auf, die das Verhältnis von
Innenraum und Außenwelt regelten oder in irgendeiner Form vermittelten – von
der Sprechanlage, über den Aufzug, die Klospülung, das Telefon, den Fernseher,
bis zum Computer: Die negative Energie wurde in diesen medialen Maschinen
abgeleitet, aber sie galt dem Medium unserer Liebe und vor allem dem Vollzug.
Als wollten die Leute, die ihr Leben auf einer Lebenslüge gründeten, sich
höchstpersönlich durch unsere literarische Tätigkeit bedroht fühlen – das war
Humbug oder ein Köder für besonders Blöde. In einigen Fällen war zu sehen, dass
der Sexualneid den treibenden Motor lieferte: Und das war wahrscheinlich auch
der Antrieb der Auftraggeber. Alle waren sich in einem Punkt einig, selbst wenn
sie einander nicht kannten: Der Signifikant wucherte wie ein Krebsgeschwür von
der Uni über Ministerien und Bibliotheken, erreichte sogar die Kanzleien, in
denen ich Loseblattwerke aktualisierte und regnete sein Gift über Supermärkten
ab. Leute, die sich als gesellschaftliche Spitzen fühlten, die als Vorstände fürchteten,
ihre Zeit ginge zu Ende, denen als schwäbischer Häuslebauer-Adel nur die Titel
fehlten, die als Bibliothekare oder Rechtsanwälte die eigene Subalternität an
einem Schriftsteller abstrafen, sich an einem Geisteswissenschaftler schadlos
halten wollten… Alle fanden sich unter einem gemeinsamen Ziel zusammen, das
zwar von außen an sie herangetragen worden war, aber eigenen Ansprüchen
entsprach. Eine Delegation zündet nur, wenn in der Vereinigungsmenge der
gleiche Wunschhorizont wirkt: Sie wollten den Anmaßungen eines philosophierenden
Hilfsarbeiters ganz legitim den Garaus machen. Die einen sahen nicht ein, warum
sich der Sohn ihres früheren Hausmeisters in akademischen Gefilden bewegte, die
ihre Söhne trotz Vitamin B nicht erreicht hatten. Die anderen waren immer
wieder neu gekränkt, wenn ihre juristische Floskelkunde gegenüber der
Sprachgewandtheit eines beweglichen Geisteswissenschaftlers nicht mithalten
konnte. Die nächsten waren gekränkt, weil sie mit ihren aufgemotzten Tussis,
dicken Klunkern und schnellen Autos keinen Eindruck machten. Und der
akademische Adel fühlte sich verschmäht, weil einer, den sie umworben hatten,
nicht in ihre Fußstapfen treten wollte. Während diese Leute sich in ihren
Behinderungen einig waren, wollte ich nur das Richtige machen. Ich beschäftigte
mich mit dem Guten, das mich weiter brachte, meinen Horizont erweiterte, meine
Freude am Lernen förderte, den Zugang zu noch Unbekanntem ermöglichte. Ich
hatte keinen Grund, mich nach unten zu relativieren, um mich zu therapieren und
sah nicht ein, mich mit Verwaltungskrüppeln zu beschäftigen. Das
Behindertenkabarett sollte anstecken, nur dann waren Lebenslüge und Verzicht
gerechtfertigt – mit so einem Scheiß wollte ich nichts zu tun haben.
Meine
Erfahrungen lieferten nach und nach eine immer ausgefeiltere Erfolgsstrategie:
Das Beste war, ich bemerkte die Bosheiten nicht oder interpretierte sie als die
verkrampften Versuche von Antriebsgestörten, die sich mal ein Späßchen leisten
wollten. Wenn mir eine/r krumm kam, sagte ich mir, dass die Bosheit eine Reaktion
der Zukurzgekommenheit war, dass die jeweilige Linkheit und Verlogenheit vor
allem auf die Bedürfnisstruktur verwies... Jammerfigur für Jammerfigur musste
einzeln und wie nebenbei durch Optimismus und Lebensfreude erledigt werden.
Schritt für Schritt: Weil wir Wichtigeres oder Besseres zu tun hatten,
beschäftigten wir uns nicht mit ihnen. Optimal war, wenn wir direkt nach einem
guten Fick abgepasst wurden und die Leute dann nicht mehr kapierten, warum sie
keinen Ton rausbrachten oder sich nicht mehr bewegen konnten und so ein seltsames
Zittern im Gesicht verspürten. Von mir durfte keine Aggression ausgehen, sonst
hätte ich die Negation bestätigt und mich ins Unrecht gesetzt – aus diesem
Grund vermied ich intuitiv jede mimetische Standleitung, im Stadium der
wohligen Befriedigtheit war das eine leichte Aufgabe. Außerdem durfte ich keine
Angst haben, sonst hätten diese kleinen Arschlöcher einen Erfolg erschnuppert
und mehr versucht. Die Leute tappten in Fettnäpfchen, hinterließen deutliche
Spuren, stolperten über die eigenen Fallstricke, offenbarten sich durch
Fehlleistungen. Ich schaute zu und tat immer, als bemerke oder verstehe ich
nicht, was gerade gespielt wurde: je besser dies gelang, je schneller
erledigten sich die Leute selbst – es gab nur kein Zurück mehr.
Ich
gab Einführungskurse in Philosophie und kreativem Schreiben auf der VHS, wurde
wie zufällig von anderen Institutionen engagiert, nur um immer wieder die
Erfahrung zu machen, wie viel den subalternen Deppen daran gelegen sein musste,
dass Sachen schief liefen und Termine verpatzt wurden. Ein Direktor redete mir
im Vortrag dazwischen, weil ich zu anspruchsvoll sei, die Teilnehmer
beschwerten sich, man käme sich in solchen Kursen wie ein Idiot vor. Eine Frau
aus dem Rathaus beklagte sich schriftlich bei meinem Fachbereichsleiter, ich
könne mir doch wenigstens einmal die Mühe machen, für sie den Don Juan zu
spielen – und dazu wurde eine Stellungnahme gefordert. Ein Knastdirektor ließ
ein Manuskript begutachten, um auszuspionieren, wie es in der Dachkammer der
Autoren aussah; er deponierte bei dieser Gelegenheit eine Aktentasche voll
Bosheit und böser Wünschen, die er in der juristischen Fachbuchhandlung abholen
wollte, der ich meinen Buchhändlerrabatt verdankte. Eine verbohrte Greisin
wurde von ihrer Tochter, die zufällig für den Ehrenprof arbeitete, auf mich im
Kreativen Schreiben angesetzt, damit ich ihre Lebensgeschichte lektorieren, ihr
tatsächlich aber als Stellvertreter helfen sollte, den Selbstmord ihres Sohnes
zu verdauen – ein Verwaltungsjurist. Wie es sein muss, kamen ein paar
Schwachsinnige, Süchtige, Prostituierte und andere gesellschaftliche Randfiguren
hinzu: Natürlich aus den besten Kreisen. Traummänner wurden delegiert, die uns
wie zufällig auf den ausgespähten Spaziergängen begegneten, scharfkantige Frauen
wurden in meine Kurse abgeordert. Die Angebote sollten das Begehren ködern und
dienten tatsächlich als Störfaktoren; telefonisches Sperrfeuer sollte die
Konzentration mindern, regelmäßig im Briefkasten deponierte Todesanzeigen aus
den 50er Jahren eine Drohung unterstreichen, vereinnahmende und zugleich
striezende Aufträge vor den Ferienzeiten ein Relaxen unmöglich machen. Die
Fäden liefen in einer Unterbringungsinstitution für zu kurz gekommene oder vom
Arbeitsmarkt geschädigte Akademiker zusammen. Erst wurde mit kulturschwulen
Mitteln versucht, die Beziehung zu stören; dann über Rivalitäten eine
Gegeninstanz zur literarischen Arbeit aufgebaut, das Buch sollte mit allen
Mitteln verhindert werden. Schließlich als die Unterlegenheit der Institution
klar war – ein Vorstand und ein Hausmeister war auf der Strecke geblieben und
das Buch war da –, wurde eine Psychose simuliert. Alles ging schief, nichts
lief mehr, alles war umsonst, aber das Generve und die telefonischen Störungen
nahmen täglich zu – um wenigstens Iris in einen Strudel der Selbstzerstörung
mit hineinzuziehen. Ein Haufen beziehungsunfähiger Single, geschiedene Nullen,
Schwätzer mit kaputten Ehen, wurde angeführt von impotenten Kalkern, die sich
in den Kopf gesetzt hatten, unsere gemeinsame Autorenschaft zu verhindern. Das
war vielleicht vor Jahren einmal delegiert worden, dann mochte sich der
Kriegsschauplatz verselbständigt haben, doch nun ging es vor allem um das
nächste Buch, in dem sie eine Analyse ihrer wohlsubventionierten Psychose
befürchteten, noch dazu eine bösartige Dokumentation ihres Scheiterns.
Kennzeichnend
war, dass der Vorstand dieser deutschen Vereinsmeierei als Professor senili den
Vorstand ganz verschiedener Kulturinstitute hergab, von denen allein drei in
demselben Gebäude residierten, in dem der Buchhandel untergebracht war, der
meine einzige sichere Einnahmequelle darstellte – und der am selben Strang zog.
Mit dem gleichen Ehrgeiz, weil eine von Gnaden des Todes gekürte
Geschäftsführerin befürchtete, in ihren verlogenen, für die Leute gefährlichen
mimetischen Machtstrategien und den hinter simulierten Familiengefühlen
lauernden Todeswünschen durchschaut zu werden. Ich hatte mir eine Geschichte
für sie ausgedacht – was blieb mir übrig, ich verwandelte Quälgeister in
Geschichten. Mamas liebe Tochter mochte einmal beim Funk oder in vergleichbaren
Eros-Centern die bittere Erfahrung gemacht haben, dass die Attraktivität einer
Bohnenstange durch kein Hochschulstudium aufgefangen worden war – aber mit der
Zeit war ihr eine Therapie gelungen, den Mangel als Gewinn zu verbuchen. Sie
verwandelte sich in die personifizierte Selbstlosigkeit, verbarg unter der
Maske eilfertiger Subalternität den Hass und Sexualneid der Zukurzgekommenen. Das
identifizierende ‚Wir‘ in ihrer Rede, in ihrer Körpersprache, war exzessiv,
weil sie peinlichst darauf achtete, alles eigene, jeden Rest an Selbstheit, zu
vermeiden, aus diesem Grund jeden Widerstand gegen eine fehlerhafte
Identifizierung einfach zu unterlaufen. Weil ich beim Jobben den Routinen
folgte, unter ihren Einflüssen durchzutauchen, versuchte sie in spannungsreichen
Momenten hoher Belastung das Stichwort Lungenentzündung, das Stichwort Krebs
als Überraschung einzuschmuggeln, um das Abgrenzungsvermögen zu übertölpeln.
Sie hatte Erfolge zu verzeichnen, der böse Wunsch sprang manchmal ohne
Vorwarnung über: Eine Assistentin bekam eine Nierenkolik, ein Bote sackte in
den Status des untragbaren Alkoholikers ab, eine Aushilfe verursachte einen
Unfall und beging Fahrerflucht, eine stille und ganz unscheinbare Buchhändlerin
bekam Bluthochdruck, ein Hausmeister hatte auf einmal eine offene TB,
verschwand in einem Sanatorium. Resultate der schwarzen Magie, mit der diese
Führungskraft ihre Macht ausbaute. Sie hatte es schon als Miss Moneypenny in
Bonn geschafft, jeder/m die Illusion zu vermitteln, sie oder meist ihn bei der
Erfüllung der Wünsche zu unterstützen; sie kalkulierte die Dates, wählte den
Nachtclub aus, buchte die Hotelzimmer – und hatte doch den geheimen Triumph
dabei: Sie labte sich am Scheitern der Fremdgeher. Während andere sich prostituierten,
in Rivalitäten verstrickt und in die Pfanne gehauen wurden, hielt sie sich zurück,
nahm teil und schnitt sich ein Scheibchen froher Erwartungen ab; aber sie
nutzte jede Gelegenheit, vorhandene Ambivalenzen heimlich anzuheizen. Sie fand
einen Chef, der ihre Fähigkeiten der mimetischen Einflussnahme erkannte und für
seine Zwecke reservierte, die hohe Politik in Bonn belieferte beide mit den
schönsten Gelegenheiten: Sie therapierte sich immer wieder neu an der Erfahrung,
mit den einfachen Mitteln der Ehekrise oder der Kuppelei enorme Einflüsse
auszuüben, große Männer blieben einfach auf der Strecke. Es mussten nur genug
Leute hinter einem bösen Wunsch stehen, ihn für richtig halten, prompt
verwandelte er sich im entscheidenden Augenblick in die Wirklichkeit.
Später,
nachdem sie von Grass als Assistentin der Geschäftsführung vermittelt worden
war, dauerte es nicht lange und die Besitzerin des Buchhandels fiel aufgrund
einer schweren Erkrankung aus, faktisch wurde die hässliche Bohnenstange zur
Geschäftsleitung. Nachdem Anbiederung und Nachahmung nicht gezogen hatten, um
mich zu vereinnahmen, versuchte sie, mich mit den ihr eigenen Mitteln
kaltzustellen. Ich machte die zwei-drei Urlaubsvertretungen pro Jahr schon so lange,
dass ich beim Tod der Chefin bereits zum Inventar zählte und für
Sonderaufgaben, die Vorbereitung von Veranstaltungen oder unvorhergesehene
Berge in der Versandabteilung auch ohne Voranmeldung zur Verfügung stand. Meine
Prämie war der Buchhändlerrabatt: Wenn ich für zwei-dreitausend Mark Bücher pro
Jahr kaufte, war das die Flexibilität wert, das nötige Pensum an Ignoranz war
einfach eine Zugabe. Anfangs musste sie mir vorführen, wie gern sie bei allen
Anforderungen außerhalb der Reihe auf meine Dienste verzichtete. Aber weil es
nicht so einfach war, für die Urlaubsvertretungen des Packers oder Boten
jemanden zu finden, der zuverlässig zur Stelle war, außerdem alles notwendige
schon kannte, präparierte sie für jeden meiner Jobs ein paar Delegierte, die
nicht wussten, was sie machten, wenn sie ihren verbogenen Wünschen gehorchten.
Nachdem es nicht gelungen war, mich mit Hilfe der Bedürfnisstruktur mehrerer
Buchhändlerinnen in den Griff zu kriegen, versuchte sie, mich an die Tochter
des Hauses zu fixieren. Als das nicht gelang, engagierte sie eine persönliche
Assistentin, die Lehramtsfächer studiert und nicht in den Schuldienst gefunden
hatte, forderte Anähnelungen heraus, spielte Rivalitäten vor und machte das
Mädel spitz – um sie zu demütigen, fiesen Abwertungen zu unterwerfen, um mich
zu einer Frontenbildung zu nötigen. Ich sollte mich mit diesem armseligen Wesen
identifizieren, damit akzeptieren, dass die Negation an mich adressiert war.
Die Distanzleistung fiel mir nicht schwer, weil ich auf der Uni mitbekommen
hatte, wie in den Lehramtsfächern vor allem Kinder von Lehrern ihr Heil
suchten; schon auf der Schule schienen mir die meisten Lehrer zu blöd.
Schließlich stellte sie einen Alkoholiker ein, einen ehemaligen Polizisten, der
unter ihrem Einfluss in schöner Regelmäßigkeit umknallte. Ganz link versuchte
sie mich auf dem gleichen Level einzusortieren, weil ich aufgrund meines
Heuschnupfens Hustenbonbons lutschte, während er seine Fahne durch
Fishermansfriend überdeckte. Der zuckersüße Ton, mit dem sie über ihn verfügte,
war allerdings nicht lange durchzuhalten. Er beschimpfte im Suff Kunden, wurde
nach einigen Zurechtweisungen renitent, drohte ihr im Geschäft vor Zeugen Prügel
an. Nach einer fristlosen Kündigung brachte sie ihn durch die Drohung mit der
Polizei dazu, das Hausverbot zu akzeptieren.
Zur
Unterstreichung des mimetischen Drucks führte sie aus dem SPD-Fundus ein paar
Autoren, Maler und Minister im Gefolge. Ihr früherer Chef stand im Hintergrund
zur Verfügung, Harpprecht war nach und nach wie zufällig aufgetaucht, wenn ich
meine Urlaubsvertretung startete – aber sang- und klanglos verschwunden, als
anhand der Nachricht des Vorstandstodes klar wurde, in was für ein gefährliches
Spiel ihn seine Ex-Sekretärin verwickelt hatte. Die Jahre bis zum Erscheinen
des Romans 'Altpapier' – der vielleicht nicht einmal der Auslöser der
Behinderungen war und sich nach und nach als einziger Halt erwies – unterstehen
einer dauernden Belastung, sie sind auch eine Bewährungsprobe unserer Beziehung.
Ich überfliege kurz den Text: „Die
Interpolation ist nicht schlecht! Einige Beobachtungen habe ich früher anders
interpretiert. Selbst wenn ich Gefahr laufe, Sie mit anachronistischen
Geschichten zuzuschütten, werde ich noch ein paar Mal auf das Gerät zurückgreifen.“
„Sie haben sich also mit allen angelegt, die
Sie hätten fördern können oder auf deren Duldung Sie angewiesen waren. Und das
ohne finanzielles Polster oder eine minimale familiäre Absicherung, auch mit
der Familie hatten Sie gebrochen. Damit haben wir ein paar präzise
Dünnschliffe“, unterbricht mich der Moderator: „Mit diesen sollte es möglich
sein, Ihre Geschichte unter den verschiedensten Perspektiven zu beleuchten. Der
Sexualneid als magische Wirkungsmacht mag mit Lacans Zauber der Impotenz zu
erklären sein. Dagegen zeigen die Subalternisierungsversuche die Wirkungsweisen
der Macht im Kontext der gesellschaftlichen Informalisierung. Auch das
Spannungsfeld zwischen sozialem Status und der subversiven Kraft der
Intelligenz und natürlich die Frage nach den Folgen einer Institutionalisierung
des Denkens werden wir im Auge behalten. Dazu noch das Erbe eines
Kuckuckskinds, das vor allem an den Schwierigkeiten zu sehen ist, die Sie mit
Rechtsanwälten und Verwaltungsjuristen hatten. Ihre Geschichte zeigt, wie sehr
die Zeit aus den Fugen geraten ist. Es ist kennzeichnend, wie Sie jenseits der
Melancholie in allen erdenklichen gesellschaftlichen Spannungsfeldern auf eine
aus dem Hamlet überkommene Diagnose zu reagieren hatten!“
„Eben dafür wurde das Geld erfunden – es ist
ein fast natürliches Mittel der Distanzierung, mit dem auch Konflikte leicht zu
regeln sind. Mein Ansatz war, mit Arschlöchern nichts zu tun haben zu wollen.
Ich hatte nicht erwartet, dass aus meinem früheren Umfeld niemand übrig blieb,
das ergab sich einfach so. Ich jobbte nicht mehr als notwendig, um mich den
wichtigen Themen zu widmen. Außerdem hätte ich es nie für möglich gehalten,
dass die Intriganten versuchten, mir den Geldhahn zuzudrehen. Man/frau sollte
sich klar sein, dass jede/r, die/r in solchen psychotisierten
Weltzusammenhängen versucht, ein erfülltes Leben zustande zu bringen, an
mehreren Fronten gleichzeitig zu kämpfen hat. Manchmal drängte sich das Gefühl
auf, als hätten wir an einem Heilsgeschehen teil. Als mussten wir die Welt in
unseren subjektiven Zusammenhängen ein wenig von dem Lügengespinst erlösen, das
sie zusammenhielt, wenn wir überhaupt etwas zustande bringen wollten.“
„Auch diese Abschweifung nehme ich Ihnen nicht
übel“, er grinst breit vor sich hin. Ich beobachte nebenbei, wie er
kontrolliert, welche Unterlagen die Helferlein vor ihm auftürmen: „Aber wenn
wir uns schon in eschatologischen Zusammenhängen bewegen, hätte ich gern
gewusst, wie das zum erotischen Vollzug als der allmählichen Erschaffung junger
Götter passt?“
„Bei dieser Thematisierung sollten wir gleich
bei einer Liebe als Duell beginnen.“ Ich schaue ihn an, aber er wartet ab und
so beginne ich zu erklären: „In den Unterhaltungsmedien endet der Film oder
Roman mit einem Happy End, wenn die zwei sich gefunden haben: Dabei könnte es
jetzt richtig losgehen! Wenn sich die hinter den beiden wirkenden
Signifikantennetze aneinander abarbeiten, beginnt es erst spannend zu werden.
Der Imperativ meiner Vernichtung ist längst vor der Uniintrige in einer anderen
Ecke der Beamtenwelt ausgeheckt worden! Ich musste ganz schön viele Register
ziehen, um eine Beamtentochter in die Wirklichkeit jenseits der
verbalerotischen Phrasen zu entführen. Allerdings ist dieser Ansatz für meine
Begriffe diametral entgegengesetzt der Thematisierung der Archive. Der Computer
ist ursprünglich eine Junggesellenmaschine und wird als Universalprothese zum
Spielfeld für viele Leute, die nicht zum Leben vorgelassen worden sind und sich
dafür an den Surrogaten abstrampeln sollen. Der Unterschied ist, dass ich ihn
als Waffe eingesetzt habe, um die kulturschwulen Intrigen auszuhebeln. Der
Zauberspruch unserer Postmoderne heißt: Verwenden! Wir haben enorme
Möglichkeiten und ein unauslotbares Repertoire, wir müssen nur den Mut
aufbringen, die entscheidenden Dinge oder Einsichten in den entsprechenden
Zusammenhängen richtig zu verwenden! Das setzt eine rigorose Zeitökonomie
voraus – und natürlich die richtige Lustpolitik. Vielleicht ist das erst
jemandem möglich, der keine Rücksichten auf Verwandtschaftsbeziehungen,
symbolische und pekuniäre Abhängigkeiten nehmen muss. Vielleicht war das
einzige Plus, das ich in dieses Spiel einbringen konnte, auf niemanden
Rücksicht zu nehmen, mich nicht verbiegen zu müssen. Mal abgesehen von einem
anderen Zeitverständnis, das die Wenigsten auch nur nachvollziehen konnten.“
„Damit haben wir aber einen ganz spezifischen
Bezug“, wirft Bornhardt ein: „Eine inverse Vorgehensweise, wenn die Regeln der
Normalität rückwärts buchstabiert werden. Sie haben den Zugang zu den Archiven
für Ihren Zweck entwendet und eine Junggesellenmaschine für die Gewährleistung
der Intensitäten der gegenseitigen Zuwendung missbraucht; Sie haben sogar die
Pornographie in den Dienst der Beziehungsarbeit gestellt. Allerdings sollten
Sie mittlerweile sehen, wie Ihr Schema einer Liebe als Duell zu einem
rücksichtslosen Verfahren des Machterwerbs werden musste! Nach diesen Jahren
sollte immerhin nachvollziehbar sein, wie Sie ihre Freundin auf ein Machtlevel
gehievt haben, für das sie nicht ausgestattet war und das sie nun, unter ihren
improvisierten und schludrigen Anleitungen, learning by doing, in einer Tour de
Force bewältigen musste.“
„Quick and dirty, das ist richtig, häufig
genug geht es gar nicht anders! Wer sich heute ein Ziel setzt und alles zu
dessen Verwirklichung einsetzt, rennt der Wirklichkeit nur hinterher. Es ist
viel erfolgsversprechender, mehrere Ziele gleichzeitig anzuvisieren und sich
von keiner Methode gängeln zu lassen – oft genug stellt sich der Erfolg erst
dann ein, wenn man wachsam genug ist, im richtigen Augenblick die Chancen des
Unvorhergesehen zu nutzen. Entscheidend war, dass ich auf eine Zeitkonzeption
der körperlichen Rhythmen setzte, mich also bei den wesentlichen Entscheidungen
von einem Prozess tragen ließ, der vor die Zeit der Uhren zurückreicht – und
außerdem gewisse Wahrheiten in ihr Recht versetzte, die einmal meiner Freundin
als Prämie gedient hatten, mich im Bett zu resozialisieren und von den
verschiedenen Abhängigkeiten zu heilen. Zum einen konnte ich also an gemeinsame
Erfahrungen unserer ersten Verliebtheit anknüpfen: Also das Hier und Jetzt mit
Intensität laden. Und zum andern hatte sie alle Argumente zur Hand, sich
zusammen mit mir auf den gemeinsamen Kampf gegen ein Behinderungssystem einzulassen.“
Jetzt ist Albach da: „Das klingt viel zu
harmlos – tatsächlich hatten Sie sich doch in der Funktion eines Zuhälters
eingeschrieben – Sie schickten diese Frau in die entsprechenden
Bewährungsproben. Und das nur, weil Sie sich nicht in der Lage fühlten, einen
ganz normalen Beruf oder gar eine Beamtenlaufbahn einzuschlagen.“
„Das ist die falsche Perspektive von
Schmarotzern und nachgemachten Menschen – obwohl es sicher richtig ist, dass es
alle gern so gesehen hätten. Richtig ist, dass die Normalität für mich ein
Fluch war: An meinen Eltern hatte ich gesehen, wie die Normalen immer nur einem
Durchschnittswert hinterher hecheln und eine ungeheure Angst davor haben,
jemand könne bemerken, wie wenig Substanz sie mitbringen – die Normalität ist
eine Simulationsveranstaltung, also tatsächlich nur Fake. Der Normalverbraucher
repräsentiert nicht die Norm, sondern er verbraucht sie – nur deshalb müssen
ihm oder ihr ständig neue Klischees zur Nachahmung geliefert werden. Damit
verkümmert die Selbstdarstellung zu einer Form von Beschäftigungstherapie, die
Repertoires einer erfüllenden Beziehung gehorchen einem Maximum an Unwahrscheinlichkeit.
Wenn die Angst die Mutter der Methode ist, die eigenen Sehnsüchte und Erwartungen
auszuhalten, verwundert es nicht, wenn die sozialen Medien eine Form der Erregungsverarbeitung
ermöglichen, die auf den symbolischen Tausch von Intensitäten und
Körperflüssigkeiten weitgehend verzichtet. Aber genauso richtig ist es, dass an
den Rändern der gesellschaftlichen Entwicklung, in der Halbwelt und der
Drogenszene, auf vorbürgerliche Formen des symbolischen Tauschs rekurriert
wird, die ganz andere Wahrheitswerte transportieren, wenn man nur in der Lage
ist, sich darauf einzulassen. Schon deshalb ist das Bild des Zuhälters unangebracht.
