Iris Geiger-Musik & Gunar Musik

 

 

 

 

 

 

 

Katastrophenpädagogik

 

 

 

 

Materialien zur Chronik eines sozialen Todes

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

4. Teil der Galerie der Geistesblitze


 

 


 

 

 

 

 

 

 

 

 

Alle Namen dieser Selbsterlebensbeschreibung – die der öffentlichen Personen ausgenommen – sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit den maßgeblichen Intriganten sind aber durchaus erwünscht.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Umschlaggestaltung mit den Fotos von Bildern, die Ende der 70er und Anfang der 80er Jahre entstanden sind. Die originalen Bilder (ÖL und Acryl auf mit Leintuch bespanntem Pressspan) wurden aus Platzgründen vor einem Umzug zusammen mit allen Rohmanuskripten durch die städtische Müllabfuhr entsorgt.


 

 

 

 

1. Auflage 2022 © Iris Geiger-Musik & Gunar Musik

MGM-Digital Dresden

ISBN 9798844461460

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 


„Nur eine lange Zeit fortgesetzter, dem Gegenstand gewidmeter Verkehr wird in der Lage sein, Geistesblitze freizusetzen. – Es kann mir niemand verübeln, wenn ich die Anregung aus einem der Briefe Platons mit Leben erfülle und den Verkehr im Sinne einer ursprünglichen Wahrheit des Erkennens verstehe.“

 

 

 

 

 

Das erste Protokoll

Nachdem Ihnen bereits zwei Einführungen vorliegen, wollen wir es uns nicht zu leicht machen. Wir könnten uns in der Weise eines Lehrbuchs allgemeine Themen aus der wohlbekannten Geschichte der Philosophie vornehmen und wohlgeordnet zusammenfassen, welche Gesetzmäßigkeiten in den vergangenen Jahrzehnten der Mikropolitik zugrunde lagen. Aber das wäre zu einfach, auf die Dauer nur ermüdend. Wenn wir die Geschichte ein wenig unter Spannung setzen und uns der Dynamik überlassen, werden biographische Erfahrungen mit gewissen politischen Erkenntnissen einher gehen. Zeitgeschichtliche Informationen vermittelt durch alltägliche Erfahrungen machen in einer performativen Anwendung nachvollziehbar, wie sich gewisse Axiome und Theoreme kondensieren. Bereiten Sie sich auf ein Kolloquium zum Thema Identität und Selbsterfahrung, Selbstbestimmung und Schicksal  vor. Sammeln Sie sich, nichts ist in ihren alltäglichen Kontexten tatsächlich fremd und doch werden Sie in den kommenden Tagen feststellen, dass Ihnen jahrtausendealte Wahrheiten nahekommen. Jetzt betreten Sie den Raum. Das Licht geht an, im Hintergrund verklingt die Musik. Aus den Augenwinkeln realisieren Sie noch die Schatten flinker Helferlein, fast durchsichtige Grautöne vor einer bläulichen Hintergrundstrahlung. Dann erhebt sich der Leiter der Datenbankverwaltung zur Begrüßung. Bei einem derart fliehenden Kinn sind die fetten und rotgeäderten Hängebacken keine ästhetische Offenbarung. Er nickt Ihnen zu, wendet sich dann an die anderen, die gleich danach gekommen sind: „Damit sind wir vollständig. Ich wünsche allen Anwesenden einen angenehmen Aufenthalt. Ich hoffe auf Ihre Aufmerksamkeit und natürlich auf eine rege Zusammenarbeit. Wenn Sie sich Stichworte machen wollen, verwenden Sie den Touchscreen ihres Tischs; die Handschrifterkennung ist so ausgefeilt, dass wir noch aus den Hieroglyphen eines Mutzlacher ordentlichen Fließtext zustande bringen. Unser Meister am Mischpult hat die Stimmungen durch Farbspielereien zu unterstreichen und, soweit Sie uns teilhaben lassen, werden wir die Assoziationsmuster alter Bildzusammenhänge auf der multimedialen Ebene aktualisieren. Bei anspruchsvollen Vernetzungen oder aufwendigeren sprachlichen Verweisungszusammenhängen empfehle ich die bereitliegende Datenkappe zur Objektivierung des Wissens. Mich wundert ein wenig, warum so selten davon Gebrauch gemacht wird. Mittlerweile ist die Abtastung energetischer Felder wesentlich effektiver geworden. Es ist uns möglich, den Nachhall der Erregungsmuster etwa fünf Minuten in die Vergangenheit zu verfolgen. Warten Sie auf keinen Einfall, der sich aufgrund der entsprechenden Blockade nur entzieht. Ziehen Sie die Kappe bitte nicht nur über, wenn Sie von einem Geistesblitz getroffen werden. Oft genug liefert die lärmende Affenhorde des inneren Monologs mehr Ergebnisse, als ein exklusiver Einfall, der sich nach und nach in ein paar Hände voll Lesefrüchte zergliedern lässt. Beim Redigieren sind wir dann so oder so auf Ihre Mitarbeit angewiesen und was Ihnen nicht behagt, untersteht der DEL-Taste – ab dem Umgang mit der nötigen Dichte von Daten ist das die wichtigste Taste bei unserer Arbeit!“