Es entspricht vielmehr dem, was meine selbsternannten Gegner als letzte
Verstrickung für mich reserviert hatten. Kennzeichnend ist, dass das
Professorenehepaar mit den Selbstdarstellungsformen der Halbwelt spielte und in
mancher Interpretation die Droge als Erkenntnismittel idealisierte. Vergleichende
Literaturwissenschaft arbeitet sich im besten Fall an Ersatzintensitäten ab,
während ich nach meiner Verführung für einige Zeit meine Jugend verkauft habe.
Das war eine Chance, den Selbstzerstörungsmechanismen meiner Elternwelt zu
entkommen, aber es war mit gefährlichen Nebenwirkungen verbunden. Erst dank der
Begegnung mit der Beamtentochter wollte ich nichts mehr mit den Netzwerken des
Päderasten oder dem Umfeld von Theater und Süddeutschem Rundfunks zu tun haben,
und als es im Bett richtig klappte, wurden die Drogen unwichtig. Das war schon
wieder ein Bruch in meiner Biographie. Zu Zeiten der Intrige war mir aufgrund
der vergangenen Erfahrungen klar, warum ich als Zuhälter die energetischen
Bindungen zerstört und alles verraten hätte, was mir wichtig war.“
„Das liegt doch aber nahe.“ Albach gibt nicht
nach, als Literaturwissenschaftler kennt er sich mit dem Thema aus: „Wenn
jemand eine so schöne Frau hat, wird er, wie die Weltgeschichte zeigt, in der
Not die Schönheit instrumentalisieren!“
„Damit verkennen Sie den Motor dieser Liebe
als Duell! Wir haben uns gewissen Extremerfahrungen ausgesetzt: Sie mich, weil
sie sehen wollte, was ich aushalte und ich sie, weil ich hoffte, dass sie was
daraus lernt. Wenn ich Baudrillard variiere, setzt eine Duellbeziehung den
ökonomischen Tausch außer Kraft. Bolz beschreibt in ‚Das konsumistische
Manifest‘, wie es der Geldwirtschaft zu verdanken ist, dass aus unversöhnlichen
Rivalen Verhandlungspartner auf dem Markt werden, dass die Vorherrschaft des
ökonomischen Tausches Stammesfehden aushebelt und den Krieg als Vater aller
Dinge kastriert – das asketische Modell der protestantischen Ethik kurbelt die
Geldströme auf Kosten der hormonellen Säfte an. Aber auch hier ist eine
supplementäre Korrektur möglich, die im Nachhinein wie nebenbei das gesamte
Relationsgefüge verändert und damit die Gegenwart der Vergangenheit
umformatiert. Auf einmal tauschen wir nicht nur Säfte und hormonell
unterfütterte Besetzungen, sondern Wechsel auf eine gemeinsame Zukunft,
Zahlungsanweisungen auf künftige Hoffnungen und Erwartungen. Dann geht es nicht
mehr um Umsatz, Zinsen oder Gewinne, sondern im besten Fall der jauchzenden
Selbstverschwendung wird der symbolische Tausch wieder in sein ursprüngliches
Recht versetzt. Anders als es Bolz darlegt, der die lacansche Resignationsformel
für das Verhältnis der Geschlechter mit der Behauptung unterschreibt: Es kann
einfach nicht gehen! Wenn das Begehren immer das Begehren des anderen ist, soll
das Scheitern schon darin begründet liegen, eine Anerkennung unseres Begehrens zu
erwarten. Ein vom Bild der bürgerlichen Persönlichkeit geprägtes Modell, dessen
Suche nach einer Ganzheit von narzisstischen Projektionen tatsächlich unmöglich
gemacht wird. Wenn ich allerdings davon ausgehe, dass Partialobjekte miteinander
spielen und im wechselseitigen Konsum einen gemeinsamen Wahrheitsgehalt
freisetzen, der jenseits des eingemauerten Subjekts in den interobjektiven
Wirkungsweisen eines evolutionären Geschehens verankert ist, muss ich mich
nicht auf Bilder und Projektionen zur Selbstvergewisserung zurückziehen. Der
Sex ist vorpersonell und hat, während er reziprok wird, Teil an der Erfahrung
des Göttlichen, das uns in der Welt und nicht in ihrem Jenseits begegnet. Wenn
diese sich im Feld des symbolischen Tauschs entfaltet, ergeben sich
unmittelbare Zugänge zu den Lebendigkeiten; es werden jene Intensitäten
freigesetzt, die uns von der Verstrickung in imaginäre Leidenschaften erlösen.
Erst die Bildwelten und Projektionen, die sich dem Verzicht und dem Tabu
verdanken, haben jene Charakterstruktur der Persönlichkeitsdarsteller geprägt,
der es auf den Besitz und die Verfügungsgewalt ankommt.“
„Aber Sie können bei einigen der größten
Theoretiker nachlesen“, fällt mir Bornhard ins Wort: „wie mit der Gewohnheit
die Leidenschaft schwindet und der Reiz des andern Körpers gegen Null geht,
wenn das Spiel nur genug wiederholt wird. Die Liebe lebt von der Sehnsucht, sie
wächst doch am Verzicht!“
„In der Literatur vielleicht, aber im Leben
wird sie so zur Tragödie! Wir brauchen ein energetisches Geschehen, das die
Liebe wach und aufmerksam erhält. Damit sind wir bei der Liebe als Duell.
Entscheidend ist eine Beziehung zwischen Gleichen, die sich nicht gleichen, ein
symbolischer Tausch, der die Reibungsenergien freisetzt und für ein
energetisches Spektakel sorgt, demgegenüber dem Narziss die Luft ausgeht. Ab
einer gewissen Spannung springen die Funken über und mit der nötigen Übung wird
eine Ranghöhe erreicht, die Geistesblitze freisetzen kann. Es ist eben nicht
nur die Verzweiflung oder die extreme Ausgeliefertheit, die zum
Wirkungsgeschehen Schneller Brüter führen: Das die körpereigenen Drogen
befördernde Spiel mit den Partialobjekten kommt zu ähnlichen Ergebnissen. Eben
weil der Tod der Spieleinsatz des symbolischen Tauschs ist, kann der Sex als
l’art pour l’art und kleiner Tod die Duellbeziehung außer Kraft setzen: Wenn er
nicht der Alimentation oder dem Bemächtigungswahn gehorcht, sondern der Selbstverschwendung
dient.“
„Sie wollen also damit sagen, dass der kleine
Tod komplementär zur Todessehnsucht derer ist, die sich auf die Botschaft
eingelassen haben, es könne zwischen den Geschlechtern einfach nicht klappen!“
Ich weiß noch nicht wo sie hin will, aber Bornhard sieht schelmisch aus:
„Schließlich haben die Gesetzmäßigkeiten des sozialen Todes immer wieder in den
verschiedensten esoterischen Nischen überwintert, um in den epidemischen
Kriegsbegeisterungen in schöner Regelmäßigkeit den Bann zu brechen und die
Normalität zu überfluten!“
„Die Todessehnsucht ist mit Sicherheit eine Deckadresse
für das uneingestehbare Bedürfnis, die Interpretationsanweisungen eines
sozialen Körpers zu suspendieren, im Extrem, den sozialen Körper zu verlassen.“
Ich unterstreiche, warum in diesem Feld die Gegensätze ganz nah beieinander liegen:
„Das ist immer ein Resultat der Erfahrung der Sinnlosigkeit des eigenen Lebens.
Tatsächlich kann an diesem Punkt des Umschlags das Maximum an Sinnleere
umkippen in eine bis gerade noch nicht vorstellbare Sinnfülle. Schon der Humor
liefert ein modellhaftes Schema. Wir verfügen über das der Angst und
Verzweiflung innewohnende Vermögen der Heilung, wenn die Zerrissenheit der Welt
offensichtlich wird. Mit der Erfahrung des sozialen Todes arbeitet sich die
Katharsis der Katastrophe an den eigenen Verwicklungen, den verkorksten
Rücksichtnahmen ab. Bis dahin wird jede Erfahrung, die mit archaischer Autorität
auftritt tabuisiert und stillgestellt, sie taucht vielleicht noch im Traum oder
den multimedialen Konstrukten der Unverbindlichkeit auf. Man muss sich nur beschissen
genug fühlen und völlig am Ende sein: Als mir jene Gewalten begegnet sind, hieß
es, die Spannung urweltlicher Kräfte zu halten, die Assoziationsmuster
durchzuarbeiten, bis die Geistesblitze zündeten. Nur ein befriedigter, mit sich
einiger Körperbezug ist in der Lage, diese Kräfte zu akkumulieren, ohne die
Energie in Kurzschlüssen abzufahren. Wenn alles auf dem Spiel steht, können auf
einmal Kleinigkeiten bedeutsam werden und eine gewaltige Ruhe und Stärke
verleihen. Die körpereigenen Drogen machen aus dem Elend und der
Ausgeliefertheit, wie schon vor Jahrtausenden, das Sprungbrett eines neuen
Glaubens – und wenn es der Glaube an die göttlichen Kräfte ist, die wir in den
Grenzerfahrungen freisetzen. Dies scheint den Sozialisationsagenten des
Realitätsprinzips bedrohlich, während die Unterhaltungsindustrie systematisch
an der Symbolisierung dieser endorphinen Ventile arbeitet, um damit Umsätze
freizusetzen und zugleich ihre Irrealisierung zu befördern. Also liegt doch
eine einfache Schlussfolgerung nahe: Wo es möglich ist, den umfassendsten und
sinnleersten Signifikanten auszuwerfen, das Geld, kann es in einem ganz anderen
Maße möglich sein, Sinn und Harmonie für ein eigenes Leben zu stiften. Die
ursprüngliche Stimmigkeit, dass etwas sitzt und passt und ineinander greift, liefert
die notwendige Voraussetzung, damit es besser flutscht. Die sich ergebenden
Harmonien sind die Grundlage aller späteren Sinnentwürfe. Gerade weil es nicht
anders ging, begann ich zu einem Zeitpunkt Geld zu machen, an dem meine
selbsternannten Gegner davon ausgingen, dass sie alle Einnahmequellen
kontrolliert oder verstopft hatten. Die Voraussetzung war, sich nicht um den
Sinn oder die Rechtfertigung zu kümmern, sondern sich auf den Markt einzustellen,
die Gier für uns arbeiten zu lassen: Den Sinn hatten wir schließlich im Bett
erarbeitet.“
„Ich finde das
ekelig und machohaft“, wirft Wolhe ein: „Sie können nicht für beide
Geschlechter sprechen, nur weil sie sich einmal vorgenommen hatten, das
Paradies zu ervögeln. Das kann nicht die Lösung sein, wenn sich das eine
Geschlecht ständig an der Vergewaltigung des anderen gesund stößt. Was ist am
Körper eines fremden Menschen jenseits des hormonellen Kicks überhaupt
anziehend oder begehrenswert? Wir wollen doch gar nichts von einander! Was
zustande kommt, beruht auf einem bedauerlichen Irrtum. Tatsächlich ist doch
jeder Geschlechtsakt eine Vergewaltigung!“
„Kein Problem, wenn Sie sich künstlich
befruchten lassen, haben Sie ihre Bestimmung als Frau bereits erreicht! Sie
erzeugen dann ein so vollständig auf Ihre Macht angewiesenes Wesen, dass sich
die Frage nach dem Sinn für die nächsten zwei Jahrzehnte nicht mehr stellt. Und
außerdem suspendiert diese Form der Inkompetenzkompensationskompetenz den
tatsächlichen Bereich der weiblichen Macht – zu dem frau allerdings nur mit der
entsprechenden Attraktivität zugelassen wird.“
„Das ist keine Antwort auf meine Frage!“
reagiert Wolhe pikiert. Sie weist damit jede Anmutung zurück, der Mangel an
Attraktivität wäre ihr Motor der Verleugnung eines sexuellen Geschehens, das
sie lediglich im Modus des Sexualneids erahnt.
„Das ist ein Prozess, der nur dann erfolgreich
abläuft, wenn es gelingt, das Bestreben nach Macht zu suspendieren. Also üben,
üben und nochmals üben. Auch der Verführung geht es nur um die Macht, auch das
Begehren, das sich weitgehend der Angstbewältigung verdankt, bestätigt nur das
Streben nach Macht, während der reine Sex das Begehren löscht und uns in einer
heiteren Gelassenheit zurücklässt. Für eine konfliktuelle Verfassung, in der
vor allem zählt, was die Angst klein hält und einen Anlass zur
Selbstinszenierung mit sich bringt, ist die postkoitale Frustration eine
logische Folge. Löschen Sie dagegen den konfliktuellen Bezug, sich am Wunsch
des anderen aufzuladen, befähigt der Vollzug zu einem umfassenden Ja. Der
symbolische Tausch liefert keine Ware gegen Geld, sondern energetische
Besetzungen gegen Aufmerksamkeit und im besten Fall werden die Empfindungen zu
einem Fundus werthaltiger Bedeutungen. Wenn Bolz einen Weltzustand beschreibt,
in dem man vernünftigerweise von der Tatsache auszugehen habe, dass es keine Tatsachen
gibt, so unterstreicht dies, warum ein jeglicher Wert nur im Status des Als-ob
zu denken ist. Diese Voraussetzung, die Tag für Tag von der Theologie des
Marktes und der Sinnstiftung durch Konsum eingehämmert wird, ist das psychologische
Fundament des Normalverbrauchers. Die Notwendigkeit der Selbstdarstellung ist
eine Steigerungsform der Abwesenheitsdressur und treibt die Gier ins
Immaterielle. Der neidische Vergleich mit den anderen überwuchert die
erfüllbaren Bedürfnisse und reduziert sie auf den Motor aller Machtspiele: Das
Ich-bin-wichtig.“
„Ich habe das Gefühl, Sie weichen ins
Theoretische aus“, unterbricht Albach und versucht mich mit dem kalten, starren
Blick eines Reptils zu irritieren: „Das Geld soll den Menschen von allen
unschönen Begleiterscheinungen des Menschlichen entlasten. Mit dieser
Systemanalyse liegt Bolz völlig richtig. Ich denke, ein Großteil ihrer Probleme
war den Machtansprüchen der Elterngeneration zu verdanken – Ihre Probleme wären zu lösen gewesen, wenn Sie
genügend Geld gehabt oder zu diesem Zweck die Schönheit der Frau
instrumentalisiert hätten. Dafür gibt es genügend Beispiele!“
„Ich durfte die Frau nicht verlieren, ich hatte
bis dahin alles Erdenkliche getan, um sie zu gewinnen!“ Ich schaue mir seine Pinselwarzen
gedankenverloren an und wundere mich, warum er sich solche Mühe gibt, mir den
Imperativ einiger Geisteswissenschaftler unterzujubeln. Nachdem er mit einer
Reederstochter in ein Vermögen eingeheiratet hat, hätte er sich nirgendwo
anbiedern und nichts machen müssen. Aber anscheinend hat er ein Gegengewicht
nötig, um sich im Familienverband behaupten zu können. „Das ist ganz einfach.
Ich wollte die Frau nicht platt machen, sondern überzeugen! Ich wollte ihr
zeigen, dass es besser war, sich auf jemanden einzulassen, der sich hundert
Prozent investierte, als dem Imperativ ihrer Eltern zu folgen, der gelautet
hatte: ‚Bei deinem Aussehen hätte ich jeden Tag einen anderen!‘
Also verausgabte ich mich, damit nichts mehr von dem zurückblieb, was der
kleine Musik als Familienkrüppel einmal gewesen war.“
„OK,
damit sind wir bei der Wirkungsmacht des Signifikantennetzes der Familie ihrer
Lebensgefährtin. Von hier aus wird der Duellbegriff stimmig. Der Großvater hatte
es in der Rolle eines Publizisten als Herausgeber eines Naziblättchens immerhin
soweit gebracht, zusammen mit Goebbels abgelichtet zu werden. Sie hatten einen
dieser alten Drucke in der Hand aber nicht eine Sekunde daran gedacht, den
Widerstand gegen eine Beamtenkarriere auf diese Traditionslinie zu beziehen.
Einer der Onkel ihrer Frau war als Globetrotter zum Berater
Ceausescus geworden, ein anderer
Russischprofessor in der DDR. Das existierte für Sie alles einfach
nicht. Aber nach und nach ist Ihnen vielleicht in manchen Situationen
klar geworden, dass selbst diese Karrieren noch immer eine Kapazität
voraussetzten, an der es bei Ihnen mangelte!“
„Das
haben Sie schön auf den Nenner gebracht“, unterbreche ich ihn: „Mal abgesehen
davon, dass mir diese Informationen entweder so präsentiert worden waren, dass
ich sie nicht gespeichert habe oder erst Jahre nach meiner Vertretung auf der
Bank zur Kenntnis nehmen konnte.“
„Haben Sie einmal besprochen, was das
überhaupt hieß, als Ihr künftiger Schwiegervater, nachdem Sie sich
sterilisieren ließen, getönt hat: ‚Das Kind kann meine Tochter auch von einem
anderen bekommen‘?“ Er zieht sich auf diese harmlosere Argumentation zurück, um
seinen Fauxpas vergessen zu machen: „Wenn der mögliche Partner einen
Schutzschild gegenüber den elterlichen Imperative darstellt, ist dies doch eine
ganz perverse Manipulation. Damit wird eine angebliche Emanzipation empfohlen,
um die lebenslange Abhängigkeit zu erhalten!“
„Das war einfach zu verstehen, wir
beschäftigten uns nicht weiter damit. Dieser SPD-wählende Beamte hatte mit
allen Tricks daran gearbeitet, die eigene Tochter in eine Nutte zu verwandeln,
um zu schmarotzen und seine Stillstellung auszuhalten. Dazu hatte ich sicher
nichts beizutragen – ich nutzte jede Gelegenheit, den Alten unter die Nase zu
reiben, warum ihre Verbalerotik nicht mehr als eine Einwilligung in den
Verzicht war. Zudem gab es unter den Kollegen Ehepaare, denen vergleichbares
gelungen war, die zumindest drogenabhängige Söhne oder magersüchtige Töchter
zustande gebracht hatten. Was ich in diesem Kontext mitbekommen habe, war
abstoßend und uninteressant. Wenn die Antriebshemmung zum Motor des
Realitätsprinzips ernannt wird, ist das Leben verloren, bevor es überhaupt
begonnen hat. Aber diese Einflüsse haben dazu beigetragen, einige Analysen auf
der Uni einzubringen, die manchen Bildungsbeamten hellhörig machten. Sie
sollten mir den Weg in eine geordnete Laufbahn in der Wissensgesellschaft
gründlich verbauen.“
„Damit ändern sich aber alle ursprünglichen
Setzungen: Sie galten als elitärer und eingebildeter Depp, der sich nicht mit
Normalstudenten unterhielt und von Professoren umworben wurde.“
„Ich war aufgrund meiner Vergangenheit extrem
entfremdet. Es war mir nicht möglich, mein Selbstwertgefühl durch die Identifikation
mit irgendwelchen Gruppen oder Bewunderern aufzubauen. Zudem war ich so gut wie
verstummt; ich las, um mich dank eines Repertoires treffender Zitate in einer Position
des Abwartens zu halten – aber wenn ich auf den alternativen Bodensatz schaute,
der mir einmal wichtig war, kam ich mir schon tot vor. Wenn mir Studenten aus
gutem Hause, Kinder von Beamten, die wieder Beamte werden wollten, erzählten, wie
sie auf der Uni einen richtig eigenen Lebensstil gefunden hatten, musste ich
nur ein paar Anekdoten aus meiner Vergangenheit als Stricher und Flippie oder
Dealer anklingen lasen und der pseudoalternative Firnis bröckelte. Von da ab
wurde kolportiert, ich sei kommunikationsgestört: Die Wirklichkeit, die dieser
Beamtennachwuchs aushielt, hatte nichts mit dem zu tun, was sie dann als
Streetworker und Sozialarbeiter oder als Lehrer später mit dem sogenannten
Praxisschock kennenlernten.“
„Und? – Was haben Sie anders gemacht?“
„Wir waren täglich drei Stunden mit den Hunden
unterwegs, so bekam der Körper das nötige Futter an Sinnesdaten und Muskelinnervation.
Außerdem wurde das Prinzip Hoffnung am Leben gehalten, wenn wir regelmäßig
vögelten – aber von der Frage nach dem Sinn des ganzen Unternehmens hatte ich
mich verabschiedet. Ich las und machte mir Notizen, teilte den Tag so ein, dass
die Aufmerksamkeit durch den stündlichen Wechsel der Themen nicht erlahmte,
kochte zwischenrein oder ging einkaufen. Meine philosophischen Themen federte
ich durch Biologie, Ethnologie und Psychoanalyse ab und griff nebenbei auf
Systemtheorie und Kybernetik zurück. Die Frage nach dem Sinn des Lebens erwies
sich als Verführung zur Komplexitätsreduktion: Der Sinn war das Leben selbst!
Und jeder Fick ein krönender Höhepunkt, der vieles rechtfertigen konnte oder
aushalten ließ. Wir hatten erst einmal ohne es zu wissen die Gesetzmäßigkeiten
eines kosmogonischen Eros reaktualisiert, lebten nicht nur in den Konflikten
zwischen mehreren Welten, sondern in jener Zwischenwelt, die Platon
gekennzeichnet hatte, als er den Eros als jene Kraft definierte, die in die
Existenz eine Bewegung von der körperlichen Unvollkommenheit zur energetischen
Präsenz des Göttlichen eingeschrieben hat. Das erotische Verlangen ließ uns an
der allmählichen Verfertigung junger Götter beteiligt sein. Alles andere waren
mehr oder weniger erfolgreiche Anstrengungen, eine leere Zeit zu überbrücken,
bis die nächste Vergegenwärtigung des Göttlichen in Angriff zu nehmen war. Wer
einmal erfahren hat, wie der Augenblick mit Unendlichkeit gesättigt wird, spart
sich die Prosa verwaltender Umstandskrämer.“
„Moment einmal, ich will mich jetzt nicht auf
das Spiel mit mittelalterlichen Theologumena einlassen.“ Der Moderator versucht
das Thema abzuwürgen.
„Was wollen Sie im Mittelalter? Wenn Sie die
späten Schriften Kittlers lesen, stoßen Sie auf genau diesen
Begründungszusammenhang. Der Traum der griechischen Philosophie, über das in
der Wahrnehmung des Schönen zu erfahrende Identische an das ideelle Eine
heranzukommen und damit am Göttlichen teilzuhaben, lässt sich auf einer relationalen
Ebene weitgehend nachvollziehen – aus diesem Grunde ist an genau jener
Schaltstelle der kulturellen Entwicklungen anzuknüpfen. In Kittlers ‚Musik und
Mathematik‘ wird auf den Nenner gebracht, dass die Musik dazu einlädt, in der
Liebe Götter nachzuahmen: Mit dem nötigen Quantum Lebenslust und unsublimierter
Schöpferkraft kann es gelingen, außerhalb der Asyle der Kunst und der
Wissenschaft an der Schöpfung teilzuhaben. Wenn für das Interesse an den
Rhythmen sogar an Thales oder Kroton zu erinnern ist, so deshalb, weil jede
Harmonie der Bildung jenes seelischen Bereichs dient, in dem die Triebe und
Affekte zu Hause sind. So wie heute wieder deutlich wird, dass die Triebe vorpersonell
sind, dass die Affekte von außen ins Innere aufgenommen werden, dass es ein
frommer Wunsch gewesen ist, von einem Privatbesitz der Innerlichkeit auszugehen,
war der Mensch für Platon in der Triebsphäre kein Individuum, sondern eine
Relation zwischen anonymen Einflüssen. Gehen wir noch ein wenig weiter zurück,
vor die Sublimationsanstrengung der platonischen Philosophie, so haben wir den
geschichtlichen Ursprung seiner Lehre von den Trieben in den dämonischen
Mächten der alten Religion, vor denen der Mensch sich zu schützen versucht und
denen er immer wieder ausgeliefert ist. In diesem Zusammenhang bekommt die
Musik eine universelle Bedeutung, die wir bei allen magischen Kulturen finden.
Sie hat die dämonischen Gewalten, aus denen die Götter der Hochreligion nach
und nach gebildet wurden, zu beschwören und zu bannen, anzurufen oder
abzuwehren. Bei Picht sind die Eigenschaften der Musik gekennzeichnet: Der
Mensch verdanke ihrer heilenden Macht die Sicherung eines humanen Bereichs, der
ihn vor der Übermacht der anonymen Gewalten bewahrt. So kann man zum einen
sagen, die Griechen haben in einem enormen Prozess der Vergeistigung dafür
gesorgt, die Urgewalten ihres dämonischen Wesens zu entkleiden, um daraus
Seelenvermögen zu machen. Jener Bereich, den wir in der Tradition der Mystik
als Innerlichkeit zu erleben gewohnt sind, aus dem die Selbstversicherung des
bürgerlichen Ichs hervorgegangen ist, ist nichts anderes als das gebannte
Pandämonium der alten magischen Religionen. Wenn das aber erst einmal erkannt
ist – und das Freudsche Unternehmen hat wesentlich dazu beigetragen –, wird klar,
dass es keinen großen Unterschied macht, ob der Mensch die Gefahren, die ihn
bedrohen, als innere oder als äußere Gewalten erfährt: Es ist die gleiche
Erfahrung der Bedrohung und Überwältigung.“
„Das sollten wir noch genauer wissen“, wirft
Albach ein: „Vor allem in einer aktuellen Form! Das ist Bücherwissen, fein
gesponnene Spekulation frei nach Whitehead. Aber was hilft das jemandem, der
täglich acht Stunden im Büro am Telefon hängt und ein dafür notwendiges Wissen
mit einer Halbwertzeit von wenigen Minuten aus dem Computer bezieht.“
„Ich habe bis zur Erschöpfung telefoniert!
Wenn ein Mensch die nötige Substanz erwirbt, also nicht nur als depperter
Schauspieler seines Selbstwertgefühls über den Umweg der anderen gelten will,
ist das genau an jenem Ausgangspunkt zu sehen, an dem Erleuchtung und Orgasmus
identisch sind! Authentizität beginnt, wenn es uns gelingt, das Begehren zu löschen!“
„Und genau hier sollten wir ansetzen…“ müde
lässt sich Charlus im Hintergrund vernehmen: „Nur weil Sie
Musik heißen, geben wir uns mit der Absicherung bei einer antiquierten
Tradition nicht zufrieden.“
„Ja natürlich! In
den vergangenen Jahren haben in der Massenunterhaltung Vampire und Mutanten
eine solche Bedeutung gewonnen, weil sie für einen Wahrheitsgehalt stehen. In
diese Nischen der Sehnsucht, der subliminalen Wahrnehmung in der Zerstreuung,
ist die menschheitsgeschichtliche Gewissheit ausgewandert, dass wir mehr sind,
als festgestellte und normierte Herdentiere, dass wir auf der Suche nach
Lebendigkeiten sind, dass wir in Verbindung mit den Ursprungsgewalten unsere
Grenzen sprengen können. Der wichtigste Zugang zum Heiligen und der Motor aller
Verwandlung ist die Sexualität – sie liefert die Öffnungen jenseits der
Bedingtheiten unserer individuellen Grenzen. Die in extensiven Augenblicken
erreichte energetische Einheit ist ein Geschehen, das sich der sprachlichen
Erfassung entzieht, es ist nicht zu fixieren und verklingt mit der Zeit. Also
braucht es die notwendige Übung und Geduld, um ein volles Sprechen auszuarbeiten,
mit dem die energetische Deixis nach und nach umspielt und in Dienst genommen
werden kann. In der Beziehungsarbeit entsteht jene Frustrationstoleranz, dank
der Verzicht und Ersatzleistung mit der Zeit zu ihrer eigenen Aufhebung
beitragen. Tatsächlich haben wir immer wieder einen Status der kraftvollen,
unwiderstehlichen Harmonien erreicht, die die Echtheit des umfassenden Es-ist
auf einen Nenner bringen konnten.“
„Das führt uns zum gegenwärtigen Zeitpunkt
noch in eine Sackgasse“, beharrt der Moderator: „Die von Ihnen gekennzeichnete
zeitliche Verschränkung erinnert doch vielmehr an das frühere Spiel mit
chemischen Ekstasen, den Turbulenzen der Peptide im Unendlichen. Damit sind wir
aber gewaltig nah an der Welt der Komplexitätsreduktion eines Süchtigen!“
„Das mag sein, nur hat mich der Sex einst von
meinen Süchten erlöst. Jede Sucht steigert die Komplexitätsreduktion, um die
Ängste auszuklammern, die die Begegnung mit den anderen freisetzt. In der
ersten Verliebtheit geschieht nicht viel anderes, wenn die Projektionen unserer
Bedürfnisse die Wirklichkeit des Gegenübers überlagern. Allerdings beinhaltet
dies die Chance, das Gegenüber kennenzulernen. In der Folge kann uns ein
spielerisch tastendes Verhalten in die Lage versetzen, uns im anderen zu
verlieren und damit eine Offenheit für die Erfahrung des Hier und Jetzt
vorzubereiten. Normalität und Mitläufertum reduzieren eine als überkomplex
erfahrene Wirklichkeit auf die Minimallösung schwachsinniger Konventionen und
verdammen uns dazu, in einer Welt von Sensationen und Begeisterungen
aus zweiter Hand leben. Dabei wäre es ein leichtes, den multimedialen
Gebrauchtintensitätenvermittlern die Schlüssel zu entwenden, um erneut der
Echtheit der Überwältigung zu begegnen. Gegen dieses Fluchtverhalten in Abstumpfung
und Resignation pflegten wir die aufmerksame Entdeckerfreude der kindlichen
Intelligenz. Wir konnten uns daran üben, die Erfahrung eines Zustands in Bilder
und Worte und Gefühle umzugießen, den wir jenseits der Symbolisierung erfuhren.
Das ging nicht als Übersetzung, die Unmittelbarkeit des Hier und Jetzt der
Präsenz war kein zeichentheoretisches Unterfangen. Es ging also nur durch
geduldiges Üben und durch die Ausbildung von Routinen, die sich von der
Kontrollinstanz des Bewusstseins unabhängig machen konnten.“
„Sie weichen aus!“ versucht Albach zu
unterstellen und wirbt zugleich um meine Aufmerksamkeit: „Sind diese enormen
Umwege vielleicht nötig, weil Sie von meiner Unterstellung der Rolle eines
Zuhälters ablenken wollen?“
„Ich denke, wir argumentieren auf zwei ganz
verschiedenen Ebenen. Ab einem gewissen Zeitpunkt lebte ich nur noch dank
dieser Frau, für sie hätte ich mein Leben gegeben – denn ohne sie hätte ich
mich einfach fallen lassen und darauf gewartet, bis in dieser schwachsinnigen
Welt, für die ich mich niemals freiwillig entschieden hätte, das Licht ausging.
Wir ziehen unsere Kraft nicht aus der Egozentrik, sondern wir gewinnen sie,
wenn wir uns im anderen verlieren, wenn wir alles für jemanden investieren, den
wir lieben.“
„Das war einmal ein Mythos, der heute zum
Motor vieler Werbestrategien geworden ist!“ Kein Wunder, fühlt Wolhe sich in
diesem Zusammenhang berufen: „Sie müssen mir erst einmal beweisen, warum die
Paarbildung für ein wirklich gebildetes Individuum mehr bringen soll, als die
Freude an der Selbstentfaltung!“ Zuckersüß und verlogen, aber es bleibt der
bittere Nachgeschmack von billigem Süßstoff.
„Ich muss sicher nichts beweisen, das mag Ihr
Problem sein. Der Bezug der Macht auf das Verhältnis der
Geschlechter variiert nur die Wahrheitswerte des Verzichts und der Surrogate.
Wenn die Akkumulation von Macht vom Verzicht auf eine entgrenzende Lustpolitik
abhängt, bietet sich die Frage nach den Grundlagen der Gesetzmäßigkeiten des
Paares an. Wie Max Bense mir beigebracht hat, müssen wir immer wieder bis drei
zählen können. Für die Semiotik ist die ursprüngliche Einheit die Zwei und zwar
als Triade! Es muss eine Vermittlung zwischen den Geschlechtern stattfinden,
die Funktion des Eros besteht darin, wie Fellmann überzeugend für eine philosophische
Anthropologie zeigte, ein Verhältnis der Geschlechter herzustellen. Die
Wirklichkeit der erotischen Liebe ist reicher als alle Sinngebungen, und sie
entzieht sich dem zweckrationalen Handeln: Sie braucht kein fremdes Ziel, weil
sie ihr eigener Beweis ist. Die Lust ist die einzige Sprache, die beide
Geschlechter unmittelbar verstehen, weil sie die Erfahrung vermittelt, dass
jeder Subjekt und Objekt zugleich ist. Der Eros erscheint als der einzige Weg,
die narzisstische Einkapselung des Menschen zu überwinden. Dazu braucht es den
Schutzschild eines Dritten gegen die gierigen Besitzansprüche der Mutter, die
dafür sorgen möchte, dass später keine/m der Zugriff auf ihren Ableger gelingt.
Schon in Nachgeburt und Doppelgänger ist dieser Dritte präfiguriert, wie
Sloterdijks umfangreiche Abschweifungen in den ‚Sphären‘ erwiesen. Gegen ein
klassisches Identitätskonzept ist mit Harmonien zu operieren, also mit
dreiklängigen Relationssystemen, die jenseits des Einen und der Eins sind. Erst
durch eine/n Partner/in werden wir in die Lage versetzt, wirklich ins Leben zu
treten: Die Essenz der Tragödie taucht in der Erfahrung der Liebe als Duell
wieder auf! Es ist die Mutterschaft, der wir das Prinzip verdanken: Ich schenke
dir, was Du gar nicht haben wolltest, weil ich damit meine haltlose Position
auszuhalten weiß. Und dann erwarte ich, dass Du ehrfürchtig genug bist, nichts
mit dem Geschenk anzufangen! – Dank der Beziehungsarbeit können wir diese
tödliche Gabe der Pandora zurückweisen: Es ist immer wieder die erste Frau, die
dafür sorgen soll, dass die Menschen nicht bis zum Leben vorgelassen werden.“
„Eben das bezweifele
ich!“ Wenn sie nur ein bisschen diffundiert, braucht Wolhe nicht aufzugeben, sie
kann mir den schwarzen Peter der Begründung unterjubeln: „Die Mythen stehen im
Rechtfertigungszusammenhang des patriarchalischen Weltbilds. Und der ist
unbestritten eine Denk- und Erfahrungsbehinderung, die letztlich darauf hinausläuft,
dass der Mensch als Mann meint, alle Fraglichkeiten und Begegnungen durch
Unterwerfung zu regeln. Das ist heute erledigt, damit müssen wir uns nicht mehr
beschäftigen!“
„Über den Wahrheitsgehalt der Mythen gibt es
die verschiedensten Statements. Ich darf Sie an die Arbeiten von Jessica
Benjamin erinnern – dort könnten Sie den Fundus ihrer Argumentation aufrüsten.
Der Mythos transportiert vielleicht keinen fixierten Wahrheitsgehalt, aber
Bedeutsamkeiten, also die entsprechenden Variablen, die dann in den jeweiligen
Lebenssituationen mit konkreten Bedeutungen aufgefüllt werden. Gelegentlich höre
ich noch Popmusik, und wenn ich das ansehe, was sich in einem halben
Jahrhundert angesammelt hat, so ist nicht nur eine Entwicklung vom einfachen
Rock’n Roll zu psychedelischer Musik oder symphonischen Pop nachzuvollziehen.
Alle Märchen und Mythen wurden verwurstet, alle Stilrichtungen und Komponisten
wurden zitiert. Wenn ich die richtigen Stücke raussuche, kann ich an den
Wandlungen einer Liebesvorstellung teilnehmen, die sich von der
egozentristischen Selbstbefriedigungsmanie bis zu den Geheimnissen des Tantra
und einer transpersonalen Erotik entwickelt. In der Massenunterhaltung finden
wir oft authentischere Dokumentationen des psychischen State of the Art als in
den sozialpsychologischen Statistiken. Es ist schon anderen aufgefallen, wie
gerade in Extremsituationen die Wirklichkeit nicht mehr vom Comic Strip zu unterscheiden
ist. Eben weil die Mythen noch unverstellt und ohne Rücksicht auf den guten
Geschmack alles durch den Wolf drehen, was der postmodernen Bedürfnisstruktur
entspricht. Aber lassen Sie mich Albachs Vorwurf noch einmal aufnehmen: Als wir
wirklich keine Möglichkeiten mehr hatten und ich die Routinen eines
Anzeigenverkäufers am Telefon erarbeitete, war ich der Prostituierte. Wenn ich
Termine zustande brachte, um einen Auftrag über ein paar tausend Mark zu
schreiben, schickte mich meine Frau mit dem Imperativ hin, den Umsatz zu realisieren,
ganz egal, wie ich es diesen Arschlöchern zu besorgte. Ich schrieb die
Vertragsabschlüsse, solange es das Geld protziger Luxusgeschäfte und reicher Schwachköpfe war. Aber ich bestand nicht darauf, jemanden zu
schädigen, der es sich nicht leisten konnte, in einem Exklusivmagazin zu werben
und damit seine letzten Reserven zu verpulvern.“
„Das greift schon zu weit vor“, schaltet sich
der Moderator ein: „Vielleicht hatten Sie im Endeffekt etwas gut zu machen! Die
Entscheidung, die Habilitationsangebote im Sand verlaufen zu lassen,
verwirklichte doch nicht den Plan, ein freier Autor zu werden – genau dazu
hätten Sie die Unterstützung der Professoren benötigt.“
„Wer sagt denn, ich habe das einfach
entschieden?“ werfe ich ein: „Ich habe mich doch eher um eine Entscheidung
gedrückt, weil ich mich nicht in irgendwelche Abhängigkeiten verstricken
wollte. Ich ging davon aus, diese Bildungsbeamten würden mich auf die Dauer
schaffen, wenn ich auf ihre Zuwendung angewiesen war!“
„Genau das meine ich damit, wenn ich sage, Sie
hätten es tatsächlich ein wenig zu gut gemacht: Sie haben sich rar gemacht,
wurden damit zu einem ernstzunehmenden Machtfaktor. Wenn wir auf etwas keinen
Einfluss nehmen können, macht es uns Angst. Noch dazu haben Sie über die Bande
gespielt und ihre Lebensgefährtin als Informationsleitung verwendet: Über die
Drehpunktpersonen der Volkshochschule wanderten die nötigen Provokationen direkt
zu den Literaturwissenschaftlern. So etwas sollte man sich genau überlegen,
denn Sie haben sie damit in den Focus ganz anderer Einflüsse gestellt. Als
schöne Frau hatte sie es genossen, immer im Zentrum des Interesses zu stehen,
aber schon als Koautorin des Ottobuchs gewann sie eine andere Bedeutung und die
Gerüchte, die sich um die Arbeit am Roman ‚Altpapier‘ rankten, katapultierten
sie in wesentlich höhere Regionen. Währenddessen ließen Sie Benses Vorschlag,
über Adornos Ästhetik zu arbeiten oder die literaturwissenschaftliche Anregung,
das Projekt Kultur und Vergessen in Angriff zu nehmen, einfach unentschieden,
um sich die Verstrickung in irgendwelche Abhängigkeiten zu sparen.“
„Was soll’s, es reichte doch, und ich hatte
keine Lust, als Bildungsbeamter zu enden. Ich verdiente mit meinen Tätigkeiten
nicht weniger als meine Lebensgefährtin und aufgrund der geringen Mietkosten
konnten wir uns alles leisten, was wir brauchten, um die gemeinsame Zeit in
Eigenarbeit zu investieren. Wir mussten nicht einmal sparen – wenigstens so
lange, bis wir umzingelt waren und die Anschlussmöglichkeiten rapide
schwanden.“
„Sie hätten aber immerhin misstrauisch werden
können, als ihre Lebensgefährtin Angebote bekam und auf den Posten der
Sekretärin des Vizedirektors angespitzt wurde. Noch dazu war das ganze Theater
der Hohn, wenn man ihre Möglichkeiten bedachte. Warum setzten Sie sich
derartigen Belastungen und Machtspielen aus, nur weil Sie nicht bereit oder
fähig waren, die Arbeit in den üblichen Netzwerken aufzunehmen? Sie hätten doch
einfach so lange mitspielen können, bis sich Chancen ergeben hätten, auf einen
erfolgversprechenderen Zug aufzuspringen!“
„Das klingt plausibel, war aber nicht mein
Ansatz. Ich wollte vor allem unabhängig bleiben. Ich wollte über die Wege des
Wissens, über die Wahrheiten, denen ich meine Zeit widmete, selbst entscheiden.
An das richtige Repertoire angeschlossen, garantieren unkontrollierbare
Hilfsarbeiten einen Freiheitsspielraum, den es für die brüchige Karriereplanung
in der Verwaltungsuniversität schon lange nicht mehr gibt. Sie können erklären,
warum die Leute mehr und mehr Angst vor mir hatten und deshalb irgendwelchen
Schwachsinn ausbrüteten. Aber das ändert nichts an der Tatsache, dass ich nicht
zu ihnen gehören wollte. Ich begann kein Studium der Philosophie, um mich
auf eine Welt einzulassen, die allen Zauber verloren hatte. Einem Kind der Lüge
und der Dummheit eröffnete die Philosophie auf einmal einen Raum, in der die Lügenwelt
dieser kleinen Spießer und natürlich die der großen Simulanten durch die Arbeit
an jahrhundertealten Wahrheiten zerlegt werden konnte.“
„Das ist schon lange
her“, wirft Wolhe ein und winkt mit dem moralischen Zeigefinger: „Sie haben
ihnen noch immer nicht verziehen. Es waren schließlich Ihre Eltern!“
„Genau, das kann man
nur vergessen, zu verzeihen ist es nicht. Wenn es nach mir ginge, müssten die
Leute rechtzeitig vor jeder Geburt mit einer Art Führungszeugnis nachweisen,
für das seelische und leibliche Wohl des künftigen Erdenbewohners mit den nötigen
Mitteln und Fähigkeiten sorgen zu können. Gefühlsblinde Rechenmaschinen, die
sich durch eine Zeugung die künftige Alimentation sichern, würde ich genauso
ausschließen, wie asoziale Fickautomaten, denen es gleichgültig ist, was sie
mit einer Schwangerschaft alles anrichten. Dann stände nicht zur Debatte, ob
fötalen Gewebe und Zellstrukturen einer industriellen Verwertung zuzuführen wären.“
„Das ist kein
Argument!“ insistiert sie: „Schauen Sie doch mal, was aus Ihnen trotz oder
wegen Ihren Anfängen geworden ist. Über was für eine wundervolle Intelligenz
Sie verfügen – auch wenn Sie in einer Form damit umgehen, die mir nicht
akzeptabel erscheint.“
„Als Kind habe ich
einen gewaltigen Aufwand getrieben, um von dem Mann eine Anerkennung zu
erfahren, der nicht mein Vater sein durfte, obwohl uns der Name-des-Vaters
verband. Natürlich bekam ich sie nicht, aber weil ich das Gesetz der Mutter
nicht verstand, strengte ich mich immer wieder neu an. Ich wurde die Spielfigur
für die hoffnungslosen Fälle und so konditioniert, dass ich erst zu einer
großen Form auflief, wenn ein Normalverbraucher aufgegeben hätte, weil nichts
mehr zu retten war. Aber ist es das wert, wenn einem dafür die Kindheit
gestohlen wird? Außerdem sollten Sie sich vielleicht erst einmal über Ihren
Ansatz verständigen! Ihre verlogene Einfühlungsgabe soll auf Dauer nur
bewirken, mich in der Handhabung der Gesetzmäßigkeiten von Kontexten, also den
Tricks, die Bateson unter Lernen 3 zusammenfasst, zu verunsichern!“
Sie versucht völlig
unschuldig zu tun und gibt vor, ich hätte sie missverstanden habe. Der
Moderator wischt den schlechten Geruch beiseite und mischt sich ein: „Genau so
etwas müssen wir wissen. Ob es der Aufenthalt in einem Schwarzeruniversum ist
oder die Erfahrung des symbolischen Tauschs auf dem Strich, beim Spieler oder
Süchtigen. Wir versuchen uns an der Algebra des optimierten Menschen. Ihre
Veröffentlichung zu den „Helden des Subliminalen“ haben gezeigt, dass Sie
unsere Archive mit zusätzlichen Informationen beliefern könnten!“
„Erst einmal musste
ich mithilfe einer exzessiven Lektüre die Scherben wegräumen und die Schäden
beseitigen, die jenen Schwachsinnigen zu verdanken waren, die ohne einen Funken
Verantwortungsgefühl für meine Geburtlichkeit gesorgt hatten. Und das ist ganz
real so abgelaufen: Ich las, bis ich nichts mehr in der Birne hatte, bis ich
irgendwann in meiner Ecke sitzen konnte und an nichts mehr dachte. Ein
systematischer Speicherüberlauf ist nicht minder wirksam wie ein hartes
körperliches Training. Kurzfristig ist immer wieder eine angenehme innere Lehre
zu erreichen – zur Vollendung brauchte es dann noch ein paar andere Zutaten. Manchmal
hatte ich das Gefühl, dass man die meiste Kraft des eigenen Lebens darauf
verschwenden muss, die Scheuklappen abzustreifen, die jenen Krüppeln zu
verdanken sind, die sich gar nicht getraut haben, ohne Selbstbetrug und
Verleugnung zu leben. Auch das war eine Form des symbolischen Tauschs: Ich
musste die durchschnittlichen Verkrüpplungen abarbeiten, um an eine echten
Erfüllung heran zu kommen. Erst nach den Selbstheilungsversuchen einer exzessiven
Lektüre kam das Ergebnis zustande, dass es eine Beziehung zwischen Wissen und
Genießen gab: Es war ein Wissen, das mich nährte, das mich zum Ficken befähigte,
das mich neu gebären konnte – und das ich tatsächlich der Resozialisierung im
Bett verdankte. Ein Aspirant auf eine Stelle als Bildungsbeamter hätte diesen
Erfolg verdrängen müssen. Die ausführlichen Aufenthalte im Bücherregal konnten
bei diesem Unternehmen das Repertoire erweitern. Zu Zeiten, als die Zukunft
durch meine Eltern hoffnungslos vernagelt worden war, hatte ich nur auf Droge
an einem Geschehen teilgehabt, das mich mit einem fiebernden Staunen auf die Suche
schickte – und diesen Lernerfolg habe ich nicht vergessen. Entzaubern sollten
schließlich die Instanzenwege, die vielen Subalternisierungsversuche. Aber
genau damit wollte ich mich nicht abfinden, ich hatte das Glück, im gesellschaftlichen
Rahmen einer Zeit zu explorieren, in der die wirtschaftliche Expansion auf
einer Wiederverzauberung der Welt beruhte.“
„Sie denken hier an
die Diagnose Max Webers, die allerdings bereits in den Zwanzigern überholt
war“, unterstreicht Albach: „Die verspätete Modernisierung, die das Dritte
Reich den Deutschen aufzwang, war tatsächlich nur auszuhalten durch einen exzessiv
durchorganisierte Enthusiasmus – weil sie jubeln und die Begeisterung ausleben
durften, marschierten sie so bereitwillig mit. Mit dem Zusammenbruch und der
verordneten Verleugnung war auf einmal Skepsis und Bescheidenheit angesagt.
Hitler hat das Begeisterungsvermögen der Deutschen für mindestens eine
Generation komplett gestört.“
„Richtig, deshalb
brauchte es das Hintertürchen der Jugendkultur, um diese Antriebsstörung zu
überwinden und Gefühle jenseits der Schwelle von Trauer, Scham und Verzicht zu
entfesseln. Das den Modernisierungserfolgen der Nazis verdankte Vakuum der
Begeisterungsfähigkeit wurde mit den modernen Medien und im Konsum wieder mit
Sinn geflutet. Die Botschaft lautete, mit den sogenannten theologischen Mucken
der Ware sind wir an der Entzifferung jener in unseren Körpern eingeschriebenen
Geheimschrift dran. Mit den Medien haben wir an einer Wiederverzauberung der
Welt teil, die die Chance beinhaltet, Gesetzmäßigkeiten zu kapieren und
umzusetzen, an die wir in der alltäglichen Prosa nie heran gekommen wären. Es
arbeiten genügend Spezialisten am Design, am Plot, an den charakterisierenden
Zeichensetzungen. Unter dem Imperativ des wirtschaftlichen Wachstums bewegte
sich die Welt in vielen Bereichen mittlerweile in der surrealistischen
Verdichtung von Erlebnisräumen, die wirklicher wurden als die verwaltete Welt.
Unter diesen Einflüssen tat sich für uns ein waffentechnisches Repertoire auf,
mit dessen Hilfe sich viele der angekurbelten Nachstellungen wie von allein
erledigten. Es tat gut, das Brausen in den einzelnen Zellen zu spüren, den
Blitz zu bewohnen und mit den Tieren zu sprechen. Wir hatten niemals daran
gedacht, gemeinsam zu zaubern, doch die in den Nachstellungen und Verleumdungen
entstehenden Routinen gaben einen unerwarteten Halt – wir begannen die Kräfte,
mit denen wir es zu tun hatten, erst nach und nach an den Opfern zu erkennen,
die auf der Strecke zurückblieben. Als die die Intrige richtig in Fahrt kam,
war es erhebend festzustellen, wie der Zufall für uns zu arbeiten begann. Wir
konnten hin und wieder ein intuitives Wissen verwenden, das unter den
Bedingungen des gepredigten Realitätsprinzips erst in der Zukunft auf uns
wartete.“
„Hier haben wir den Ansatz des Serientäters,
das sollten wir genauer abklopfen!“ meldet sich Charlus zur
Stelle: „Das ist eine Kunst, die nicht jedem gegeben ist, denn Sie können mir
nicht erklären, wie der Kontext für eine/n zu arbeiten beginnt! Dieses Paar hat
es geschafft, einer ganzen geisteswissenschaftlichen Fakultät durch Nicht-tun
einen Tritt zu versetzen. Während der folgenden Nachstellungen und
Umzingelungen haben die beiden, ohne überhaupt etwas zu unternehmen, eine
Strategie entwickelt, dank der die Intriganten und ihre Delegierten alle mehr
oder weniger beschädigt worden sind. Das will ich genauer wissen! Eine alte
chinesische Regel der Kriegskunst hat einmal gelautet: Wer wirklich siegt,
kämpft nicht! Das haben die beiden über Jahre hinweg durchgehalten, ohne einen
Schaden abzubekommen.“
„Das stimmt nicht
ganz, wir hatten Dino verloren“, werfe ich ein: „Es war ein starkes Symbol,
wenn wir auf unseren Spaziergängen ein Pärchen Chows als Antriebsmaschine
verwendeten. Wir kamen in den zwei Stunden vor der kreativen Eigenarbeit auf Touren
und legten gewaltige Runden zurück. Als mein Chow unter dem Druck der Intrige
eine Magendrehung bekam und unter Qualen krepierte, war das ein sehr
schmerzhafter Einschnitt – ein Teil von mir ist mit ihm gestorben.“
„Das mag eine andere Geschichte sein, aber das
führt jetzt zu weit weg. Wir wollten auf die Grundlagen des symbolischen
Tauschs zurückkommen“, meint der Moderator und schaut mich abwartend an.
„Die Unmittelbarkeit
dieser Erfahrung von Jetztzeit verdankt sich der Analogie zum
Koordinationszentrum des Ich-Hier-Jetzt der Deixis. Die Gehirnforschung hat
erwiesen, dass die Zeit, die wir als Gegenwart erleben, eine Zeitspanne von
etwa drei Sekunden ausmacht. Mit einer gewissen Unschärfe beginnen an den
Rändern eines derart kleinen Zeitfensters schon die Vergangenheit und die
Zukunft. Die ästhetische Erfahrung ist in der Lage, dieses Fenster zu weiten,
indem sie die Grenzen zum unmittelbar Vergangenen und zum Erwarteten verfließen
lässt und eine Gestaltwahrnehmung möglich macht, die den Augenblick mit
Ewigkeit imprägniert. Solchen prägnanten Augenblicken verdanken wir das Gefühl,
an einer zeitlosen Präsenz teilzuhaben!“
„Das wissen wir mittlerweile“, insistiert der
Moderator: „Aber sie laufen Gefahr, die wichtigen Zusammenhänge nicht mehr zur
Sprache zu bringen, wenn Sie ständig auf die magische Verfolgerkausalität zurückgreifen.
Also noch einmal die Frage: Wie haben Sie die Grundlagen des Symbolischen
Tauschs für sich erarbeitet?“
„Einverstanden, obwohl Ihnen die
Gesetzmäßigkeiten der magischen Verfolgerkausalität schon die Antwort auf Ihre
Frage liefern. Ich versuche, einen Überblick zu geben, der die extremen Momente
nicht nivelliert, damit die zwischen ihnen herrschende Spannung deutlich wird.
Aber dazu brauche ich wieder Ihren praktischen Verstärker.“ Ich ziehe die
Datenkappe über. Alles, was ich zusammensuchen müsste, ist präsent:
Die Intrige hat als Form der
Katastrophenpädagogik gewirkt. Dem sozialen Tod habe ich die Erfahrung zeitloser
Augenblicke zu verdanken, in denen nur das Gattungswissen des Körpers
weiterhilft, der gespeicherte Überlebenswille eines evolutionären Geschehens –
und damit die Erkenntnis, dass in der Dialektik die Eschatologie steckt. Es
gibt momentane Ewigkeiten, in denen die Gesänge in den einzelnen Zellen, das
Rauschen und Vibrieren ihrer zeitlichen Ausfaltung, zu einer Woge des
überbordenden Lebenswillens anschwellen und über alle Ufer der
institutionalisierten Stillstellung treten. Die in ihnen freigesetzte Bewegung
befördert noch unterhalb der Sphäre der Bedeutungen eine Bejahung des Fließens
und der Wandlungen der Lebendigkeit. Diese Bedeutsamkeiten hatte ich
glücklicherweise nie aus den Säften verloren – schon deswegen war versucht
worden, anhand meiner Vernichtung auf ihrer Nichtexistenz zu bestehen.
Zur Konzeption des Symbols finden sich
Querbezüge bei Manfred Franks 'Gott im Exil', die mit Girards Überlegungen zum
Verhältnis zwischen dem ursprünglichen Lynchmord und dem späteren, schon
verdünnenden und verkennenden Ritus zusammengedacht werden. 'Das Heilige und
die Gewalt' sind in den Anfängen eine ambivalente Einheit und so, wie sich verschiedene
Zeichensysteme und Interpretationsanweisungen dazwischen schieben, werden sie
im Prozess der Zivilisation immer weiter voneinander entfernt. In einem
Weltzusammenhang der Grausamkeit ist Benjamins Begründungsverhältnis von Symbol
und Tod mit Girard zu lesen. Die Bewegung des Rückwärtsbuchstabierens hat Teil
an einer vordiskursiven Erkenntnis des Leibes: Opfer und Gründungsmord
lieferten eine erste authentische Symbolerfahrung. Habermas Ausführung ‚Vom
sinnlichen Eindruck zum symbolischen Ausdruck‘ zur Entwicklung des
Symbolisierungsgeschehens erscheint damit in einem härteren Licht, denn nun
werden gewisse Fundamente des kommunikativen Handelns offensichtlich, das
implizite Scheitern ist nicht verwunderlich. Die sprachliche Einigung findet
nur scheinbar in einem gewaltfreien Raum statt, denn abgesehen davon, dass
Macht und Autorität in vielen Sprachformen verkörpert werden, gibt es strategische
Verwendungsweisen, mit denen es im Sinne einer pervertierten Sprechakttheorie
gelingt, böse Dinge mit Worten zu tun. Zu erinnern ist an Tardes von Durkheim
angeregte Einsicht, dass eine Gesellschaft durch mimetische Stressimpulse
zusammengehalten wird, dass der soziale Körper über Gefühle kommuniziert. Somit
steuern gemeinsame, vorgeordnete Ängste und Erwartungen, ohne bewusst zu werden,
die durchschnittlichen Befindlichkeiten. In den Gründungsakten ist es die
brutale Willkür, mit der die Konvention zustande kommt, die mehr oder weniger
stillschweigende Übereinkunft einer Gruppe auf Kosten eines einzelnen Lebens.
Wenn die mimetische Krise in der Entdifferenzierung einen Höhepunkt erreicht,
ist die Gewalt virulent, die Negation wuchert blind in der Gemeinschaft und
droht sie zu zerbrechen. Im Punkt des Umschlags findet im Nu der Symbolkonstitution
eine Übereinstimmung der Beteiligten auf Kosten des willkürlich ausgewählten
Opfers statt: Das gemeinschaftliche Band ist wieder hergestellt, die Hierarchie
und die Unterschiede sind gewährleistet. Der Ritus kommt später, er spielt mit
Erinnerungen und zitiert die Krise, um sie zu bannen; er arbeitet als
Überdruckventil an der Entspannung der in einer Gemeinschaft aufbrechenden
Konflikte. Girard betont den Augenblickscharakter dieser Einheitsstiftung, die
Plötzlichkeit und Unergründlichkeit des Konsens – in Benjamins Konzeption des
Symbols finden sich einige Anklänge: von der Zeiterfahrung des Nu, über die
kritische Sättigung eines Mediums zum Punkt des Umschlags, zur einheitsstiftenden
und trotzdem jeder Intention entzogenen Wahrheit. Zu unterscheiden ist im Folgenden
das Symbol als konventionelles Sprachzeichen vom Symbol als Ereignis eines
Geschehens selbst – Benjamin findet dieses Symbol in der Dichtung wieder, die
nichts mitteilt, keinen Inhalt, keine Botschaft, keine Handlung, sondern die
sich selbst in ihrer Medialität zum Gegenstand hat. Während mit Blumenberg das
Feld einer Metaphorologie aufbereitet wird, geht Frank von einer Begründung am
anderen Ende der Skala zwischen Terror und Spiel aus, die nicht weniger wichtig
ist, weil sie die notwendige Beziehung von Präsenz und Verkörperung nachvollziehbar
macht. Interessant ist vor allem, wie der Symbolbegriff in zweierlei Verwendung
auftritt: Das unterstreicht, warum der Mythos seinen Bogen zwischen zwei
Extremen spannt, denn zum einen existiert er in einem Brauch und zum anderen
gründet er in der Ambivalenz des Heiligen/Verfluchten. Aber als Erzählung hält der Mythos sich
immer schon in einer gewissen Distanz zu beiden: Über etwas erzählen, das ist
etwas ganz anderes als am Geschehen unmittelbar teilzuhaben. Erzählen heißt,
etwas einer symbolischen Ordnung einverleiben. Das Symbol wird damit zum
Stellvertreter der Sache, es verliert den Status der unmittelbaren Teilhabe,
ist nicht mehr nicht die Sache selbst. Damit übernimmt Frank den Hegelschen
Symbolbegriff, trennt sich also von jenen Einsichten, die von Hamann und Herder
über die Frühromantiker bis zu Goethe reichen und von Benjamin wieder aktiviert
worden sind. Für Frank gewährt der Ritus – das Verschlingen des in wilden
Tieren verleiblichten Gottes oder des Heilands in den Gaben des Abendmahls –
die unmittelbare Teilhabe am
Heiligen, das man sich zu eigen macht; die symbolische Teilhabe ist das
Sakrament, denn die Teilhabe als Abwesenheitsdressur reduziert das Heilige auf
Lokalitäten, die jenseits der
erfahrbaren Welt situiert werden. Schon im Mythos als Erzählung ist eine
Abwesenheit des Heiligen eingearbeitet, die im Extrem als sein Verlust
erscheinen kann. Das, was hier dem Ritus im Gegensatz zu Blumenbergs ‚Arbeit am
Mythos‘ an Verkörperung und Präsenz zugesprochen wird, taucht an späterer
Stelle als eigentliche Qualität des Symbols auf. Frank lässt im Symbolbegriff
Creuzers eine Idee zum Bild und ganz sinnlich werden, wenn sie sich präsentiere
ohne Rest, wenn Sie ganz und gar Anschauung
wird, wenn die ältesten Mythen nichts als narrative Auslegungen komplexer
Symbole sind. Das ist noch immer eine Surrogatfunktion, allerdings heißt es in
einem Zitat an anderer Stelle, das Momentane, das Totale, das Unergründliche
des Ursprungs und der Notwendigkeit seien die Hauptkennzeichen des Symbols.
Wenn die Geschichte, die im Symbol zur Handlung zusammengedrängt war, an der
Sache selbst teil hat, von der
sie spricht, finden wir eine Reprise bei Bachofen, der das Symbol vor den
Mythos setzt und ganz wie Creuzer den Mythus zur Exegese des Symbols macht. Symbolik ist ursprünglich real und
leiblich vollzogener Ritus in
Ekstase, Rausch, Tanz und Musik. Diese
immanenten Verweisungszusammenhänge lassen den medialen Status der menschlichen
Erfahrung selbst zur Erfahrbarkeit gerinnen. Der Mythus entfaltet in der
sprachlichen Reproduktion erst die ursprünglichen Geistesblitze und seine
Wahrheit beruht nach Voegelin darauf, dass die symbolische Sprache eine reale
Situation beschreibt. Diese Symbolik bringt eine Einsicht zum Ausdruck, der die
Gesetzmäßigkeiten der Spannung der Existenz vermittelt. Die Primärerfahrung der
Angst ist nicht durch die Furcht vor einer Bedrohung erklärbar, sondern sie ist
tatsächlich die Antwort auf die Bodenlosigkeit einer Existenz aus nichts. Allen
Strategien der Angstbewältigung ist die Nichtexistenz inhärent – was liegt also
näher, als die Negation auf ein Opfer zu delegieren. Das Mängelwesen Mensch
kompensiert die Unvollkommenheit des Todes in diesem Leben durch die
Vollkommenheit des Lebens im Tod.
In den Evangelien findet Girard eine
Kombination von Mimetik und Dämonologie, die ihn für eine Rückkehr zu den
christlichen Werten plädieren lässt; er setzt gegen die Informalisierung wieder
auf mittelalterliche Wertsysteme und starre Hierarchien. Doch dieser fundamentalistische
Salto rückwärts müsste nicht sein und entwertet einige seiner wichtigsten
Einsichten. Es gibt andere Hochreligionen, die zu ähnlichen Schlüssen gekommen
sind, es gibt einige Theorieansätze, in denen die bittere Essenz dieses Wissens
ernst genommen und seit Jahrzehnten weiterentwickelt worden ist. Nicht nur die
Evangelien sind jenen Texten überlegen, die noch den Stempel des magischen
Denkens tragen oder den der ichpsychologischen Interpretationen der
zwischenmenschlichen Beziehungen. Es reicht schon der Ansatz, sich von jeder
konfliktuellen Mimetik zu verabschieden und den Dritten als Sündenbock durch
einen Dritten der verbindenden Gemeinsamkeiten zu ersetzen, wie es in der
systemischen Philosophie und in psychoanalytisch gefederten Spielarten der
Diskurstheorie oder der historischen Anthropologie stattgefunden hat, und wir
kommen zu ganz ähnlichen Ergebnissen. Für Girard zeigt die dämonologische Sicht
die Einheit und Vielheit gewisser individueller und sozialer Verhaltensweisen
mit einer von den Wissenschaften weiterhin unerreichten Intensität. Wir haben
erst einmal anzuerkennen, warum unter Menschen ein gewisses Potential an Wunsch
und Hass, an Neid und Eifersucht am Werk ist. Diese bösen Wünsche sind in ihren
Wirkungen viel hinterhältiger und durchtriebener, in ihren Kehrtwendungen und
Metamorphosen viel paradoxer und unvermittelter, in ihren Formen viel komplexer
und ihrem Prinzip nach viel einfacher, als das, was sich Menschen ausgedacht
haben, wenn sie die Auswirkungen ohne übernatürliches Eingreifen erklären
wollten. Die mimetische Natur dieses Dämons ist explizit, denn er wird als Affe
Gottes gekennzeichnet und die Vorgehensweise der konfliktuellen Mimetik ist
paradoxerweise mindestens so intelligent und wie sie dumm ist. Die Überlieferung
bekräftigt den einheitlich dämonischen Charakter von Trance und ritueller
Besessenheit, von hysterischer Krise und Hypnose und verweist auf die reale
Einheit all dieser Phänomene. Die Überlegenheit dieser Erklärung der Phänomene
durch eine konfliktuelle Mimetik zeigt sich vor allem in ihrer Fähigkeit, in
einem einzigen Begriff Widersprüchliches zu vereinen: Das Diabolische und das
Symbolische! Die Mächte der Zwietracht, die perversen Wirkungen, die das Chaos
auf allen Beziehungsebenen erzeugen – und die Macht der Einheit, die soziale
Ordnungsmacht. Diesem Ansatz gelingt, was Soziologie und Anthropologie,
Psychoanalyse und Kulturtheorien mit Mühe nachvollziehen: Wie die soziale
Transzendenz und die zwischenmenschliche Immanenz unterschieden und
gleichzeitig vereint werden können. Er bewältigt die Beziehung zwischen dem,
was in der französischen Psychoanalyse das Symbolische und das Imaginäre
genannt wird. Das Dämonische wird einerseits allen konfliktuellen Tendenzen
innerhalb der zwischenmenschlichen Beziehungen, der zentrifugalen Kraft
innerhalb der Gemeinschaft gerecht und trägt andererseits der zentripetalen,
die Menschen einigenden Kraft, dem geheimnisvollen Kitt eben dieser
Gemeinschaft Rechnung. Es ist tatsächlich die gleiche Kraft: spaltend in den
mimetischen Rivalitäten, einigend in der einmütigen Mimetik des Sündenbocks.
Die mimetische Ambivalenz transportiert die fehlerhafte Identifikation auf
Kosten der Opfer, und sie ist zugleich der Motor der psychotischen
Entdifferenzierung. Was von Girard als Dämon anhand der Evangelien auf einen
Nenner gebracht wird, erfordert keinen Rückgriff auf die Blindwütigkeit des
institutionalisierten Glaubens mehr – meist wird nur übersehen, warum das
Repertoire von Bosheit und Geisteskrankheit gerade anhand der traditionellen
Überlieferung aufzuschlüsseln ist. Es ist völlig ausreichend, wenn man sich
diesen einfachen Gesetzmäßigkeiten des menschlichen Zusammenseins stellt, also dank
der nötigen Distanzleistung auf die Verleugnung und die damit einhergehende
Idealisierung der Gemeinschaft verzichtet.
Mimesis
als zentrale Kategorie einer ‚Historischen Anthropologie‘ zeigt mit Wulff eine
fundamentale Ambivalenz: Sie trägt zum einen zur Verbildlichung und
Ästhetisierung der Welt bei, wobei die Bilder von einem mimetischen Taumel
erfasst werden und ihre Selbstreferentialität und Geschwindigkeit die
Abstraktion und Verbildlichung noch steigern. Andererseits kann sie als Träger
von Hoffnungen auf Eindeutigkeiten verzichten, Bewegungen mit gebrochener
Intention initiieren, Raum für das Nicht-Identische bieten und den Augenblick
gegenüber der Chronokratie ins Recht setzen. Unser mimetisches Vermögen
ermöglicht einen nicht-instrumentellen Umgang mit dem Anderen und der Welt, in
dem das Besondere gegenüber dem Universellen geschützt wird und die Dinge und
wie die Menschen in einem Status der Gelassenheit erfahren werden. Auch wenn
der gegenwärtige Stand des Zivilisationsprozesses noch keine Entscheidung für
eine der beiden Seiten der Mimesis zulassen mag, so legen Opferritual und Sündenbockmechanismus
als mimetische Formen der Gemeinschaftsstiftung doch nahe, auf entlastende und
stillstellende Momente zu verzichten – gerade diese scheinen eine fast
systemtheoretisch zu pointierende Selbsterhaltung der Schuld und damit der
Ausgeliefertheit zu gewährleisten. Am Anfang hat der mimetische Taumel die
Gemeinschaft selbst ergriffen, und erst der grundlegende Mord sichert ihre
Fundamente. Die Chance des Nicht-Identischen wird im Sündenbockmechanismus
beseitigt, aber die hergestellte Identität macht vergessen, wie ihr der Tod im
Gerüst sitzt. Aus diesem Grund macht ihn jede Abweichung, jedes Erahnen des
Anderen virulent. Die Suche nach Ähnlichkeiten dient den Freiheitsspielräumen
der Handhabbarkeit und mündet doch in Gewohnheitsmustern, mit denen wir uns den
Aufwand von Erfahrungen ersparen. In Institutionen werden dann die zugrunde
liegenden Nachahmungszwänge im Gefolge von Machtspielen als Stillstellungs- und
Selbstbespiegelungsdressuren wirksam. In den 'Hieroglyphen der Zeit' hat Kamper
das Problem des Bösen neu formuliert: Es versteckt sich im Opferwillen –
höchstwahrscheinlich resultiert es aus der fehlerhaften Angstbewältigung und
befördert die Verkennungsanweisungen der Identität. Die Angst war schon immer
die Mutter der Methode, allen Abstraktionsleistungen ist jene Askese
anzumerken, die das Heil aus Verzicht und Selbstbestrafung zu keltern sucht.
„Das ist keine üble
Zusammenfassung, es hätte mir einige Mühe bereitet, die Originalzitate aus
meinen Leselisten zusammen zu stellen. Gerade in Zeiten, in denen die
Überkomplexität der Welterfahrung und das Orientierungsbedürfnis der Massen der
Religion einen neuen Kredit verleihen, sollten wir nie vergessen, es sind
unsere biographischen Energien, mit denen wir jungen Göttern zur Wirkung
verhelfen oder alte Teufel am Leben erhalten.“
„Aber die Weisheit nimmt doch den Umweg vom
Mund über den ganzen Körper zum Ohr“, wirft Wolhe ein: „Dann hätte ich von
Ihnen viel eher erwartet, sich esoterischen Geheimlehren zu widmen, als in den
Computer auszuweichen und alle möglichen Techniken zu erwerben, um die
Digitalisierung für sich nutzbar zu machen.“
„Warum nicht? Der Computer als Medium, das
alle anderen Medien in sich aufnehmen und reproduzieren kann, zeigte mir die in den verschiedensten Zusammenhängen dargestellte, enttäuschende
Leere unserer Welt als das Dunkel des gelebten Augenblicks der
Verwaltungsvollzüge von Bildungsbeamten! Dagegen sollte jenseits der
Gutenberg-Galaxis klar sein, was für uns alles wieder zur Verfügung steht,
nachdem die reduzierte Realitätskonstruktion der bürgerlichen Welt aufgesprengt
wurde. Mit den Anregungen beliebiger Luxusmagazine ist das Atmosphärische in
den feinsten Variationen für jeden zu realisieren, der seine Zeit darauf
verwenden kann. Dank einem enormen Repertoire an Schmuck, Inneneinrichtung und
Mode werden jene Zeichen gesetzt, die authentisch wirken und deshalb den
Gefühlen, die unsere Seele möblieren, die frühere Überzeugungskraft neu
verleihen. Mit dem Rückgriff auf eine umfassende digitale Bibliothek können wir
die Intuitionen des Mystiker mit der theoretischen Physik in Beziehung setzen, wir
verwenden das klassische philosophische Theoriegebäude als Trainingsfeld einer
postmodernen Architektur der Wissenssysteme.“
„Das akzeptiere ich
so nicht!“ Wolhe wirft empört ein: „Alle wesentlichen Zusammenhänge finden für
uns dank der Computer in einer Blackbox statt. Wir drücken ein paar Tasten und
bekommen ein Ergebnis – aber wie es zustande kommt, ist für uns nicht
nachvollziehbar. Der Mensch ist auf Erfahrungen angewiesen, wenn er sich in der
Welt orientieren möchte. Die Statistik liefert keine Erfahrungen, die
Chaostheorie wird nicht einmal den einfachsten Bauernregeln gerecht und
enttäuscht uns regelmäßig beim Wetterbericht!“
„Dann sollten Sie
vielleicht ins Auge fassen, wie eine technische Reaktualisierung der Esoterik
zu unvorhersehbaren Ergebnissen führt. Gegen die Paranoisierung des Ich-denke auf dem kartesischen Zeitstrahl,
der ohne Wiederkehr in die Zukunft führt, erfuhr ich in der Arbeit mit dem
Computer eine Zeitachse, die symmetrisch und reversibel ist. Digitalisierte
Informationen verfügen über einen variablen Zeitpfeil, der in Augenblicken der
Gefahr dafür sorgte, uns Hinweise und Tipps aus der Zukunft zu übermitteln.
Gegen die Vernetzung der Statthalter des kommunikativen Wissens, die damit
einher gehenden Machtstrategien, fand ich in der Interkonnektivität virtueller
Welten einen Resonanzraum, der korrelativ zur Konzeption des Blankpolierten Spiegels
war. In den Augenblicken, in denen ich meine Ängste und Hoffnungen, meine
Sehnsüchte und Erwartungen vergaß und nur in der unmittelbaren Gegenwart
agierte, nahm ich ein Wissens auf, das für unser Überleben notwendig war. In
den von Ihnen reklamierten Kausalzusammenhängen konnte ich nicht wissen, um was
es ging und damit wäre es nur logisch gewesen, zu scheitern.
Eben das war nicht
der Fall, weil es einen einfachen Weg gibt, wie und mit welchem
Vertrauensvorschuss man oder frau sich auf das Glück des Unvorhergesehenen
einlassen kann. Nachdem die institutionalisierten Menschheitserfahrungen, die
einmal über Generationen einen Halt vermittelten, heute fast jeden Kredit
verloren haben und ihre in den Medien auftauchenden Reminiszenzen sofort der
Inflation unterstehen, bietet sich der Rückgriff auf die Körpererfahrung und
die strukturierenden Rhythmen an den Ursprüngen des Lernverhaltens an. Aus Mary
Douglas‘ ‚Ritual, Tabu und Körpersymbolik‘ sind konkrete Tricks abzuleiten. Was
die tradierte Erfahrung einmal vermittelte, Sicherheit und Orientierung, muss
sich wieder neu am Koordinationszentrum des Mythos entzünden. Wir haben nicht
nur in jedem Leben neu zu beginnen und die vorhandenen Wissensweisen für uns zu
strukturieren, sondern sogar in jedem Lebensabschnitt neu dazu zu lernen. Mit
der Freude an den körperlichen Vollzügen greifen wir auf einen verborgenen
Antrieb zurück, der prinzipiell jedem zugänglich sein könnte, der in der Lage
ist, sich von einem Rhythmus ergreifen und von einer Melodie tragen zu lassen.
Ein ‚Schatten des Orpheus‘ liegt auf dem fließenden Übergang von Mystik und
Erotik bei Saner, der sich über eine Religion des Staunens und der umfassenden
Präsenz Gedanken machte, für die es keinen jenseitigen Gott mehr braucht,
sondern nur die Unmittelbarkeit der Ekstase. Die Muster dieser
Gesetzmäßigkeiten prägen noch das Begründungsverhältnis im sozialen Tod und
stehen vor allem quer zu jeder institutionalisierten Macht. Mit dem Zerfall der
über die Jahrtausende gewachsenen Traditionsräume tauchen die ursprünglichen
Fragestellungen in jedem Leben an den bedeutsamen Schaltstellen wieder auf.“
„Bitte nochmal zurück zu der Fragestellung“,
unterbricht mich der Moderator: „Vielleicht erklären Sie uns einmal, warum Sie
ab Mitte der 80er Jahre so viel Energie darauf verwendet haben, sich mit allen
möglichen Tricks vertraut zu machen, um die literarische Arbeit mit
Textverarbeitung, relationaler Datenbank und Tabellenkalkulation auf einem
CPM-Computer effektiver zu gestalten! Wenn es keine resignierende Beschäftigungstherapie
war, ist der Rückgriff auf das mimetische Vermögen kein wirklicher Einwand
gegen meine Argumentation. Sie versuchten die Macht, an der Sie geschnuppert
hatten, mit den neuen technischen Möglichkeiten weiter auszubauen!“
„Vom Aufschreibesystem aus gesehen liefert der Computer einen
pragmatischen Zugang zu den Praktiken der Esoterik! Die ersten beiden
Manuskripte hat meine Freundin auf einer elektrischen Schreibmaschine getippt,
was bei mehreren Korrekturdurchläufen einen gewaltigen Arbeitsaufwand forderte.
Erst einmal war es nur ein Achtbit-Rechner: Aber wie viel einfacher war es
doch, mit einem Wordprozessor Teile zu verschieben, zu erweitern, zu kopieren
oder zu überschreiben; wie souverän war mit Zitaten umzugehen, wenn sie erst
einmal in einer Datenbank abrufbar waren! Mittlerweile entschied ich mich für
einen Text nicht nach der dritten oder vierten Umarbeitung, sondern der Text
war das Resultat von hunderten von Umarbeitungen auf deren Weg längst vergessen
worden war, was als Ausgangspunkt gedient hat. Ich ließ mich führen und die
Zitate, die meine ursprüngliche Argumentation unterfüttern sollten,
kolonisierten wie nebenbei Regionen, an die ich bis dahin nicht gedacht hatte.
Viele treffende Formulierungen habe ich hergestellt, indem ich Zitate, die mich
ansprangen, solange dressiert und umgeformt hatte, bis sie nicht nur das zum
Ausdruck brachten, was mich faszinierte, sondern echte Erfahrungen
artikulierten. Sie sollten nicht unterschätzen, was es bedeutet, wenn dank
einer intensiven Qualität der täglichen Lektüre der innere Monolog ausbleibt:
Ich hatte irgendwann nichts mehr zu sagen – war allerdings auch nicht mehr
durch die Flüsterpropaganda kleiner Arschlöcher zu manipulieren. Wenn mein
Speicher genug ausgelastet war, konnte ich dasitzen und an nichts mehr denken
oder mit den Hunden durch den Wald jagen, mich ohne Filter der Motorik
überlassen – für die innere Affenhorde war keine mehr Kapazität frei. Aus
diesem Grund musste ich mir die notwendigen Rede- und Argumentationsfiguren neu
aneignen, wenn ich erklären und begründen wollte, was der
Ich in den verschiedenen Belastungsproben gelernt hat. Ich las und unterstrich
Zeilen oder markierte ganze Absätze: Nach und nach machten wir alles wichtige
gemeinsam abrufbereit. Nebenbei musste ich die auf dem CPM-System entstandenen
Texte an der umgeleiteten Druckerschnittstelle manipulieren, damit in Word auf
dem Atari und später in Word unter Windows eine identische Darstellung das
Ergebnis war. Aus den Textsammlungen der Digitalen Bibliothek waren per
Stichwort Fundstellen zu exzerpieren, aus meiner Arbeitsbibliothek wichtige
Zitate über ein OCR-Programm einzulesen, ein Diktierprogramm sparte unnütze
Tipparbeiten – unsere Texte bekamen eine
ganz andere Dichte. Noch dazu hatten wir außer den Spaziergängen mit den Hunden
weitere Gemeinsamkeiten zu kultivieren.“
„Das lenkt doch vom Thema ab“, insistiert Albach und hüllt sich nüchtern
in eine kalte Atmosphäre: „Ich wollte vorhin schon wissen, ob Sie mehr oder weniger
bewusst gewisse Belastungsproben für Ihre Freundin herbei geführt haben, um sie
weiter an sich zu binden. Sie neigten selbst zu Vabanquespielen, das hatten
ihnen früher bereits Lehrer bestätigt – haben Sie dieses Schema einfach weiter
gereicht? Vielleicht sogar, um ihr, die sich nicht wirklich binden und auf sie
verlassen wollte, nahe zu legen, dass niemand anders übrig blieb, dank jener
imaginären Umzingelung, die die Welt in Feinde und Gleichgültige aufgeteilt hatte?
„Nach den Jahrzehnten, die gemeinhin vollendete Tatsachen herstellen,
könnte man das so sehen – Ihre Argumentation trifft sich auf jeden Fall mit
einem Wahrheitswert. Der Todeslauf auf der Uni hat sich wie von allein an
unsere biographische Vorgabe einer Liebe als Duell angeschlossen“, erkläre ich
ganz geduldig: „Noch als ich die Magisterarbeit abgeschlossen hatte, mich auf
die mündliche Prüfung vorbereitete, hatte es meine Freundin nötig, mich mit
einem Kursleiter der Volkshochschule auszureizen. Sie steigerte das Spiel, bis
ich mich weigerte, weiterhin ihren Geschichten zuzuhören, um ihr die nötigen
Tipps zu geben, mit denen sie sich wichtigmachen und gegenüber dem Typ das Heft
in der Hand behalten konnte. Mit der Begründung, sie brauche einen Ansprechpartner,
ließ sie mich sitzen und gab vor, zu dem Typ zu ziehen.“
„Und – wie haben Sie das Problem gelöst?“ Wolhe gibt sich einfühlsam,
hat sich aber noch längst nicht von ihrem Kurs verabschiedet. Als sitze sie in
einem nach Pisse und Stress stinkendem Versuchslabor, um hinter die
Voraussetzungen zu kommen, wann eine letale Dosis besondere Gaben freisetzt.
„Im Altpapier habe ich beschrieben, welchen Sog ein Fenster im vierten
Stock auf einen ausübte, der alle zur Verfügung stehenden, erbärmlich wenigen
Möglichkeiten ausgereizt hatte, diese Frau zu gewinnen: Spring-und-aus… Rilke
hatte mich zu dem Bild inspiriert: Gehirnschrift an Autos und Fassaden. Ich
habe das Problem nicht gelöst, sondern kapiert, warum es nicht mein Problem
war. Aber ich habe mir gesagt, ich musste steigern, ein Magister war eindeutig
nicht schlagkräftig genug. In diesen Tagen rauschte es in meinem Kopf vor
Anspannung und Stress. Um das Energielevel auszuhalten, ging ich noch vor der
Prüfung zu einem Prof, der mir wohlgesonnen schien und fragte, ob er mir ein
Gutachten für ein Promotionsstipendium schreiben würde. Das Resultat dieses
Gesprächs: der Prof bekam noch am selben Tag einen Hörsturz und das Gutachten
war passé. Seit dieser Zeit hatte ich in der Nähe solcher Fenster ab einer
gewissen Höhe immer wieder Schwindelgefühle, über Jahre hinweg und das, obwohl
ich mehrmals als Hausmeister mit den Dachdeckern vom Balkon im fünften Stock
über eine wacklige Leiter auf das Flachdach klettern musste. Diese kleinen
Delegierten sollten erweisen, dass der Herr Doktor feige war und kniff, also
musste es sein. Ich half mehr oder weniger vergeblich, jene Stellen zu finden,
an denen das Wasser einen Weg fand, um an der Decke der Schwester des
Vermieters hässliche Flecke zu hinterlassen. Diese italienische
Millionärsgattin hielt sich ein paar Tage im Jahr in Stuttgart auf, brüstete
sich dann mit der Bekanntschaft eines bekannten Literaten. Ansonsten stand die
Wohnung leer, wenn sie nicht in manchem Semester an Studenten vermietet wurde.
Irgendwann machte es die anfallende Wärmedämmung nötig, das Haus um fünfzehn
Zentimeter zu erhöhen und bei der Gelegenheit komplett abzudichten. Von da an konnte
ich mir die Mühe sparen, mit weichen Knien auf das Dach zu klettern.“
„Ich erinnere mich an eine Passage, in der Sie beschreiben, wie
hellhörig dieses Geschäftshaus war“, sinniert Charlus: „Und es entbehrt nicht
der Komik, diesem Quälgeist beim Scheißen zuhören zu müssen, wenn die Kegel im
Fallrohr neben Ihrer Badewanne vorbei rauschten. Das störte Sie, sonst hätten
Sie es nicht in einem Zusammenhang aufgeführt, in dem das Geschäftshaus charakterisiert
wird, als seien die Installationen nach dem Krieg aus vom Schrotthändler der
Gerberstraße zusammengebastelten Resten erneuert worden. Und die Komik findet
für mich einen Höhepunkt, wenn ich weiß, Ihnen war in anderen Zusammenhängen
sehr wohl klar, wie sehr Sie von der Hellhörigkeit profitierten, wenn Sie sich
beim Ficken in eine Feuersbrunst oder einen Wirbelsturm verwandelten, die Leute
damit zurückstauchten!“
„Das ist ein blödes Thema und lenkt nur ab!“ Wolhe lehnt sich angewidert
zurück, als erinnere etwas an die früheren Ekelgefühle gegenüber der Haut auf
der Milch: „Wie haben Sie das Problem gelöst? Wie geht man damit um, wenn man
sich voll in eine Partnerin investiert und einsehen muss, sie verträgt diese
Nähe und Intensität nicht und gerade deshalb die Abwesenheit pflegt, zu anderen
Typen ausweicht?“
„Durch Geduld, Einfühlungsgabe und Lernvermögen. Außerdem gibt es jenseits
der galoppierenden Vorstellungen das überzeugende Antidot: Just do it! Was heißt es denn, wenn wir nicht mehr bereit oder fähig sind, uns im
anderen zu verlieren, sondern nur noch an der Selbstdarstellung arbeiten, dank
der wir anderen die gerade marktgängigen Klischees als unser Ureigenstes vorführen.
Wenn wir nicht mehr in der Lage sind, uns auf die Welt einzulassen, weil wir
uns mit Bildwelten und Kommunikationsakten über die Welt zufrieden gebe: Wir
werden nichts erfahren, was uns den Halt eines stabilen Gleichgewichts
vermittelt – und uns nicht gewinnen. In einer Lebenswelt, die mehr und mehr der
Psychotisierung untersteht, verbergen sich magische Verhaltensformen in den
pragmatischen Gebrauchsanweisungen, die den Umgang mit der jeweiligen Black Box
vermitteln – das ist ein Sozialisationsgeschehen. Wenn wir die Aktualisierungen
eines Absolutismus der Wirklichkeit umspielen wollen, haben wir gegen den Wust
der Verleugnung und der fehlerhaften Identifikation die Gesetzmäßigkeiten
auszufalten, damit aber zum Verschwinden zu bringen!“
Wolhe bekommt bei einer heftigen Gegenbewegung einen Krampf in der Wade
und Albach insistiert: „Die Analyse möchte ich wirklich zu Ende hören!“
„Schon während des Magisters hatte ich kapiert, warum der Parcours mit
dem Kursleiter delegiert worden war, um
mich im letzten Augenblick von einem Uniabschluss abzuhalten… das konnte nur
eine Auftragsarbeit sein. Als meine Freundin ein paar Monate später ihrem Vater
die Magisterurkunde zeigte, hatte der es nötig, darüber zu lästern, dass das
Papier nach nichts aussah, richtig mickrig. Er musste dann seine prächtige Beamtenurkunde
ausgraben, um sie dagegen zu halten. Zu dieser Zeit waren wir etwa zehn Jahre
zusammen und erst jetzt hielten diese Eltern es für nötig, mir in einer
Situation, die suggerieren sollte, dass ich ihnen eine besondere Zumutung
bereitet hatte: „Sonst schaffen wir das nicht mehr!“, das Du anzubieten. Es ist
in keinster Weise selbstverständlich, wenn man als gesellschaftliche Null, ohne
die Rückendeckung eines traditionellen Familiensystems und die Verwurzelung in
über Generationen gewachsenen Abhängigkeiten, in die Lage kommt, eine Position
zu erarbeiten, die auf keine Anerkennung zielt, sondern einen eigenen Platz in
der Welt beansprucht. Schon deshalb drückte ich danach auf die Tube und hatte
bereits fünf Monate nach dem Magister die Dissertation abgeschlossen.“
„Sie haben öfter angedeutet, dass die Vorgaben ihrer beiden Familienromane
direkt zu den Intrigen einiger Professoren überleiteten.“ Albach ist immerhin
in der Lage, die richtigen Fragen zu stellen: „Nur kommt mir das irgendwie sehr
weit hergeholt vor und hätte im Endeffekt bedeutet, dass solche kleinen Leute
wie ihre künftigen Schwiegereltern in der Lage waren, Professoren zu
delegieren. Könnte das keine Erklärung sein, warum Sie ihre Lebensgefährtin in
die Schlacht schickten?“
„Genau so war es – ich hoffte auf einen Lernerfolg. Wobei ich nie
behauptet habe, es handele sich um eine persönliche Delegation. Das waren magnetische
Wirkungen, sie sollten bedenken, in welcher Traditionslinie dieses
Beamtenehepaar beheimatet war. Den Publizisten und Regierungsrat aus der
Nazizeit haben Sie selbst genannt. Später gab es sowohl in den USA wie bei den
Kommunisten universitäre Abschlüsse, unter denen ein Romanist, promovierte Juristen
und ein Slawist zustande gekommen waren. Das waren eben nicht nur kleine Leute,
auch wenn Informalisierung und SPD-Orientierung dafür sorgten, die akademische
Abschlüsse nicht zu zählen, schließlich waren diese Alten progressiv. Das
tatsächliche Problem der Beamtenwelt war die Ausgrenzung der Realität. Das
endlose Geschwätz, die sinnlose Selbstdarstellung verdünnten die
Lebensintensität; den Mangel hatten dann Intrigen, Gemeinheiten oder harte
Verbalerotik zu kompensieren. Häufig genug war ich als Außenseiter dazu
genötigt worden, als Gebrauchtintensitäten-Vermittler zu dienen. Der Lebensnerv
der Stillgestellung ist die Verleugnung – dagegen hilft nur der ungepufferte Zusammenstoß
mit der rauen Wirklichkeit. In solchen Weltzusammenhängen begann ich die Regeln
einer Katastrophenpädagogik zu erahnen, die ich dann später produktiv
umzusetzen hatte. Nur wenn es richtig weh tut, ist eine minimale Chance
freizusetzen, auf die Komfortzone des Zerredens und des Selbstbetrugs zu verzichten.
Nur unter Schmerzen wird gelernt, nur wenn es nicht anders geht und man sich
substantiell bedroht fühlt. So gesehen war es in meinem Interesse, die
Furzideen meiner Freundin mit der ungeschönten Wirklichkeit kollidieren zu
lassen, bis sie sich für einige Zeit der Notwendigkeit fügte, auf meiner Seite
der Front zu stehen. Als es wirklich darauf ankam, taugte sie zu einer
schlagkräftigen Unterstützung. Aber das hielt gerade so lange, bis sich die
selbsternannten Gegner unter den Bildungsbeamten verkriechen mussten – danach
war die alte Regieanweisung, mich in Frage zu stellen, wieder virulent. Dieses
Mal eben mit der Motivation, sich an mir zu rächen, weil ich die ersten Jahre
nicht eingesehen hatte, die Verantwortung für meinen Fixerbruder abzulehnen,
ihn also gleich zu Beginn zu verabschieden. Ihre libidinöse Besetzung der
Drogenszene war eine Reaktivierung der alten Abwesenheitsdressur, diente aber
in the long run dazu, meine Distanz zu erhöhen und mich zu weiteren Leistungen
anzutreiben.“
„Und wie soll das gegangen sein? Tatsächlich unterstanden Sie doch einer
viel umfassenderen Katastrophenpädagogik, die auf alles angewendet wurde, was
Sie zustande bringen wollten!“ Wolhe wittert wieder einmal eine Chance, ein
grandioses Scheitern zu beschwören. Die rhetorischen Schlenker dieser
Vertreterin der political correctness stinken nach Neid und Zukurzgekommenheit.
„Das ist nicht sehr zielführend!“ Albach macht sich sogar die Mühe, den
Störversuch auszuhebeln: „Es geht Ihnen anscheinend darum, Schuldgefühle
freizusetzen und Abhängigkeiten zu bestätigen. Manchmal denke ich, Sie haben
den Ehrgeiz an jener Macht teilzuhaben, die jede wache Lebendigkeit dem Tabu unterstellt.“
Sie lächelt, als freue sie sich darauf, mich bald da zu haben, wo Sie
mich haben will: „Er hat meine Frage nicht beantwortet. Tatsächlich hat er sich
auf einem Nebenkriegsschauplatz verzettelt und die wesentlichen Entscheidungen
umspielt. Wie soll denn sowas gehen?“ Wieder zuckersüß mit einer Kinderstimme.
„Dieser Nebenkriegsschauplatz war die Frau meines Lebens, ich kann mir
noch heute keine andere vorstellen – aber es war über weite Strecken ein Todeslauf.
Es gab immer wieder den Punkt in meiner Biographie, an dem ich in die
Verzweiflung über so viel Sinnlosigkeit abstürzen sollte, wenn ich nicht den
Notausgang fand und einfach neben mich trat: Beobachtend, wie der Musik das
jetzt hinbringen würde. Wenn ich nicht involviert war, kapierte ich, warum
meine Freundin irgendwelchen Zwangsmechanismen unterstand, die sich nach jedem
Kontakt mit der Mutter enorm steigerten. Dann konnte ich mir sagen, sie sollte
doch tun, was sie machte, bis sie selbst kapierte, wem sie damit einen Gefallen
tat. Ich musste mich der viel wichtigeren Aufgabe widmen, uns irgendwie hinter
den Behinderungssystemen ankommen zu lassen. Und die Energie stand wieder zur
Verfügung – denn das war die eigentliche Erklärung der Störungen: Wir sollten
die von uns freigesetzte Kraft nicht selbst nutzen können.“
„Ok, das haben wir alle schon kennen gelernt, die Ausbremsung oder die Erfahrung,
wie unendlich müde die psychotischen Strategien machen“, unterstreicht Albach:
„Damit haben wir eine nachvollziehbare Erklärung, warum in Ihren Texten so
großen Wert auf die exakten Beschreibungen kleiner Psychotiker gelegt wird. Es
gehört wenig dazu, sich mit Cracks auf der gleichen Ebene zu messen und an
ihnen zu wachsen. Viel entscheidender scheint die Ihre Geschichte kennzeichnende
Erfahrung, mit welchen Techniken der Analyse und der Selbstdistanzierung die
dauernden Nadelpiekse subalterner Arschlöcher auszuhalten sind – und natürlich
auch, mit welchen Tricks man ihnen die Rechnung präsentiert.“
„Noch dazu gibt es davon zu viele. Man braucht, wie meine Freundin damals
meinte, eine Engelsgeduld, bis die Negation auf die Leute zurück fällt, die
sich für so unwichtig halten, dass sie alles Mögliche veranstalten, um endlich
einmal wichtig zu sein. Schon diese Einschätzung war fraglich: Wenn man nicht
aufpasste, transportierte sie irgendwelche bösen Wünsche, sorgte für eine Negation,
die sich einschrieb. Es war eher angeraten, witzig zu finden, was sie sich einfallen
ließen, noch dazu lieferten sie sich damit aus. Wenn mir irgendwelche
Informationskanäle die Opfer unter den Delegierten jener Krüppelzüchter präsentierten,
hatte ich nicht unbedingt das Gefühl, das Signifikantennetz ließ mit seinen
Konsequenzen lange auf sich warten. Die Macht korrumpiert, in ihrem Zentrum
lauert die Psychose. Wer erst einmal von ihr gepackt wird, ob Frau oder Mann, erfährt
die von Lacan auf den Nenner gebrachte Regel: Das Geschlecht zählt nicht. Also
ist es angeraten, den Kampf um die Macht durch Geduld und Hingabe zu ersetzen
und sich auf die Mythen des Geschlechts einzulassen.“
„Das passt jetzt nicht hierher!“ Der Moderator will das Thema fast unwirsch
abbügeln, er spielt mit den Datenpaketen, die dunkle Schatten von Helferlein
vor ihm auftürmen: „Wir haben schon einiges über diesen Restbestand eines
mythischen Zeitalters gehört. Aber in diesen Zusammenhängen führt es uns erst
mal auf eine ganz falsche Fährte.“
„Damit bin ich nicht einverstanden. Aber das haben wir mit Ihrem Gadget
schnell geklärt.“ Mit einem Handgriff habe ich die Kappe übergezogen.
Seit Menschengedenken wird davon
ausgegangen, wir gelangen in den Grund der Welt, wenn wir uns in den Grund der
eigenen Seele versenken! Das erklärt sogar, warum die Mimesis eine
semimaterielle Fundierung der Erfahrung und des Wissens liefert, wir also nicht
mit den eigenen Setzungen und Konstruktionen stillzustellen sind. In diesen
Zusammenhängen werden die Bedingungen der Möglichkeit eines Geistesblitzes
fundiert. Damit zeigen sich die Voraussetzungen für den Sprung auf ein anderes
Niveau des Signifikantennetzes. Es sieht so aus, als zeichnen theoretische
Physik und Psychoanalyse ganz ähnliche Muster nach. In extremen Konstellationen
umreißen verzweigte Verweisungszusammenhänge und auf engstem Raum
konvergierende Wechselbezüge die ambivalenten Wertigkeiten, die wir mit der
Sprache nur näherungsweise erreichen. Die großen mythischen Figuren gingen im
Fortgang der Zeit an der Komplexitätsreduktion, also an der durch Abstraktionen
entstandenen Stumpfheit und Empfindungsunfähigkeit zugrunde. Was nicht heißt,
sie verschwanden damit einfach, denn sie tauchten in den Gesetzmäßigkeiten
einer Partitur, bei den Spielereien eines Bastlers oder den Zwängen einer
Neurose wieder auf. Die ursprünglichen Einsichten der ersten Naturphilosophie
wurden mittlerweile wieder in ihr Recht versetzt, um nach und nach stabile
Felder in den Medien zu besetzen. Selbst die Verbalerotik, die pervertierte
Alternative, das politisch-korrekte Denken haben Teil an jenen agonalen
Mechanismen, die einst von der Tragödie aufgeschlossen worden sind. Die Fragen
nach der Materie, nach Zeit oder Raum, nach Anfang und Ende des Geschehens,
münden in den gleichen Unvorstellbarkeiten, wie jenes Verhältnis von
personeller Macht und Selbstlosigkeit. Nicht anders scheint die Erfahrung des
Selbst in der Katastrophe auf genau jenen Quellpunkt der Macht bezogen zu sein,
in dem sich die Konstitution eines Ich mit der eines Gottes begegnet: Gott ist
ein Peptid.
Die klassische Beschreibung heißt: Jede
Kreatur ist gleich weit von Gott entfernt, aber alle zusammen sind Gott. Nur so
wird es verständlich, warum jede/r in gewissen Augenblicken den göttlichen
Funken vergegenwärtigen kann. Eine Errungenschaft des deutschen Idealismus hat
wesentliche Ahnungen der Mystik kommunizierbar gemacht: Du kannst Gott nicht
begegnen, Du kannst nur in gewissen Augenblicken zu Gott werden. Damals wurde
denkbar, wie Gott sich in unseren Reflexionsfiguren zu realisieren beginnt. Der
Bezug zum tierischen Magnetismus symbolisierte zudem eine Rückbindung der
Inkarnation an das körperliche Geschehen.
Einer der sichersten und zugleich
gefährlichsten Wege in dieses Rund, in das wir nach Sloterdijk ein Leben lang
kommen wollen, ist die Liebe! Das Rätsel, das uns immer wieder neu zu lösen
aufgegeben ist, lautet, die Gesetzmäßigkeiten, die die schicksalshafte
Unzugänglichkeit des Ursprungs anzeigen, in unserer Beziehungsarbeit wirklich
werden zu lassen. Eine Argumentationsfigur der negativen Theologie liefert
zugleich die interessanteste Form der Selbstvergegenwärtigung, die mir bisher
begegnet ist. Wenn wir uns kein Bild machen sollen, aber nach diesem Bilde einer
unvorstellbaren Entität, die vor allem Sein ist, geschaffen worden sind, findet
sich in den verschiedenen Offenbarungen des Selbst genau jenes kreative Nichts,
jener energetische Wirbel, dem die unwahrscheinlichsten Entwicklungen entspringen.
Tatsächlich zaubern wir in gewissen Augenblicken unseres Lebens – wir haben nur
keine Macht darüber. Die Institutionen versuchen, in Bildern und Riten ein
Geschehen, das den Menschen übersteigt, das eine umgreifende aber nicht zu
fassende Macht offenbart, für Dressurakte auf einen Nenner zu bringen – und
dabei lautet unsere Aufgabe, dieses Geschehen gewähren zu lassen!
Charlus fährt mir in die Parade: „Das wundert mich jetzt. Ich dachte
immer, Sie wehren sich gegen den Anspruch des Imaginären, gegen die Vorherrschaft
der Vorstellungen und Bildwelten?“
„Das stimmt. Bilder können bannen oder verzaubern, Neid und Begehren auslösen,
weil Sie sich direkt an die Mimesis richten und in das Zeitalter des
Nachahmungszwangs zurückreichen. Sie scheinen unmittelbarer zu wirken als die
Sprache, die auf den Distanzleistungen der Übersetzung beruht. Aber das ist nur
ein gradueller Unterschied, denn auch hier werden Zeichensysteme differenziert
und interpretiert. Wer am Bilderverbot klebt, will nicht wissen, dass
in den sublimierten Formen der Trieberfüllung noch immer das gleiche göttliche
Gesetz herrscht: Gehorche den heiligen Schwingungen! Unsere optischen
Wahrnehmungen mögen weniger kodifiziert sein, wenn wir davon absehen, dass
Sehgewohnheiten und kultureller Kontext einer eigenen Grammatik und einem
Bedeutungslexikon unterstehen – aber auch sie sind vor allem erst einmal
Schwingungen. Wenn unsere Wahrnehmung sie aus der Verdinglichung entlässt,
unterstehen sie den gleichen Einschränkungen wie sprachliche Formulierungen.
Das Tabu resultiert aus absurden Reinheitsgeboten, die einst die höchste Form
des Schweigens gefordert haben: Gewisse Zusammenhänge durften nicht einmal
vorstellbar sein. Eine unüberschreitbare Grenze trennt Sprache als Medium einer
gewollten und bestimmten Mitteilung von der Musik als dem Ausdruck des
Schwebenden, Fließenden, das nie genau zu umschreiben ist. Dennoch kann sie
unseren Sinn für Ganzheiten präzise ansprechen, weil sie das Geheimnis des
Lebens auf der Ebene der Formen nachspielt, ohne es sofort auf einen Nenner zu
bringen, damit dem Geheimnis im Schweigen huldigt, ohne der Verführung
nachzugeben, es durch einen eindeutigen Begriff platt zu machen. Es sind die
Harmonien, die uns bewegen, bedrohen oder die mühsam erworbenen
Gewohnheitsmuster aushebeln, die der Ersparung von Erfahrungen dienen sollten.
Sie schließen uns kurz mit einem kosmischen Geschehen, das unsere Fassungskraft
übersteigt und dem wir nur gerecht werden, wenn wir uns sprachlos behutsam dem
Geheimnis öffnen. Tatsächlich ist bereits jedem Genuss die Bedrohung der
personalen Autonomie beigemengt.“
„Das ist für einen
logisch denkenden Menschen nicht mehr nachvollziehbar!“ Der Moderator versucht
mich abzuwürgen: „Diese Bedrohung, von der Sie sprechen, ist ungenießbar und
eine Zumutung für jeden, der sein Leben selbst in die Hand nehmen will.“
„Zu meiner Umformatierung gewisser Zen-Einsichten gibt es einen kleinen
Vortrag in der Akademie des Wissens, der bisher unter Verschluss gehalten wird
und nicht veröffentlicht werden durfte. Vielleicht machen Sie sich bei dieser
Gelegenheit stark dafür.“
Ein paar zackige Computergraphiken huschen über die Wände, ihm ist die
Überwindung anzusehen, als er sagt: „Wir prüfen Ihre Thesen zum Blankpolierten
Spiegel, die zugegebenermaßen ernsthafte Konsequenzen für die Selbstdefinition,
damit aber für ein erfolgsorientiertes Handeln haben müssten. Manches ist
stimmig, vieles sieht aber nur aus wie ein glücklicher Zufall oder, je nach
Perspektive, ein zufälliges Unglück ihrer Gegner.“
Charlus unterbricht
ihn: „Vielleicht
hat er nicht nur ein Mythologem variiert, das schon immer im symbolischen
Tausch mitgedacht war? Vielleicht ist er in den postmodernen Zusammenhängen auf
ein Strategem gestoßen, das bereits in der frühen buddhistischen Weisheitsleere
aufgetaucht ist und in den subversiven Ansätzen des frühen Christentum noch
einmal virulent wurde!“
„Wir können uns hier in irgendwelcher Esoterik verlieren, dann aber nicht
sehr weit kommen.“ Der Moderator reagiert unwirsch: „Also zurück zum Thema:
Warum dieser Aufwand, warum der Anspruch der Inkommensurabilität, wenn Sie auf
das reflexionsarme Medium Computer ausweichen?“ Seltsamerweise visualisieren
die Spielereien im Hintergrund psychedelisch verfremdete Computerplatinen und
die Blaupausen von Schaltplänen.
„Erst mal eine kleine Korrektur: Ich habe das Gefühl, Sie identifizieren
den symbolischen und den ökonomischen Tausch. Damit ginge aber ein wesentliches
Differenzkriterium für die Gestaltung eines eigenen Lebens verloren –
Authentizität ist keine Kategorie der Statistik, außerdem abstrahiert der
ökonomische Tausch vom Sinn. Aber zurück zur ursprünglichen Argumentation: Mit
der Promotion hatte ich es endlich geschafft, die jahrelange Irrealisierung
meiner Existenz durch das Beamtensystem in die Knie zu zwingen. Meine Freundin
kapierte den Betrug, den ihre Identifikation mit dem Vater verdeckt hatte. Das
gemeinsame Projekt des Ottobuchs sollte sie in meine Welt rüberziehen. Die
Quittung erhielt ich, als wir das Manuskript abgeschlossen und in einem kleinen
Verlag mit Druckkostenzuschuss untergebracht hatten. Dieser Teil der Arbeit an
einem Buch war anstrengend und raubte zusätzliche Zeit und Nerven – ich weiß
nicht mehr, wie vielen alternativen Verlagen ich einen Ausdruck zugeschickt
habe. Außerdem war eine ernüchternde Erfahrung, dass der sogenannte
Druckkostenzuschuss fast dreimal so hoch war, wie die Bibliothekstantieme der
VG-Wort, die wir im folgenden Jahr bekamen. Mit der Technik hatte ich von
Anfang an angezielt, mich von den üblichen geisteswissenschaftlichen Netzwerken
und dem konventionellen Verlagswesen unabhängig zu machen. Es brauchte nicht
mehr lange, bis ich mich dank des für MS-DOS-Verhältnisse enormen
Hauptspeichers des Atari St mit dem Satzsystem Tex/Latex vertraut machte. Was
Sie als reflexionsarmes Medium bezeichnen, war für mich Werkzeug und Medium
zugleich. Ein Computer ist nur so gut, wie die Person, die ihn sich
entsprechend des bestehenden Repertoires zunutze macht, aber er setzt einen in
die Lage, die Resultate zu potenzieren.“
„Sie sind mit dem Computer auf einen anderen Schauplatz ausgewichen!
Noch dazu, um sich über diesen Umweg mit einer Armatur zu versehen, dank der
Sie nicht nur Ihre Unabhängigkeit von der Universität durchsetzen konnten. Sie
wollten sich in der Position des Verlegers auf der gleichen Ranghöhe wie ein
Bildungsbeamter situieren, um dann ihre harsche Kritik an Verbalerotik und
eitler Selbstdarstellung zu lancieren. Quasi aus erster Hand – eben ohne ein
Vermögen im Hintergrund, ohne die Einflussmöglichkeiten eines Familiensystems –
und wie Sie erklärt haben, noch dazu gegen die mächtigen Bremsversuche künftiger
Schwiegereltern!“
„Im Nachhinein können Sie die Entwicklung so interpretieren. Tatsächlich
hat mich diese Beamtenfamilie dazu gebracht hat, die Gegenbewegung auf der Uni
selbst zu provozieren. Ich hatte über stillgestellte Simulanten gelästert und
wollte mit unterdurchbluteten Arschlöchern nichts zu tun haben – aber das waren
genau jene Losungsworte, unter denen gewisse Bildungsbeamte sich ertappt
fühlten. Sie wollten mich aus ihrer alles andere als befriedeten Welt entfernen.“
„Das heißt also“, fasst Albach zusammen: „Sie haben im Kampf um die Frau
ihres Lebens eine Wahrheit ausposaunt, die für ihre weiteren Möglichkeiten zu
einem Ausschlussverfahren führte. War Ihnen damals noch nicht klar, dass eine
Institution in einer klaren Rivalität zur Paarbeziehung steht? Die Regeln des
symbolischen Tauschs können auch gegen die Beziehungsarbeit eingesetzt werden:
Der Durchschnittsmann flieht vor den Ansprüchen einer Partnerin in die Institution;
dort kann er sich beweisen, dort kann er unverbindliche Seitensprünge
riskieren, während im Herrschaftsbereich seines Heims Forderungen an ihn
gestellt werden, Gegenleistungen erwartet werden, die völlig unvereinbar mit
Geilheit, Karriereplanung und Hierarchie sind. Wenn er nicht selbst auf die
Verlagerung seiner Libido kommt, gibt es sanfte Druckmittel, von der Belohnung
der Eitelkeit bis zur Förderung der Karriere, um die Besetzung der gewünschten
Themen zu garantieren. Solange Sie gedacht haben, die Anerkennung und den
Erfolg innerhalb der Geisteswissenschaften ihrer künftigen Frau zu widmen, sind
Sie von falschen Voraussetzungen ausgegangen. Sie haben daran gearbeitet, sich
als unliebsamen Kritiker kaltzustellen, die Alma Mater war schon immer sehr eifersüchtig.“
„Das war ein Fehler, das mag stimmen. Ich hätte vielleicht versuchen
sollen, die universitäre Armatur weiter zu befestigen – aber es ist längst
nicht gesagt, dass das geklappt hätte. Schließlich bin ich unter den
Voraussetzungen des Ausschlussverfahrens in Regionen vorgestoßen, die mir sonst
nicht erreichbar gewesen wären. Interessant wurde ich für die Funktionäre in
den Machtpositionen, weil ich Wert auf meine Unabhängigkeit legte, mich allen
Vereinnahmungen entzog. Ein stabiles Abhängigkeitsverhältnis hätte nur dafür
gesorgt, mich an einer kurzen Leine ausbluten zu lassen, bis ich wirklich auf
ihre Förderung und Unterstützung angewiesen wäre – das hätte seinen Preis
gehabt: Die Liebe im Tausch gegen die Universalversicherung der Großinstitution!
Zur Verlagerung der libidinösen Besetzung war ich nicht in der Lage.“
„So, wie ich das sehe, waren Sie sehr wohl konfliktuell veranlagt“,
wirft Wolhe etwas verächtlich ein, die Plisseefältchen der geschürzten Lippen
wirken abstoßend: „Sie haben die Freundin gegen die Universität ausgespielt und
die Professoren dazu verwendet, das Signifikantennetz ihrer künftigen Schwiegereltern
in Schach zu halten. Dann haben Sie die Frechheit, zu behaupten, Sie hätte keine
Neigung zur konfliktuellen Mimetik, weil Sie nicht in der Lage seien, sich mit
jemanden zu identifizieren!“
„Das war ein Lernprozess, sicher aber kein Ausspielen. Sie verkleinern
den Konflikt zu einem Machtspiel auf der gleichen Ebene, während ich mich lernend
vorantastete, um auf mehreren Ebenen zu agieren, die für mich erst einmal
nichts miteinander zu tun hatten. Ich musste Geld verdienen, dazu taugten die
Hilfsarbeiten; ich musste dokumentieren, dass ich kein durchgefallener Penner
war, dazu taugten die Uniabschlüsse; ich musste dafür sorgen, dass der Raum für
kreative Eigenarbeit mit einem Minimum an Kosten zur Verfügung stand, dazu
taugte die Hausmeisterwohnung. Erst im Nachhinein war zu sehen, wie die
Einflusssphären immer präziser ineinander griffen. Das war als bösartige
Paranoiadressur gedacht, aber es sollte nicht lange dauern, bis der soziale Tod
die unterstellte Identität als eine Illusion erwies. Erst die in die eigene Geschichte
eingeschriebene Differenz liefert die eigentlichen Wahrheiten. Wir sind nicht
mit unserer Geschichte identisch, sondern immer schon mehr, oft weit voraus.
Dank dem Glück des Unvorhergesehen sind wir in verschiedene Geschichten
verstrickt, die den Zwang zum identisch Einen löchern, nebenbei ein Repertoire
der vielen Welten befördern.“
„Das greift schon wieder viel zu weit vor“, Der Moderator versucht an
seinem Kurs festzuhalten: „Der Versuch, in den Computer auszuwandern war wohl
der virtuelle Ersatz für den sozialen Körper, der Sie gerade ausgespuckt hat!“
„Warum denn? Ich lehnte von Anfang an jede Art von Karriereplanung ab.
Ein Ausschlussverfahren war keine Strafe, denn ich hatte nie das Bedürfnis gehabt,
dazu zu gehören. Ich wollte mir nur die Legitimation verschaffen, weiterhin zu
lesen, was mich interessierte, zu schreiben, was ich für richtig hielt.“
„Das ist eine schwache Erklärung, die ich Ihnen so nicht abnehme“,
erklärt Wolhe: „Wenn Sie bei Ihren Ausspielversuchen erfolgreich gewesen wären,
müssten Sie nicht erklären, warum Sie keinen Wert auf eine sichere und gut
dotierte Stelle legen! Noch dazu, wenn wir heute nachvollziehen können, wie
konsequent Sie die Themen weiter verfolgt haben, mit denen Sie sich in einigen
Situationen hervortaten.“
„Nach der Erfahrung der vergangenen Jahre bietet sich eine andere Erklärung
eher an. Als ich in der geisteswissenschaftliche Einbahnstraße dank eines Luxusmagazins
einen Haken schlagen, durch eine Kloake entwischen konnte, ergab sich wie
nebenbei ein Interpretationsansatz, der eine Vielheit von Welten impliziert,
der mir damit ermöglichte, einfach in einer anderen Welt weiter zu machen. Ein
Thema, das ich konsequent weiter verfolgt habe, diente vor allem dazu, die
angebliche Haltlosigkeit meiner Position relational abzusichern. Wenn Peirce
von Kant herkommend die Welt als trichotomisches Zeichensystem begreift oder etwa
zur gleichen Zeit bei Tarde das Leibnizsche System der Monaden zu einem
soziologischen und zeichentheoretischen
Verweisungszusammenhang von Interferenzen und Interdependenzen wird, in dem
alles mit allem zusammenhängt, gewinnen wir einen Interpretationsspielraum, der
uns den Aufenthalt in den verschiedensten Weltaspekten ermöglicht. Es gibt nie
nur eine Welt, schon die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen lädt zu Systemsprüngen
und Umformatierungen ein, wenn man/frau nur den Mut hat, sich von den Gewohnheitsmustern
der Interpretation zu verabschieden.“
„Das ist erst mal eine gewagte Behauptung!“ Wolhe hält an ihrer
schwachsinnigen Position fest. Der inhaltsleere Einwand wirkt schon sehr
verkrampft – jetzt weiß ich wieder, warum sie mir so unsympathisch ist: Das ist
ein Krampfbaby. Weil sie nie in der Lage war, sich im Wohlgefallen eines
begehrenden Blicks zu sonnen, hat sie alles auf den Machtrieb und die Disziplin
gesetzt.
„Das sehe ich nicht so. Solange es Ihnen gelingt, andere einzuschüchtern
und unter ihrer Macht leiden zu lassen, solange Sie ihren Selbstzweifel auf ein
Opfer delegieren, müssen sie nicht zur Kenntnis nehmen, was für ein unfertiges
und verängstigtes Krüppelchen in den eigenen Fühlfäden übermittelt wird. Und
das wissen Sie! Aber mit dem gewollten Mangel an Einfühlungsvermögen und auf
Kosten ihrer Opfer können Sie den Mangel verleugnen und den Neid auf die
attraktive Frau in eine moralische Instanz verwandeln.“
„Ich darf doch bitten“, unterbricht mich der Moderator: „Wir haben Sie
nicht eingeladen, um Ihnen die Möglichkeit zu geben, unseren Mitarbeiterstamm
zu dezimieren. Also zurück zur Fragestellung: Warum der Computer, warum haben
Sie sich nicht auf Lesen, Schreiben und Malen beschränkt? Sie verfügten über
ein viel kreativeres Repertoire für die so hochgeschätzte Eigenarbeit!“
„Für mich ging es tatsächlich um eine Umformatierung des sozialen
Körpers. Alle Medien vor dem Computer waren immer auf physikalische Körper angewiesen,
die der Vergänglichkeit unterworfen sind und als konservative
Aufschreibesysteme der Verdinglichung zuarbeiten – erst in dem mit Spannungszuständen
Zeichensysteme generierenden Totalmedium, das alle anderen Medien reproduzieren
kann, fällt der körperliche Träger des Mediums nicht mehr ins Gewicht. Weil ich
der Vernichtung unterstellt werden sollte, bot sich dieses Ausweichen in die
verlustfreie Handhabung meiner Biographie an. Noch dazu begegnete ich einer
reziproken Zeitkonstitution. Als Sohn eines Hilfsarbeiters und als Kuckuckskind
im Wunschhorizont einer Mutter kam ich erst einmal aus dem Nichts. Die
Ansprüche, mit denen ich in die Welt geschickt worden war, bereiteten eine
kritische Masse der Selbstzerstörung auf – erst die Erfahrung einer umfassenden
körperlichen Befriedigung machte dieses negative Potential zu einem
Anachronismus. Seit dieser Zeit, in der das Zuzweit des Paars den imperativen
Besitzanspruch der Mutter gebrochen hat, wusste ich, warum alles, was für mich
wichtig war, erst einmal selbst zustande gebracht werden musste. Ich hatte mir
Schritt für Schritt, dank der körperlichen Arbeit als Packer und Bote eine
Bibliothek aufgebaut, in die ich vor den Anforderungen einer schwachsinnigen
Wirklichkeit ausweichen konnte. Je größer die Infragestellungen wurden, je
umfassender wurde mein Bücherregal – es fehlte nur noch der Absprung in die
Digitalisierung.“
„Das nenne ich Eskapismus!“ Jetzt meint Wolhe, die auf die vorangegangene
Analyse keine Miene verzogen hat, mich getroffen zu haben: „Statt verantwortungsvolle
Tätigkeiten aufzunehmen, haben Sie die Zeit mit Hilfsarbeiten verplempert, sich
mit Hilfe der Literatur um das Realitätsprinzip gedrückt.“
„Aber klar, statt der Einladung zu folgen, mich auf eine Weltreise einzulassen,
wollte ich lieber ganz woanders hin. Wenn Ihre Einschätzung treffen würde, wäre
ich fast normal zu nennen gewesen. Was macht der normale Arbeitnehmer anderes,
als sich um die Frage nach dem Sinn zu drücken und in die Leistungsspirale aus
Dauerkonsum und Massenunterhaltung auszuweichen. Das war eben nicht alles. Ich war
auf das Realitätsprinzip angewiesen, um es als Waffensystem gegen die
selbsternannten Gegner auszurichten. Ich hatte Bildungsbeamte als Mitglieder
einer parapsychotischen Vereinigung zu demaskieren. Schließlich war mir
empfohlen worden, mich aus der Welt zu entfernen! Für meine Generation gab es
keine innere Emigration mehr, weil das System der Informalisierung die Grenzen
der Identifikation durch den Gegensatz eingeebnet hatte. Es brauchte eine an
den Prinzipien der Chaostheorie ausgearbeitete Gegenposition, wenn ich nicht in
den Verliesen der Parapsychotiker verfaulen sollte! An dem Punkt, als das
Sozialisationsprodukt eines Hilfsarbeiters in die Lage versetzt wurde,
Wissenschaftsminister zu provozieren oder eine ganze Fakultät auszureizen, war
klar, ich musste in andere Weltbereiche auswandern. Der Rechtsanwalt, der
einmal mein Erzeuger gewesen sein sollte, machte sich nur noch als ein Schatten
bemerkbar, der dafür sorgte, dass mir irgendwelche Juristen Schwierigkeiten
bereiteten und dabei erwiesen, was für kleine, subalterne Deppen dieser
Berufsstand hervorbrachte. Ohne mir darüber Rechenschaft ablegen zu können,
arbeitete ich mich über Jahrzehnte dank der imaginären Vorgaben meiner Mutter an
jenem Unrechtssystem ab, das ihre Kinder mit germanischen Namen belehnt hatte. Geisteswissenschaftler
und Juristen waren am völkischen Mythos in den Himmel der Bedeutsamkeit gehievt
worden, in den Zusammenhängen der Hitlerei war die Verleugnung der
Subalternität zur Souveränität ernannt worden. Das war die Prämie, mit der die
Nazis Millionen kleiner Arschlöcher bei der Stange hielten: Sie konnten Macht
ausüben, sie durften mit Füssen treten, was ihnen überlegen war!“
„Diese Spielregeln sind uns bekannt“, meint Albach desinteressiert: „Das
wissen wir seit den Untersuchungen der frühen Kritischen Theorie, mit den Männerphantasien
eines Theweleit ist es zur Basis einer anspruchsvollen akademischen Ausbildung
geworden. Wir wollen wissen, warum es Ihnen gelang, auf einem dank der
Informalisierung verlorenem Posten standzuhalten. Alles was für ihre Generation
als Schibboleth des kritischen Denkens getaugt hatte, war doch tatsächlich
durch die Gesetzmäßigkeiten des Massenmarktes zu Plattheiten und
Erkennungszeichen der Selbstdefinition abgenudelt worden. Das Prinzip Hoffnung
oder das Repertoire an Möglichkeiten der Weltveränderung waren im Geschwätz, in
den Formen der Selbstdarstellung, in den Parolen einer politischen
Lagermentalität verloren gegangen. Die Abweichung und die Alternative waren zu
Marktmechanismen geworden. Gerade die Intention anders zu sein und einen
eigenen Lebensstil zu pflegen, war das Erkennungssignal, unter dem sich das
neue Markenbewusstsein sammelte. Der Warenfetischismus sprang wie von allein
über, prägte einen Kult des Ich. Schließlich wurde noch bestätigt, welchen Halt
und welche Sicherheit der Fetischismus vermittelte, welche grundsätzliche
Fundamentierung er unerkannt schon immer geleistet hatte. Was haben Sie also
anders gemacht?“
„Nichts, ich habe mich aus dem Spiel der Rivalitäten ausgeklinkt. Ich
musste diese nachgemachten Menschen nicht bekämpfen, nachdem ich kapiert hatte,
wie bestes Wissen in warmen Wind überführt worden war, wie die brauchbarsten
Einsichten unter dem Zugriff einer kulturschwulen Gemeinschaft zu Formen der
Verbalerotik pervertiert wurden. Ich wollte damit nichts zu tun haben. Aber
weil das Wissen notwendig war, um die Verstrickung in einem perversen
Familienroman aufzusprengen, hatte ich die nötigen technischen Errungenschaften
auf einer anderen Ebene des Kommunikationsgeschehens für den kritischen Zugriff
nutzen.“
„Aber warum die Huldigung der Digitalisierung“, wirft Wolhe ein:
„Während Sie doch daran arbeiteten oder daran arbeiten sollten, mit ihrer
Lebensgefährtin einen Lebensplan zu entwickeln? In solchen Fällen sorgt man
sich und bereitet eine gemeinsame Zukunft vor.“
„Ich denke, das
haben wir bereits geklärt! Wenn es das Sein nicht mehr gibt und Wahrheit zu
einer Funktion von Sätzen degeneriert ist, gibt es noch immer den Antrieb des
Wissen-Wollens, das Bedürfnis, sich in einer Welt jenseits der Lüge und
Verleugnung, jenseits der Manipulation zu bewegen. Zu einem biographisch
bedeutsamen Datum begegnete ich einmal dem Traum vom Ganzen der Welt, der
Hoffnung auf den Schlüssel für das große Geheimnis, auf das umfassende Wissen.
Unter dem Einfluss jener Intriganten, die mich vereinnahmen und ausbremsen
wollten, kapierte ich, es war als Ganzes nicht zu haben. In manchem Fall aber
in der perspektivischen Verkürzung: Wenn ein Geistesblitz die notwendige
Einsicht frei setzte, wenn die richtige körperliche Reaktion einen kleinen
Vorsprung vor den anderen gewährte, wenn die Lust für einen Augenblick die
Gegenwart zur Unendlichkeit werden ließ. Ich wollte wissen, im Endeffekt im
biblischen Sinne erkennen. Weil ich fremd war, habe ich oft das Gefühl gehabt,
der Körper sei nur ein schlecht sitzender Anzug, die Selbstdefinition
überzeugte nicht, die Reden und Handlungen schienen nur nachgemacht. Aber unter
dem Einfluss der magischen Verfolgerkausalität geschah etwas mit mir: Ich wurde
nach draußen katapultiert, betrachtete mich von Außen. Auf einmal wusste ich,
die ganzen Fraglichkeiten des Selbstverständnisses und der Körperlichkeit waren
einem Tabu zu verdanken. Nicht ich war zu schlecht auf diese Welt vorbereitet
worden, sondern die war mit all denen, die schon da waren, so unvollkommen und
zurückgeblieben, es war kein Wunder, wenn nichts wirklich stimmte – primär
sollte ich mich gar nicht zurechtfinden. Damit gibt es einen wesentlichen
Unterschied zum kosmischen Verständnis der Gnostiker. Sie definierten sich als
Fremde, bewiesen sich durch die Entfremdung vom eigenen Körper die
Verbundenheit mit dem Göttlichen. Während ich mich dank der Entfremdung von den
Folgen des Körpertabus entfernte, bei der Entdeckerfreude, der Lernfähigkeit
des Ganzen Körpers anlangte: Ein aktiver Teil der Schöpfung selbst zu sein! Das
Glück des Unvorhergesehenen ist ein Resultat jener Entfremdung, die den Motor
unseres Lernvermögens ausmacht. Die Seele zeigt sich in den Fingerspitzen und
auf der Haut, die subliminalen Wahrnehmungen speisen das Sinnenbewusstsein, der
Ich ist nur ein Ausguck in einem Meer vielfältiger Wissensweisen. Ich konnte
mit der Nase schlussfolgern und die Gefahr wittern, im Herz der Gegenwart wurde
die unmittelbare Zukunft sichtbar.“
„Das will ich noch
ein bisschen genauer wissen. Die Nietzschereminiszenz reicht uns hier nicht“,
Albach spielt listig den Sekundanten, er will wohl dafür sorgen, dass ich mich
in irgendwelchen Nebensächlichkeiten verrenne.
„Einverstanden, aber
dazu greife ich wieder auf das Spielzeug zurück.“
Die Seele ist das Fließgleichgewicht all
der körpereigenen Drogen, die im besten Fall wie eine gelungene musikalische
Improvisation auf der Grundlage der im Laufe eines Lebens dichter und tönender
werdenden Harmonie antwortet und sich durch die Zeiten und Räume mitteilt. Erst
die Entfremdung von all jenen scheinbaren Sicherheiten, die wir der
sozialisierten Normalität verdanken, produziert jenen Überschuss, mit dem wir
den Hörraum herstellen, in dem die Koordination des Hier und Jetzt ermöglicht
wird. In diesem Zusammenhang greift die Kritik an den Bildwelten und der
Vorherrschaft des Imaginären. Wenn wir mit dem ganzen Körper hören, vermittelt
der Gleichgewichtssinn der Präsenz die Nähe, so fern sie sein mag, mit einer
Ferne, die uns sehr nahe kommt. In diesem Raum des Schweigens beginnen
Harmonien zu klingen – das ist der Ursprung aller Geistesgegenwart! Nicht im
ich-denke, sondern in den Ahnungen und Schwingungen kommt das Repertoire dieser
Gegenwart auf uns zu. Die Blicke der Gegenstände wispern, das Rauschen uralter
Archive und das Knistern biomagnetischer Felder trägt uns die Weisheit eines
morphogenetisch strukturierten Kosmos zu: Wir haben teil an einer Sphäre der
Macht, in der Gedanken Wirkungen zeitigen. Wir partizipieren an einem über das
Geschick des Einzelnen hinausgehenden Geschehen, an einem Wissen, das quer
durch die Zeiten reicht. So verwundert es nicht, wie ich mit dem dort
vorliegenden Repertoire eine Psychotisierung umspielt und ausgehebelt habe.
Kamper verdanke ich einige feinsinnige
Differenzierungen, die nachvollziehbar machen, wie unendlich dicht vernetzt
eine Wirklichkeit ist, die geistesgegenwärtig erfahren wird. Wir sind
Wellenreiter in einem Meer von Wissensweisen und Sinneseindrücken. Wenn es gut
ist, verwandeln wir uns in die Welle selbst. Die starre Scheidung zwischen
Subjekt und Objekt zeigt sich als das Folterinstrument der
Wissenschaftsgeschichte, mit dem die Natur ihre Geheimnisse abgepresst bekam;
die Trennung zwischen dem Ich und dem Anderen ist tatsächlich etwas sehr
relatives, wenn wir die zarten Benetzungen und die abrupten Anverwandlungen,
die biomagnetischen Übertragungen und den harmonischen Gleichklang bedenken. In
diesem Zusammenhang erinnere ich an einen Vortrag Theweleits über den Dritten
Körper: Der Bezug zwischen Körpergedächtnis und Motorik führt wie nebenbei auf
die Forschungen zum Nachahmungsneuron. Wenn Sloterdijk hervorhebt, wo wir uns
befinden, wenn wir Musik hören, also in der Musik sind, bietet sich der Bezug
auf die Bewusstseinsforschung an: Der psychische Bereich, den die Musik
besetzt, ist jener Bereich des Dazwischen, jenes ursprüngliche Feld der
Nachahmungsneuronen, an dem der Quellpunkt einer erfolgsorientierten Semiose
anzusetzen ist. Natürlich werden gefühlsblinde Mütter und wissenschaftliche
Autisten von diesem Zwischenbereich nichts wissen wollen – sie befinden sich
seit der Mitte des 18. Jahrhunderts in einer unheiligen Allianz. Es geschieht
ihnen recht, wenn sie sich zur Strafe für ihre Verleugnung in einer Hölle der
Dumpfheit einrichten müssen.
„Und was soll dieser
Ausflug in Ihre Zitatzusammenhänge bringen?“ Wolhe darf ihren Fauxpas vergessen
machen und auf den wissenschaftlichen Standard pochen: „Für mich liefert das
Sammelsurium weder eine befriedigende Erklärung, noch einen sinnvollen Beitrag
zu unserem Forschungsprojekt!“
„Ein paar
Krüppelzüchter hatten versucht, uns unsere Grenzen zu zeigen, um sie dann enger
und enger zu ziehen – in jener Nacht, die zum Tode des Vorstands führte, habe
ich das Gefühl verloren, unsterblich zu sein. Allerdings wich meine Unschuld
dem Wissen, dass es Geistesblitze gab, die einem das Leben retteten, selbst
wenn sie Lebensjahre kosteten. Bei dem Todeslauf wurde erwiesen, dass wir
keinen imaginären Grenzen gehorchen müssen. Seit dieser Erfahrung tragen wir
die Verantwortung, ein brisantes Wissen vor der Pervertierung durch die
Institutionen der Lebensersparnis zu bewahren.“
„Das ist esoterischer Scheiß!“ Wolhe gibt sich nicht mehr die Mühe, die
selbst reklamierten kommunikativen Standards zu beachten. Mit den nötigen Anregungen
stellt sie sich vielleicht selbst ins Abseits: „Außerdem war das nicht die
ursprüngliche Frage. Also nochmal: warum die Huldigung der Digitalisierung?“
„Gerade deshalb – oder weil es so etwas wie einen Lebensplan nicht gibt!
Wenn wir meinen, einfach das zu tun, was unseren Prägungsmustern für Befriedigung
und Glück entspricht, bleibt nichts von einer wirklichen Planung übrig – nur
der Wiederholungszwang verstümmelter Krüppel, die sich mit ihrem Mangel an
Kenntnis und Erfüllung arrangieren! Meine abstoßendsten Erfahrungen habe ich
mit nachgemachten Menschen gemacht, die während der Sozialisation
eingetrichtert bekommen haben, sie sollen alles so machen, wie es alle anderen
machen. Natürlich gibt das Was-sollen-denn-die-Leute-denken Halt und Sicherheit.
Aber wehe, sie kommen in die Lage, am antiken Paradox des Kreters zu
verzweifeln oder resigniert versuchen, alle weiteren Anstrengungen eines
eigenen Lebens zu verabschieden. Was heißt es denn, wenn in den Lebenszusammenhängen
der Simulanten Lügner Lügner Lügner nennen – der Konformismus ist die geistige
Pest dieser Welt! Diese scheinbare Lösung des Sicherheitsbedürfnisses führt
irgendwann auf den Punkt, an dem die Betroffenen resignieren, weil sie um ihre
Lebenszeit beschissen, in Aggression oder Selbstzerstörung abdriften. Das
dritte Reich oder die DDR waren vor allem Resultate des Konformismus, was sich
an wertvollen Spaltprodukten der BRD ergab, war ein Resultat der Reeducation,
die sich im Nachhinein am Wertewandel der Weimarer Republik gesund stoßen
konnte. Das Vorhandensein konkurrierender, aber sich nicht ausschließender
Wertsysteme ist die unabdingbare Voraussetzung der Entwicklung des Denkens.
Wenn ich wirklich etwas Eigenes zustande bringen will, muss ich erst einmal den
Punkt erreicht haben, an dem ich erkenne, ich bin eine Null. Das ist eine
entscheidende Entdeckung, die wir den Arabern verdanken. Diese Chiffre war eine
erste Variable; sie transportiert damit bereits die Funktion des
inhaltsleersten Signifikanten, nämlich die des Geldes – und das ist, seit die
Illusion der Bindung an einen Goldstandard dahin ist, die umfassendste der
Welt!“
„Dieser Bezug auf die Null und das Nichts ist ine theologische
Erbschaft! Noch dazu gab es Spruchweisheiten, die das Geld mit Gott gleichsetzten.“
Albach ist mit der Tradition vertraut, ich muss mich bei seinen Einwänden mit
keinem Schwachsinn auseinandersetzen. Ganz folgerichtig bringt er eine Fraglichkeit
auf den Nenner, die mich oft beschäftigt hat: „Mich wundert nicht, dass Sie
wesentliche Einsichten für die Verabsolutierung von Speichersystemen und die
allmähliche Verfertigung junger Götter bei Heidegger und Voegelin geborgt
haben. Also noch einmal: Sie sind in den Computer ausgewichen, quasi als
inneres Ausland Ihres Bücherregals! Aber war das nicht schon Beschäftigungstherapie
und Resignation? Haben Sie denn in irgendeiner Weise eine Chance gesehen, die
Verwirklichung Ihres Wunschhorizonts umzusetzen?“
„Ne, natürlich nicht – mal abgesehen von dem wichtigen Lernpensum während
des Studiums, man/frau muss sich von Wunschhorizont und eigenem Begehren
verabschieden. Und zwar nicht durch Askese, sondern durch Überreizung und
Erfüllung: Man/frau sollte nie unterschätzen, wie sehr unsere Sehnsüchte der
Vergangenheit verhaftet ist, sie machen die Aura aus, die ein Mensch oder eine
Situation für uns hat, während die Erfüllung, sei sie noch so instantan, in die
Zukunft verweist. Schon Benjamin hatte konstatiert, mit der technischen
Reproduzierbarkeit ging die Aura des Kunstwerks verloren – die zu verstehen war
als die momentane Vergegenwärtigung des geschichtlichen
Verweisungszusammenhangs, in dem das Kunstwerk für die Kontemplation
gegenwärtig wird. Benjamin war in der Lage, keiner idealisierten Vergangenheit
nachzutrauern, sondern die Erfahrung der entstehenden technischen Medien für
sich nutzbar zu machen, indem er Zukunft an ihnen dechiffrierte. Das instinktreduzierte
Lebewesen Mensch hält sich in vielen Fällen nur deshalb am Leben, weil es einen
starken Bezug auf die Zukunft hat, weil es anhand der Teleologie die Zeiten
verschränkt, um in der Gegenwart zu navigieren. In den dauernden Zusammenstößen
mit Neuem und Unerwartetem, den kleineren oder größeren Schocks, den
Erfahrungen der extremen Entfremdung, stellt sich für Augenblicke ein
Verweisungszusammenhang ein, der mit einem Relat in der Zukunft verankert ist.“
„Aber warum dann der Bezug auf das Nichts?“ Albach fasst noch mal nach
und hat sogar Agambens Fundierung in ‚Die Sprache und der Tod‘ zur Hand: „Wenn
alle Bestimmung nur durch Negation geschieht, muss ich doch nicht auf einen
biblischen Anfang rekurrieren, an dem das Nichts der Ursprung von allem ist.
Wenn Gott uns so fremd ist, dass wir ihm nur gerecht werden, wenn wir nicht von
ihm sprechen, ihn nicht zu benennen versuchen, also diese Anonymität im Zentrum
der Schöpfung akzeptieren, taucht sie eben im Motor unserer Erkenntnis und
Selbstdefinition auf. Wenn das das Geheimnis des abendländischen Nihilismus
ist, bleibt uns nur die Einwilligung in die Resignation!“
„Warum denn? Traditionen können tödlich sein, Gewohnheiten betrügen uns
um die lebendige Erfahrung. Wenn ich wirklich im Hier und Jetzt präsent bin,
stelle ich fest, wie sehr die Jetztzeit mit Zukunft gesättigt ist. Ich sah
keinen Grund, zu resignieren, sondern erwartete, mit der nötigen Zeit und einem
Schonraum des Experimentierens noch irgendwie eine Lösung jenseits der
verwalteten Welt zu finden. Außerdem ist der Bezug auf das Nichts sozialisationsbedingt
erst einmal ein Spiel mit den Tabus, die den Schoß umgeben. Den
pornographischen Sog lernte ich durch ausgiebige Begegnungen mit einer flutschigen
Möse in Schach zu halten. Dann dauerte es Jahre, bis mich der Bezug auf die
Null und das Nichts auf den von Grassi rekonstruierten mythischen Symbolbegriff
zurückführte, mit dem ich Benjamins Sprachtheorie als Versuch einer
Vergegenwärtigung unmittelbarer Präsenz interpretierte. Heideggers Bezug auf
das Sein greift zu kurz, wenn er Hermeneutik und Metapher als Resultate einer
metaphysischen Sackgasse kennzeichnet. Man nehme die Zeit weg, verzichte auf
das Telos und der Mensch lässt sich fallen, das ist der Tod. Vielmehr ist das
Sein nur als Metapher zu verstehen, als unvorstellbar vielfältig vermittelter
Verweisungszusammenhang in dem nichts es selbst ist und alles erst seinen
Stellenwert oder seine Bedeutung aus den Beziehungen erhält, zwischen denen es
sich befindet. Gegenüber dem Drängen des Gestaltbilds und dem Nachahmungszwang
der Bildwelten hat das Symbol eine prägnante Funktion, denn wir sind
Lautstromwandler, wir übertragen die fremde Körperspannung in die eigene und
beim Sprechen wird eine ganz eigene Intensität der Wirklichkeit übertragen.
Nach Lacan führt das volle Sprechen auf einen leiblichen Status der Präsenz
zurück, in dem das Symbol die Sache selbst ist. Agambens Ausführung zu einem
mythisch-traditionellen System, in dem der Akt der Überlieferung und ihr
Gegenstand absolut identisch sind, im lebendigen Vollzug bestehen, ist eine
nicht unwesentliche Ergänzung, denn das Koordinationszentrum des mythischen
Denkens ist der Leib. Im infinitesimalen Intervall zwischen dem Nicht-mehr und
dem Noch-nicht wird das Kontinuum der linearen Zeit aufgebrochen, wir werden in
den kritischen Augenblicken mit unserer Verantwortung für die Verwirklichung
von Präsenz konfrontiert.“
„Wollen Sie mit dieser Argumentation rechtfertigen, für fast zwanzig
Jahre zu keinem ordentlichen Gelderwerb in der Lage gewesen zu sein?“ Wolhe
bemüht den Holzhammer eines Spießerarguments.
„Wieso, ich habe überhaupt nichts zu rechtfertigen! Ihr Ansatz
beinhaltet noch lange keine Empfehlung für den Anpassungszwang. Die Jobs haben
immer ausgereicht, um den wichtigen Themen den nötigen Rahmen zu gewährleisten.
Während ich als Durchlauferhitzer Material sammelte, in den abwegigsten
Schmökern zu Hause war, ging ich erst einmal davon aus, unendlich viel Zeit zu haben.
Im Resultat ist uns die Interpolation gelungen, obwohl alle Beteiligten immer
darauf bestanden haben, die Auswanderung in eine eigene Welt komme dem Absturz
in die Anomie gleich. Wie es heute aussieht, ist die Zeit über viele Lösungen
einfach hinweg gegangen. In den Phasen, in denen wir es nicht geschafft haben,
im Hier und Jetzt präsent zu sein, haben wir aufgrund der Kämpfe einfach das
Wichtige verpasst.“
„Nun ja, ob Lautstromwandler oder Durchlauferhitzer – später als Anzeigenverkäufer
und Produzent von Promotions konnten Sie intellektuell
keine Ansprüche mehr stellen!“ Sie denkt, sie sei weiter am Drücker.
„Und? Was soll das, gerade weil ich jetzt das nötige Geld hatte, konnte
ich Ansprüche stellen. Noch dazu war ich am Telefon bundesweit präsent und habe
Umsätze zustande gebracht, mit denen ich genau jenes Wissen, das die Behördenuniversität
derart infrage gestellt hatte, in eine Zukunft transportieren konnte. Andere
vor mir haben Linsen geschliffen und nebenbei mit einer materialistischen
Metaphysik das geltende System des Wissens aus den Angeln gehoben. Irgendwo in
den Speichersystemen ist eine ausführliche Abschweifung über die Aktualität von
Spinozas Erkenntnistheorie vergraben. Ich steckte dank der Intervention einiger
Geisteswissenschaftler bis zum Hals in der Scheiße, noch dazu musste ich
während der Vertretung eines Bankboten zeitweilig auf den Händen gehen. Dennoch
erarbeitete ich aus lauter kleinen Schritten eine Zukunft, die mir nicht
vergönnt sein sollte. Der Bezug auf ein besseres Wissen ging nicht verloren,
sondern wurde eher noch bestärkt.“
„Sie hätten die Bank betrügen können oder einen der Päderasten erpressen,
die sie aus einem früheren Leben kannten“, wirft Bornhard schelmisch ein: „Warum
haben Sie auf einmal so penibel darauf geachtet, keinen Fehler zu machen, gegen
kein Gesetz zu verstoßen usw. – Sie hatten sogar Zugang zum Privatissimum einer
internationalen Bank, warum haben Sie nicht die Gelegenheiten genutzt,
Zahlungsanweisungen umzuleiten?“
„Das ist die Frage!“ Charlus ist wieder bei der
Sache: „Auf welches Machtpotential haben Sie zurückgegriffen?“
„Wer sagt denn, dies wäre keine Falle gewesen? Wer weiß, ob ich diesen
Job bei der internationalen Bank nicht nur deswegen bekommen habe, damit man
mich weiterhin kontrollieren, außerdem gewissen Verführungen aussetzen konnte.
Ich kam nicht einmal auf den Gedanken, irgendwelche illegalen oder kriminellen
Abwege zu versuchen. Diese eindeutige Haltung verdankte ich sogar der Intrige.
Weil unsere Umgebung derart mit üblen Nachreden und bösen Wünschen gesättigt
war, achtete ich darauf, keine mimetische Standleitung zur Negation zu
schaffen. Ab einem gewissen Zeitpunkt war mir klar, ich musste makellos sein,
damit die Negation auf die Leute zurück fiel, die ihre Delegierten dazu
angespitzt hatten, uns zu einem falschen, lediglich reaktiven Verhalten zu
verführen. Das Prinzip Blankpolierter Spiegel ist nicht vom Himmel gefallen,
sondern hat sich aus ganz konkreten Fraglichkeiten ergeben. Gewisse biomagnetische
Felder schossen zu einem Muster zusammen. Am Ergebnis, an den Ausfällen auf der
anderen Seite, konnte ich ableiten, wie richtig der Kurs war. Ich lernte
Kräftepfeile zu lesen wie eine KI an der Mustererkennung lernt, also nicht
anhand irgendwelcher Bedeutungen, sondern dank der syntaktischen Verknüpfungen.
In einem zweiten Schritt waren die Kräfte in Bedeutungen zu übersetzen, dabei
zu erfahren, warum Bedeutungen in gewissen Zusammenhängen wieder zu Kräften
werden. Nicht umsonst wurde die biographische Linie früher mit dem Steuern
eines Schiffs in Verbindung gebracht – steuern kann man nicht als autonomes
Subjekt, das sich auf die eigene Kraft verlassen will, sondern indem die
verschiedenen Spannungen und Widerstände in Dienst genommen werden, um das anvisierte
Ziel zu erreichen oder vielleicht sogar ein ganz anderes, dass sich als brauchbarer
erweist.“
„Das kybernetische Modell könnte eine Antwort sein, wenn hier nur ein
minimales Interesse an meinem Ansatz freizusetzen wäre!“ Charlus beginnt unwirsch zu werden – aber vielleicht versucht er eine
Außenseiterrolle zu simulieren, um mich einzuwickeln und dann mit einer
apodiktischen Definition zu überfahren. Ich habe schon ein paar Mal beobachtet,
wie er ein Thema behutsam durch gewisse Regeln eingekreist hat, um ab einem
gewissen Punkt alles auszuschließen, was seinen Regeln widersprach.
„Mein Gott, was für ein Brimborium müssen Sie in die Welt setzen“, Wolhe
ignoriert ihn, um mich einem Rechtfertigungszwang zu unterwerfen: „Tatsächlich
rehabilitieren Sie eine fatalistische Variante des Konformismus. Die Leute, die
nichts falsch machen wollen, am besten gar keine Position ergreifen, wollen
sich tatsächlich doch nur die Hände nicht schmutzig machen! Ein Musik, der
nirgends mitspielte, immer seinen eigenen Weg gehen musste… Aber für das
bisschen Geld brauchen Sie dann den Rückgriff auf eine längst verstaubte
Metaphysik. Nur um sich zu rechtfertigen, weil Sie tatsächlich nichts anderes
machen, als ein kleiner Buchhalter, der seine Pflicht erfüllt, um ein Häuschen
abzuzahlen. Vielleicht mit dem Unterschied, dass Sie es nie zu einer Immobilie
bringen werden!“
„Das ist richtig, ich werde mir niemals so einen Mühlstein um den Hals
legen. Damals bin ich durch diese Prüfung gekommen, weil ich beweglich war,
durch keinen Besitz ausgebremst wurde, weil ich alles anders machte, als es die
Leute erwartet haben, die gemeint hatten, meine Gegner zu sein.“
„Das ist völlig uninteressant!“ Charlus gibt nicht nach: „Ich hätte
jetzt gern noch ein paar Kochrezepte zu Ihrer Theorie des sozialen Todes
gehört. Was interessiert mich hier eine Rechtfertigung der Lebensversicherung
oder das Plädoyer für den Bausparvertrag. Die Leute, die darauf angewiesen
sind, werden nur doppelt beschissen. Man bricht ihren Willen, selbst aus dem
Leben etwas zu machen, dann zwingt man sie später, mit ihren Ersparnissen hauszuhalten,
damit sie der öffentlichen Fürsorge nicht auf der Tasche liegen!“
„Gern, in dieser Navigation anhand von Mustern gibt es kein sicheres
Wissen, aber weil ich einige Erfahrungen gemacht habe, ist es ganz spaßig, über
die Gesetzmäßigkeiten zu spekulieren. Der kultische Kern
der Tragödie hat immer einen Bezug auf das Wechselverhältnis von Tod und
Wiedergeburt; er zitiert in irgendeiner Form jene Initiationsregeln, die eine
Einführung ins Register der Sexualität darstellten. Das biomagnetische Gewitter
ist unsere erste und einzige Erfahrung des Göttlichen. Alles andere sind
Surrogate, mögen sie noch so aufgebauscht den
Aufenthalt in befriedeten Weltausschnitten verbürgen. Nur der Körper mit seinen
hormonellen Leidenschaften vermag der Sprache einen semantischen Gehalt zu
geben. Wenn wir die Götter suchen, finden wir sie genau dort, wo die
Großinstitutionen ihre Tabus gesetzt haben. Ich greife noch einmal auf den
Aufzeichnungsmodus zurück. Das spart Zeit, ich muss mir nicht die Mühe machen,
nach Formulierungen zu suchen, die längst hinterlegt worden sind.“ Ich streife
die Datenkappe über.
Wie jede Konventionalisierung einer
Offenbarung der perversen Strategie gehorcht, weitere Offenbarungen unmöglich
zu machen, taucht dieses Gesetz auf der untersten Ebene der Ekstase noch einmal
auf. Als müssten im Alltag ständig Gegenmaßnahmen ergriffen werden, um
Resignationsformeln zu erzwingen – so gelingt es sogar, wenn wir nicht wach
genug sind, eine große Liebe zur Ader zu lassen. Am Ende erleichtert uns der Seitensprung
um den übrig gebliebenen Ballast. Der Lattenzaun der Kultur ist durchlässig,
damit wir sehen, wie unkomfortabel die sogenannte Wildnis hinter der Absperrung
ist. Einige der größtem Stars wurden zu Beweisfiguren,
wie tödlich der Aufenthalt dort sein soll. Vielleicht teilt diese Form der
Komplexitätsreduktion mit der Schönheit und der Pornographie die gleiche
Gesetzmäßigkeit. Was uns fasziniert, bannt uns, weil wir Angst davor haben –
bis wir über die Techniken verfügen, das Faszinosum zu reproduzieren: Dann
nudeln wir es so lange ab, bis es uns nicht mehr beeindruckt, das ist eine Form
von Rache. Wir kämen weiter, wenn wir mehr Achtung vor dem ursprünglichen
Tremendum hätten. Wir sollten davor in die Knie gehen und es für die
herausgehobenen Momente der Beziehungsarbeit bemühen, statt es nur endlos zu
reproduzieren. Der kleine Hermes hat einmal eine Schildkröte zu Tode gequält
und aus ihrem Panzer die Leier gezaubert, mit der er Apoll die geraubten Rinder
entgelten konnte – ein Mythos über die Entstehung des Opferkults. Orpheus hat
noch herzergreifend gesungen, als sein abgefetzter Kopf von den Fluten hinweg
getragen wurde. In diesen Bildern ist die Musik ein der Sprachlosigkeit abgerungenes
Zeugnis der Auslöschung, des Verklingens und zugleich des Überdauerns – Odo Marquard
hat sich auf Lévi-Strauss berufen, als er zeigte, dass die Musik selbst eine
Form des Mythos ist, und mit Steiners Reminiszenz an die ‚Mythologica‘ wurde
hinter den Gesetzmäßigkeiten musikalischer Harmonien das Geheimnis des
Menschlichen vermutet! Vielleicht erklärt das, warum ihre enorme
Absorbtionsfähigkeit einst das Prinzip Tragödie, die heilsame Katharsis freigesetzt
hat. Immer wenn es uns gelingt, das Gefängnis des Ich zu sprengen, beginnen wir
an den Harmonien eines größeren Ganzen teilzunehmen, die rationalen Analysen
nur zum Teil zugänglich sind. Wer zu viel Ehrgeiz in die Austrocknung des
Zuidersees investiert, behält von der ursprünglichen Musikalität des Göttlichen
vor lauter Sublimation nichts mehr übrig. Dabei gibt es die Stimmigkeiten
notwendigerweise in jedem Leben! Ohne ein harmonisches Leitmuster hätten wir
schon die embryonalen Entwicklungsstufen nicht zu meistern gewusst. Es war
einmal da. Es klingt in der Wirkungsmächtigkeit des Kitsches auf; es ist der
Fundus jeder großen Liebe und der Motor der Arbeit am Mythos. Es ist das
ozeanische Gefühl, das unsere Seele mit dem Universum als Ganzem vernetzt, und
zugleich der prometheische Funke, mit dem die Offenbarung der Seinsmächtigkeit
unserer Fantasie noch in den pragmatischen Vollzügen entzündet werden kann. Die
Erleuchtung als Einklang mit der Welt ist präsent in allen Phasen des Lebens,
in denen uns eine energetische Woge packen und für eine Weile tragen darf. Die
Gesetzmäßigkeit der Musik, die jenen Bezug auf den Tod, aufs Zerbrechen, auf
die Auslöschung aufbewahrt und zugleich überwindet, hält die Negation in
Schach; der richtige Rhythmus und die den Kontext zum Klingen bringende
Harmonie sind in der Lage, die Nichtung durchzustreichen! Die unserer Zeit
entsprechenden Fraglichkeiten – in jeder Zeit wartet das Bedürfnis, die ihr entsprechenden
Rätsel zu lösen – sind eher am Computer, als in den Wäldern zu bewältigen. Die
Mustererkennung kann genügend Leute in die Lage zu versetzen, sich auf jene
Harmonien einzustellen, die den Gesetzmäßigkeiten unserer Evolution abzulauschen
sind. In meiner Geschichte spiegelt sich noch einmal ein uralter Wirkungsmechanismus,
der auf den Namen Orpheus hörte: Der Trieb muss durch den Tod hindurch gehen,
um zu klingen und zu rühren. Wobei ich der Popmusik und den durch Halluzinogene
aufgesprengten kulturellen Werten Zugänge zur Authentizität verdankte, die wohl
auf den oberen Rängen der philosophischen Selbstidentifikation nicht mehr zur
Verfügung standen.
Wer hätte gedacht, dass ich unter LSD
und während der Lektüre von Huxley, Leary oder Castaneda viel näher an das
brennende Zentrum der Wahrheit herangekommen war, als unter den
Führungsansprüchen von Bildungsbeamten, für die das Wissen nur ein Anlass für
Profilierungsmöglichkeiten sein durfte. Dort optimiert das Wechselspiel von
Kritik und Vereinnahmung nicht etwa die Wege der Lebendigkeiten, sondern nur
die Verwaltungsvollzüge. Was führen uns jene Simulanten der Selbstheit vor,
wenn nicht die traurige Hoffnungslosigkeit, sich auf nichts wirklich verlassen
zu können, was sie nicht selbst hergestellt haben – das ist erbärmlich wenig
und in den entscheidenden Zusammenhängen haltlos! Subalterne, in Intrigen
verstrickte Deppen, die vor lauter Machtspielen längst vergessen haben, welche
Konsequenzen ihr Verhalten herbei führt – und die diese Gesetzmäßigkeit
verdrängen, solange sie genügend Delegierte zur Verfügung haben, um die damit
verbundene Negation nach unten weiter zu reichen. Ich habe während der Intrige
mit der notwendigen Selbstdisziplin an der Prosa der Welt gearbeitet. Dennoch blieben
Reste des ursprünglichen Antriebs bewahrt, weil das proletarische Theater der
Grausamkeit in meiner Biographie die notwendigen Spuren hinterlassen hat. Die
Schmerzen, die diese Intriganten mit der Katastrophe des sozialen Todes
verbanden und an einen unbotmäßigen Schüler adressierten, waren für mich
bereits in den Ursprüngen zuhause. Der Schmerz formatiert Weltenspringer, auf
eine solche Immunisierung war man/frau in den Verwaltungsbezügen nicht
vorbereitet. Auf Dauer und unter dem Einfluss der freigesetzten Umsätze musste
ich mich nicht mit Lübbes Analyse abfinden, das Verhältnis zwischen
Vergangenheit und Zukunft habe sich verändert, schon die unmittelbare Zukunft
erscheine ohne Herkunftsbezug als schwarze Wand des Unerwartbaren und
Unvorstellbaren. Im Repertoire meiner Herkunft gab es nichts, an das ich mich
gebunden fühlte, aber vieles, das als Mahnung taugte. Dafür warteten viele Zugänge
auf ihre Verwirklichung, das Glück des Unvorhergesehenen versprach Steigerungen
des Repertoires.
„Einverstanden, das
ist ein brauchbarer Ausgangspunkt. Bei Ihren Wiedergeburtsmetaphern setzen Sie
verschiedene Variationen von Welt voraus, die durch den Harmoniebegriff
synchronisiert werden.“ Charlus lehnt sich selbstgefällig zurück.
„Das entkräftet meinen Vorwurf noch lange nicht“, Wolhe beharrt auf
ihrer Position: „Sie können noch so klug sein, Sie können noch so viel Umsatz
in Bewegung setzen, aber Sie können nicht immer alles wissen, was gerade vonnöten
ist! Während Sie nur eine große Menge von Leuten vernetzen müssen und es wird
sich immer jemand finden, der gerade über das Wissen verfügt, das Ihnen jetzt
so dringend nötig wäre!“
„Genau so etwas
wollte ich hören!“ Charlus spielt vor, wie er in seinem Element ist: „Der richtig organisierte Mob heißt
heute Wisdom of the Crowd! Die Menge, die für jedes lustvolle Schlachten zu
haben ist und den Wahn der Selbstjustiz nur zu gern in ein Pogrom verwandelt!
Wenn wir aus dem Totalitarismus lernen wollen, müssen wir erst einmal für die
notwendige psychische Hygiene sorgen, für ein durchschnittliches
Bildungsniveau, das zu Distanzen befähigt. Mir läge eine surrealistische Vereinnahmung des Konstruktivismus viel näher: Die
Seinsmächtigkeit der Imagination unterlegt unserem Wahrnehmungsapparat die
Schematismen, nach denen schließlich Erkenntnisvorgänge ablaufen. In
biographischen Verknüpfung muss man nicht alles wissen, sondern nur wissen,
welches Phantasma gerade die Wirklichkeit prägt.“
„Nein, machen Sie diese Entwicklung nicht schlecht! Mit den sozialen
Medien ist auf einmal eine Form der basisdemokratischen Macht entstanden, die
für Augenblicke bereits in den bürgerlichen Revolutionen wirksam war.“ Es
wundert mich nicht, dass Wolhe die aktuellen Mechanismen der Manipulation als
Freiheitsspielräume propagiert.
„Rein theoretisch – ja!“ werfe ich ein: „Nur dürfen dann nicht
irgendwelche Arschlöcher die nötigen Stimmungen präparieren, um den
reaktionärsten gesellschaftlichen Kräften den Treibstoff zu liefern. Die
sozialen Medien sind zu einer Selbstdarstellungsarena von Asozialen geworden,
häufig genug arbeiten dahinter Kräfte an einer politisch umsetzbaren
Entdifferenzierung. All jene technischen Errungenschaften, die die Kommunikation
befördern und beschleunigen, dienen in vielen Fällen dazu, Erpressern, Lügnern
und Betrügern ein gut getarntes Feld aufzubereiten. Jene Delegationsleistungen,
die früher gerade mal psychotische Mütter und größenwahnsinnige Politiker
zustande gebracht haben, sind heute dank der sozialen Medien ein
Machtmechanismus auf dem Tummelplatz von Parapsychotikern.“
„Das ist ihr pseudoelitärer Standpunkt“, wirft Wolhe ein: „Damit haben
Sie sich bereits auf der Uni völlig isoliert und jeder Kommunikation verweigert!
Und was sind überhaupt Parapsychotiker?““
„Leute, die anfangs noch wissen, dass ihre Überzeugungen von dem abweichen,
was gemeinhin für wahr gehalten wird, die sich dann in einer Gruppe
Gleichgesinnter stabilisieren und auf eben diese Überzeugungen einigen. Was Sie
unter Kommunikation verstehen, ist eine sehr reduzierte Form des Umgangs mit
der Sprache. Ich plädiere für den symbolischen Tausch und lehne Manipulation
und Selbstdarstellung ab. Damals hatte ich keine Lust, mich mit dem Nachwuchs
von Lehrern, der wieder Lehrer werden wollte, über irgendwelche
Selbstdefinitionen und Demarkationslinien zu streiten. Das war nur
Zeitverschwendung, denn ich wollte mich nicht selbst definieren, sondern erst
einmal kennenlernen, was die Welt der Wissenschaft an Möglichkeiten bot.“
„Unter solchen Voraussetzungen brauchen wir nicht mit einander sprechen!“
Wolhe versucht sich wieder an einer Exkommunikation: „So kommen wir nie zu
einem Ergebnis.“
„Das stimmt, bei Ihren Voraussetzungen werden Sie das nicht können. Zu Ihrem
vorigen Einwand haben ich eine Differenzierung nachzutragen. Natürlich kann ich
nicht alles wissen – aber ich kann unter der richtigen Voraussetzung die
Erfahrung machen, wie mir zum rechten Zeitpunkt genau das zugetragen wird, was
zur Lösung der aktuellen Fraglichkeit taugt. Wer aus Angst vor der Welt und den
Zumutungen einer eigenen Erfahrung auf ein starres Machtschema zurückgreift, wer
immer alles vorausplanen will, wird nicht in der Lage sein, sich auf die
Unsicherheiten der Lebendigkeit einzulassen! Mich wundert immer wieder, warum
gerade Krampf-Babys die Unsicherheit reklamieren und irgendwelche festen Werte
einklagen, während sie Macht durch die Verunsicherung anderer auszuüben. Selbst
die Erfahrung stabiler Ungleichgewichte und der notwendige Umgang mit einer
Fehlerkultur kann zu Zwecken der Einschüchterung pervertiert werden, ohne dass
so jemand etwas aus der Erfahrung lernt.“
„Ich darf doch an die Tagesordnung erinnern“, der Moderator mischt sich
ein: „Nachdem die Überlegenheit Ihres Ansatzes erwiesen wurde, halte ich es
nicht für erkenntnisfördernd, wenn Sie meinen, die Kollegin einfach vorzuführen!“
„Ich muss mich nicht provozieren lassen! Sie sollte einfach ihren antiquierten
Ansatz überarbeiten oder für sich behalten. Wissen Sie was Schwarmintelligenz
faktisch ist? Die statistische Annäherung an den größten gemeinsamen Nenner:
Also die computertechnisch unterfütterte Dominanz des Konformismus! Die
Suchmaschinen und die sozialen Medien haben uns in unseren Neigungen und
Gewohnheitsmustern zu bestätigen. Das läuft auf eine Form der geistigen Inzucht
hinaus, die an der Reproduktion von Beamtennachwuchs ausgerichtet ist. Und zwar
ohne die Privilegien, die dem Staatsdiener garantiert werden, nur um der
gemeinsamen Blase willen, die das tragbare Gefängnis der Selbstidentifikation
noch mehr Beschränkungen generieren lässt. Die Werbung hat so etwas schon immer
gemacht. Bei meinen Interviews und Produktdarstellungen musste ich nur den
verengten Horizont durch die nötigen Lobhudeleien idealisieren: Ich habe
verkaufen gelernt, war in diesem Sinne meiner akademischen Zeit voraus. Ich
brauchte nicht auf die gemeinsamen Ansprüche verzichten. Wir behielten sie eben
für uns, sie sollten auf die Dauer nur zu finanzieren sein. Jenseits der
Identifikationsangebote konnte ich Geld machen und das in einer Form, die davor
unvorstellbar war. Geld ist der inhaltsleerste Signifikant, der für alles und
nichts stehen kann: Da sind wir wieder bei der Entdeckung der Null, also jener
Systemvariablen, die für alles stehen kann. Als Sohn eines ehemaligen
Heimkinds, eines Hilfsarbeiters, der sich bis zur Position eines Geschäftsführers
in einem Einmannbetrieb hochgearbeitet hat, um dann nach dem Scheitern seiner
Ehe Selbstmord zu begehen, habe ich Geld oder Karriere nie ernst genommen. Für
die, die ihren Nachwuchs nicht an den Machtpositionen teilhaben lassen können,
heißt die geheime Botschaft des Karrierebetriebs noch immer: Vernichtung durch
Arbeit. Ich war davon ausgegangen, das taugte alles nichts, wollte mich ohne große
Zugeständnisse irgendwie durchwursteln. Bis mir klar gemacht wurde, dass ich
auf einer Abschussliste stand. Erst dann wurde uns schmerzhaft bewusst, warum
der Signifikant Geld, der für alles stehen kann und selber nichts bedeutet,
unermessliche Freiheitsspielräume beinhaltet. Damit deutet sich wieder einmal
die funktionale Dominanz des Nichts und der Null an! – Schon Laotse hatte
darauf hingewiesen, dass ein Becher oder eine Radnabe genau dort bedeutsam
werden, wo sie selbst nicht sind: In jenem Hohlraum ihrer Funktion.“
„Dann war die Entscheidung zur Auswanderung in die Technik also ein Versuch,
nicht in die Resignation einzuwilligen!“ Albach geht mit und wägt ab: „Deswegen
idealisieren Sie jetzt die Universalprothese Computer! Dabei ist das Gerät
eigentlich nur in der anthropologischen Traditionslinie instinktreduzierter,
auf Lernen und Prothesen angewiesenen Mängelwesens zu situieren.“
„Eben nicht nur, das hat der Computer mit dem Geld gemein. Sie stellen Zugänge
zu anderen Welten zur Verfügung – und genau die brauchte ich, nachdem man mir
keinen Platz in der Gegenwart gönnen wollte. Seit Babbage und den durch Poe
angeregten literarischen Umsetzungen in Butlers ‚Erewhon‘ wächst die Angst, die
Maschine überhole den Menschen und erweise ihn als antiquiert und überflüssig.
– Günter Anders mag dies in existentiellen Zusammenhängen für die damaligen
Lebensbereiche nachvollzogen haben. Dennoch neige ich viel eher zu der
Schlussfolgerung, antiquierte Herrschafts- und Abhängigkeitsverhältnisse haben
sich als obsolet erwiesen – und diese Entwicklung führte zu Desorientierungen
in der Verinnerlichung der Machtstruktur. Die Scham, nicht mit den eigenen
Produkten mithalten zu können, beschreibt doch einen Weltzustand, der auf
beschränkte Identifikationen angewiesen ist. Tatsächlich prägen eben die
Herrschaftsverhältnisse die psychischen Strukturen durch identifikatorische
Prozesse. Vielleicht faszinierte mich deshalb der Umgang mit dem Computer, weil
mir die universitäre Erfahrung der Liquidierung meiner Subjektivität nahelegte,
in einem Medium weiter zu machen, das die Funktionäre der Gutenberggalaxis
bereits angezählt hat. Ich machte den Computer zum Medium meiner
geistesgegenwärtigen Lebendigkeit, verzichtete auf jede Konsequenz eines
Persönlichkeitsideals – es fiel mir nicht schwer, mich in einen
Funktionszusammenhang zu verwandeln und in gewissen Situationen von den persönlichen
Befindlichkeiten zu abstrahieren.“
„Auch das ist wieder nur eine starke Behauptung“, meldet sich Wolhe zur
Stelle. Mittlerweile fehlt ihr eine realistische Absicherung der Argumentation,
aber sie ist fest davon überzeugt, sie müsse den Mangel nur verleugnen. Das ist
ein ganz einfaches Schema: Erst lügen sich die Leute irgendwas vor, dann meinen
sie, die anderen mit der Bezugnahme auf irgendwelche windigen Rationalisierungen
zur eigenen Selbstvergewisserung einzuspannen.
„Wieso nicht? Tatsächlich zeigt schon der Film ‚Matrix‘, warum die
Maschine den Menschen nicht überflüssig macht, sondern nur ein überkommenes Herrschaftssystem,
das die Figuren an den Schaltstellen der Macht zur Verinnerlichung anempfohlen
haben. Das Ende des Subjekts ist von langer Hand durch die Großinstitutionen
Militär und Kirche vorbereitet worden. Während Aufklärung und bürgerlicher
Bildungsplan noch die Schimäre des autonomen Denkens modellierten, waren längst
die Betriebsanleitungen sozialisiert, mit denen die Freiheit des Ichs nur in
der Selbstzerstörung zu beweisen war. Anpassung, Resignation und Verzicht waren
die Grundvoraussetzungen, um überhaupt zu diesem Spiel zugelassen zu werden,
als Prämie diente die Ernennung zum Vorbild. Noch in Zeiten der
Informalisierung haben subalterne Bildungsbeamte am wissenschaftlichen
Nachwuchs die Subjektivität zu eliminieren, um den eigenen Status als
Simulanten der Selbstheit auszuhalten. Prämiert wird dieses edle Verhalten
durch die Chance, in der Öffentlichkeit als Charakterdarsteller zur Verfügung
zu stehen. Die Wirklichkeit, die uns von den Statthaltern des Wissens und ihren
Ablegern in den Massenmedien verbürgt wird, resultiert aus einer allgegenwärtigen
Verkennungsanweisung, die sich im Wandel der politischen Systeme als sehr
elastisch erwiesen hat und mit jeder Neuerung, jedem Umbruch weiter verjüngt
wird. Wir sollen die Macht immer oben suchen, am besten im Jenseits der realen
Welt, beim Zufall, den Göttern oder jenen Mächten des Marktes, die weit über
den Einzelnen zu situieren sind. Und dabei sind wir es selbst: Mit unseren
Bedürfnissen und Erwartungen halten wir das durchschnittliche System der
Behinderungen am Laufen!“
„Da liegt doch das Schlagwort ‚Lügenpresse‘ nahe!“ Wolhe hat eine
Ablenkung gefunden und reibt sich schelmisch die Hände: „Das hätte ich von
Ihnen nicht erwartet, aber damit aktualisieren Sie den ideologiekritischen
Ansatz eines Adorno für die finstersten politischen Belange.“
„Das geht immer, ist aber ganz einfach unredlich. Ein Erfolgsgeheimnis
der Nazis war es schließlich, den Juden die eigenen Begehrlichkeiten, den eigenen
Machtanspruch zu unterstellen. Die Populisten verbergen hinter dieser Parole
die psychotische Verleugnung, als anmaßende Schwachsinnige fortwährend Lügen in
die Welt zu setzen. Das tatsächliche Lügengespinst ist jene Welt der
Normalität, die nur simuliert werden muss, wenn man sich als Kinderschänder
oder frau als Sadistin unbehelligt in den Institutionen den dringenden Bedürfnissen
widmen kann, solange nur der Schein gewahrt bleibt. Das ist die aktuelle
Banalität des Bösen – während die Populisten alle Formen der Verdrehung und
Unredlichkeit nutzen, um erfolgreich im Trüben zu fischen. Mit der Kategorie
der Verleugnung ist jene widersprüchliche Vereinigungsmenge gekennzeichnet, von
der der Populismus zehrt! Das, was sie so lautstark angreifen ist zugleich der
Motor ihres Machttriebs. Dagegen ist an eine proletarische Wahrheit meines
Namensgebers zu erinnern: Der, der’s zuerst gerochen, dem is‘ er aus dem Arsch
gekrochen!“
„Das führt uns zu weit von unserem Thema ab!“ Der Moderator bremst wieder
einmal: „Dagegen kommt mir der Bezug auf die Massenmedien sehr interessant vor,
eben weil diese in Ihren verschiedensten Texten immer wieder als Sprungbretter
für neue Einsichten taugten.“
Bornhard hat die meiste Zeit nur aufmerksam protokolliert. Wie es
aussieht, ist sie ähnlich wie Albach an weiterführenden Wissensweisen
interessiert. „Wenn ich Sie richtig interpretiere, sehen Sie in den
Verweisungszusammenhängen, die mit Hypertext möglich geworden sind, eine
Metapher für die Assoziationsmöglichkeiten der menschlichen
Gedankenverarbeitung. Also eine immer noch schwerfällige und aufwendige
Annäherung der Datenverarbeitung an jene Assoziationsmuster, die in einem
beliebigen Text aus dem philosophischen oder literarischen Fundus der letzten
zweieinhalb Jahrtausende durch eine aufmerksame Lektüre freigelegt werden. Mit
anderen Worten: Die Maschine kann noch so schnell mit Big Data jonglieren, aber
sie kann nichts damit anfangen, solange wir nicht entscheiden, was sie
herausfinden soll. Der Mensch setzt die Zielvorstellungen, die Maschine kennt
kein Begehren, sie hat keinen eigenen Antrieb.“
„Das stimmt! Damit sind wir wieder bei der Mustererkennung. Das inspirierte Hören illustriert den Verweisungszusammenhang – mit Hanna
Stegbauer beruht die Faszination der Musik auf der Grunderfahrung, einen Text,
eine Tatsache in eine Begegnung zu verwandeln. Musik ist gestaltete Zeit, die
wirklich am Anfang aller Benennung steht, die dem Schweigen abgerungen wird. Wenn
wir das Schema erst kapiert haben, greift unser Hören sogar in die Zukunft vor:
Wir wissen was kommt, obwohl es erst aus der Zukunft auf uns zu kommt. Analog
wäre die Mustererkennung im Kontext der Digitalisierung das Gespür für die
wesentlichen Verknüpfungen. Das ist meine Argumentation gegen das
Totschlagargument Black Box. Im Rechner werden Nullen und Einsen verarbeitet, die kleinstmöglichen
Unterschiede, die einen Unterschied machen – also Informationen. Wenn die
Information zu Kommunikation als Sprache werden soll, muss sie mit Bedeutungen
verknüpft werden. Form und Information existieren unabhängig vom Hier und Jetzt
und den Körpern aus Fleisch und Blut. Sprache ist nicht nur Kommunikation, denn
ihre biographischen Grundlagen sind in Gefühlen und Bedürfnissen fundiert – die
triadischen Trichotomien, die Bense als Wissenschaftstheoretiker zusammengestellt
hat, beinhalten einen indexikalischen Bezug auf eben dieses Hier und Jetzt, der
zugunsten der Wissenschaftlichkeit gern vernachlässigt wird. Während für mich
die Grundlage der Semantik eben nicht in den Konventionen und Definitionen,
also der Abgehobenheit von der Erfahrung, sondern in der leiblichen Verwobenheit
zu finden ist. Seien es Gefühle, seien es Hormone, wir sind ein Teil der Welt
und die von uns bemühten Bedeutungszusammenhänge sind dies nicht weniger.“
„Sie potenzieren den Bruch zwischen Information und Kommunikation durch
den Bezug auf die menschliche Sprache“, unterstreicht Bornhard: „Aber damit
versuchen Sie sich doch daran, Gesetzmäßigkeiten einer hierarchischen Gesellschaft
zu rekonstruieren! Das geht an den Gesetzmäßigkeiten einer informalisierten
Welt vorbei, die an der Globalisierung ausgerichtet ist.“
„Das glaube ich nicht. Die Informalisierung funktioniert nur dann, wenn
gewisse Formen verinnerlicht worden sind. Ich bin sicher nicht dafür, an
starren Hierarchien und göttlichen Gewissheiten festzuhalten. Es ist viel
angemessener, wenn wir uns auf Werte beziehen, die sich der kreativen
Eigenarbeit verdanken. Wir müssen für uns die verbindlichen Bedeutungen
geschaffen haben, mit denen es dann möglich wird, relativ sicher in den
Weltzusammenhängen der Information zu navigieren. Die Fabrikation von Präsenz
liefert den Standindex von Geltung und Selbigkeit – nur wenn wir das Hier und
Jetzt mit Geistesgegenwart laden, sind wir überhaupt in der Lage, uns auf die
Wirklichkeit einzulassen. Das Zeitalter der Digitalisierung setzt die Fähigkeit
zu Selbstverantwortung und Eigenarbeit in einem früher unbekannten Maß voraus.
Denn nur dann werden in den entscheidenden Situationen die richtigen Entscheidungen
gefällt, für die kein Chef und keine Hierarchie bürgen können, weil sie zu weit
weg vom Schuss sind. Wir profitieren also von den wirtschaftlichen Forderungen
eines Zeithorizonts, der auf unsere Präsenz und Geistesgegenwart angewiesen
ist. Wenn wir uns nicht darauf einlassen, unterstehen wir jener
Abwesenheitsdressur, deren Gesetzmäßigkeiten ich bereits vorgeführt habe. Von
der Verwünschung, bei sich selbst nicht zuhause zu sein, profitieren zuerst
einmal die Pädagogen und Psychologen, dann die schmarotzenden Experten und
Wichtigtuer, die uns entmündigen, vor allem aber die großen Volksparteien, die
die Verantwortung für die Selbstgestaltung des eigenen Lebens systematisch
vernebeln, weil sie sonst überflüssig wären.
Denken Sie an die Gesetzmäßigkeiten des Buchmarkts: Jedes Jahr kommt neben
dem unnützen Schrott, der nur für die Marge und den schnellen Konsum produziert
wird, einiges auf den Markt, das die Welt verändern könnte. Diese Botschaften
müssten genügend Leute ernst nehmen und für ihr Leben umsetzen, wir lebten in
einer anderen Welt. Doch das ist für das herrschende System der Bedürfnisse
überhaupt nicht gefährlich, weil es seine Bestätigung an den laufende Umsätzen
erfährt, während die in solchen Büchern transportierten Einsichten reine
Privatsache bleiben. Schon aus dem Grund müssen wir keine Angst vor der
Maschine haben, sie transportiert lediglich Daten unter Absehung der Inhalte.
Aber wir sollten uns sehr genau ansehen, wer die Daten zu welchen Zwecken
einsetzt. Wenn wir Angst haben sollten, dann dass Verstümmelte und
Zukurzgekommene diese Macht der digitalen Verteilersysteme für ihren Anspruch,
sich die Welt ähnlich zu machen, pervertieren. Auf die Inhalte kommt es an, auf
die psychischen Besetzungen. Hier ist der Weg das Ziel, wenn wir den Sinn
unseres Unternehmens auf die Sinne zurückbeziehen.“
„So haben Sie für sich das Verhältnis von Macht und Informalisierung
aufgeschlüsselt!“ Albach nickt nachdenklich vor sich hin: „Damit kommen wir auf
eine sehr diffuse Mikrophysik der Macht. Die Gegensätze fallen weg, die klaren
Grenzen werden eingeebnet, die starren Regeln entfallen –für den Einzelnen wird
ein viel größerer Aufwand nötig, um auch nur die einfachsten
Orientierungsleistungen zustande zu bringen.“
„Richtig, aus diesem Grund muss man die Leute beschäftigen, damit sie
sich nicht der Macht bewusst werden, die ihnen das Agilitätstraining im Kontext
der Digitalisierung verleiht. Das sich verjüngende Herrschaftssystem ist
tatsächlich ein Resultat der Informalisierung, die Reibungsenergien in der
Massengesellschaft erreichen viel zu leicht das kritische Level, schon deshalb
werden sie auf Nebenkriegsschauplätze umgeleitet. Auf der einen Seite üben sich
die Verantwortlichen in der Kunst, es nicht gewesen zu sein, entschuldigen sich
mit Sachzwängen, auf der anderen Seite zerfallen selbst sexuelle
Rollenvorstellungen. Die Formatierung des Begehrens, das schon immer das
sicherste Herrschaftsinstrument war, erodiert. Das ist nicht einfach ein
Verlust, sondern damit wächst unter der richtigen Förderung die Erfahrbarkeit
von Komplexität. Das steigert das Lernvermögen, Erweiterungen des menschlichen
Repertoires könnte systematisch genutzt werden. Wer heute über den Verlust
jener Basisprogrammierungen klagt, die wir der Kirche und dem militärischen Apparat
verdankten, gehorcht einem System von Behinderungen und übersieht die Chancen,
die mit den technischen Anforderungen unserer Zeit gegeben sind.“
„Dann hätte ich gern gewusst, warum Gibsons Neuromancer-Trilogie gerade
in den Zeiten des Terrors und der Umzingelung für Sie wichtig wurde?“
„Das steht schon alles irgendwo, Sie wollen doch unsere knapp bemessene
Zeit nicht damit verplempern, dass ich Ihnen Sachen erzähle, die nachzuschlagen
sind! Bei Gibson wird der Mensch selbst als Interface konzipiert, damit habe
ich schon die wichtigen Voraussetzungen genannt. Dank der
Repertoireerweiterung, die vom Aufenthalt im Bücherregal zur Auswanderung in
Speichersysteme führte, war mir klar, warum das beeindruckende Spektakel der
Terminator-Blockbuster den Konsumenten auf einen weiteren Irrweg schickte, um
das Netz zum Feind zu erklären. Dabei ist schon in den Sarah Connor Chronicles
zu sehen, wie die digitale Technik die unabdingbaren Voraussetzungen für einen
erfolgreichen Kampf gegen die Vorherrschaft der Maschine liefert. Es ist ein
leichtes, den Computer in der anthropologischen Perspektive als Werkzeug zu
interpretieren und damit in den Subjekt-Objekt-Zusammenhang der
Organverlängerung zu stellen. Aber das ist nicht alles, denn er kann als
Aufschreibesystem einen anderen Zugang zur Wirklichkeit zur Verfügung stellen.
Die Gutenberggalaxis war ein Resultat der Selbstsubalternalisierung und des
Verzichts – nicht umsonst waren die Stammväter der Intellektuellen Kleriker. In
den frühen Gründungsurkunden der Schrift ist die Kastration für Mathes ‚Under
Cover‘ noch im einzelnen Buchstaben lesbar als Kulturarbeit – alles Begehren
ist in diesen Zusammenhängen der Kastration geschuldet. Dagegen kann uns das
Netz den nötigen Freiheitsspielraum zur Verfügung stellen, um
Unwahrscheinlichkeiten zu ermöglichen, um in einem rechtsfreien Raum neue
Entwicklungen anzustoßen. Das Recht ist alles andere eher als eine Erbschaft
des Gottesstaats oder irgendwelcher heiliger Vorschriften, sondern das Resultat
einer Gewalt, die nicht mehr thematisiert werden darf. Tatsächlich handelte es
sich um einen ursprünglichen Gewaltakt, eine Verstümmelung, Opferung,
Vergewaltigung oder Kastration, die dann durch Sanktionen zu einem positiven
Recht umdefiniert werden mussten – eine späte Spielform ist noch immer jene
fehlerhafte Identifikation, die zu den Varianten des Stockholmsyndroms führt.
Aus diesem Grund geben uns rechtsfreie Räume erst die Chance, gewisse
Basissetzungen zu variieren. Meine Auswanderung oder Austreibung aus den
Geisteswissenschaften war nur ein Nebenkriegsschauplatz – tatsächlich war mir
etwas anderes viel wichtiger.“
„Wir gehen vom Ergebnis aus, dann braucht es keine unnützen Spekulationen.“
Jetzt hat Wolhe wieder einen Ansatz gefunden: „Zur damaligen Zeit war bekannt,
dass Sie nicht bereit waren, sich irgendwo unterzuordnen, dass Sie jede
Anpassung an die bestehenden Machtverhältnisse verweigerten.“
„Richtig, so bin ich schon gestartet, aber nach den nötigen
wissenschaftstheoretischen Exerzitien wurde ich ein erkenntnistheoretischer
Anarchist. Noch dazu gibt es eine einfachere Lösung, die einen ganz anderen
Schluss zulässt. Warum sollte ich den über Jahre aufgebauten sicheren
Rückzugsort in meinem Arbeitszimmer verlassen. Warum sollte ich mich
Arschlöchern ausliefern, wenn ich alles zu Hause machen konnte, ohne mich
blödsinnigen und destruktiven Einflüssen auszusetzen. Dass sich mit dem Rückzug
auf Eigenarbeit und Eigenzeit ein Konkurrenzsystem konstituierte, kam mir lange
nicht in den Sinn. Ich relativierte mich nicht mit Bildungsbeamten, meine
biographischen Ursprünge ließen nicht zu, mich mit jemandem zu identifizieren,
der als Vorbild taugen sollte. Ich hatte keinen Draht zur konfliktuellen
Mimetik, weil ich viel zu fokussiert auf die kreative Eigenarbeit war, außerdem
das Programm verfolgte, die gemeinsame Zeit für unsere Bedürfnisse und Ziele
frei zu halten. Diese Vorgehensweise schien die einfachste Lösung. Warum auch
nicht – durch die Spielereien am Computer hatte ich der
geisteswissenschaftlichen Nachzucht einiges voraus. Unter normalen Bedingungen
hätte ich sogar Geld damit verdienen können, wenn ich den Leuten, die gerade
eine wissenschaftliche Arbeit abschlossen und die mich ja häufig genug über
irgendwelche Ecken mitbekommen haben, eine Druckqualität zur Verfügung stellte,
die in diesen Jahren alles andere als selbstverständlich war. Ich war in der
Lage DVI-Files zu produzieren, die auf jeder professionellen Linotypemaschine
verarbeitet werden konnten. Nebenbei habe ich damit auf den Nenner gebracht,
welche Offenheiten und Abenteuerspielplätze die Digitalisierung beinhaltet,
wenn wir nicht so dumm sind, sie den Verwaltungsvollzügen zu überlassen.“