Das Späßchen wird ganz automatisch abgespult. Er beachtet nicht einmal, dass er kein wirkliches Publikum hat. Ich schaue mich um, im Dämmerlicht in der Ecke werkelt der Exe wieder einmal an seinen Mischpulten; ein Helferlein hat den Mund wohl besonders voll genommen und versucht noch immer, durch einen Switch zu entkommen. Außer dem elektronischen Spektakel und seinem virtuellen Anhang haben sich Charlus, Albach, Bornhard und Wolhe eingefunden. Also neben dem amorphen Klops, dem die abwesende Algo zuzuordnen ist, zwei Paare, die sich schon gehörig in den Haaren lagen und nun im kühlen Blau scheinbar wahllos im Raum verteilt in den englischen Sesseln fläzen. Beeindruckend schöne Davenports, senffarbenes Leder in das die Zeit eine unübersehbare Zahl von Hieroglyphen eingegraben hat. Die weltanschaulichen Gegensätze der vier hören sich oft unüberbrückbar aus, aber bei den letzten Begegnungen dienten ihre Spezialisierungen vor allem dazu, mir auf den Zahn zu fühlen. Sie hatten heraus zu kitzeln, in welchen Zusammenhängen ich mich anbiedern musste, was ich zu verbergen hatte, wo meine Schwachstellen lagen.

 „Ich sehe an Ihrem fragenden Blick, dass Sie Algo vermissen.“ Er lacht fett und selbstgefällig. Ich bemerke keine Aggression, aber die Stimmung ist leicht orange mit einigen roten Spitzen: „Sie lässt sich entschuldigen. Nachdem ihr die letzten Vorträge derart auf den Magen geschlagen haben, ist es nun meine Aufgabe, für die nötige Vernetzung zu sorgen – aber dafür habe ich die Berechtigung, über wesentlich mehr Speicher zu verfügen. Wir haben bisher nur die verschiedensten Andeutungen oder Ankündigungen zu hören bekommen, außerdem diverse Ausführungen, sei‘s die Abschweifungen, sei’s die Vorlesungen oder Vorträge, alle auf einem sehr hohen theoretischen Niveau angesiedelt. Nun sollten wir uns den alten Texten aus jener Zeit widmen. Das ist die naheliegende Vorgehensweise: Sie sind aus konkreten Situationen hervor gegangen, mit denen sich überzeugende Querbezüge zu den späteren Schlussfolgerungen herstellen lassen. Damit es leichter nachvollziehbar ist, wie gewisse Einsichten entstanden sind, starten wir mit einer Zusammenfassung. Gibt es dazu noch Fragen?“

„Mich würde interessieren, auf welche Daten Sie zugreifen können?“ frage ich und habe einen metallischen Geschmack im Mund: „Also außer dem, was Sie der Rede oder Schrift oder unserem Denken entnehmen konnten?“ Das ist mir wichtig, beim Umstieg vom einen auf das nächste Betriebssystem sind im Laufe der Jahrzehnte immer wieder Texte und Dateien verloren gegangen oder unlesbar geworden. „Außerdem würde ich gern das Privileg genießen, gewisse Situationen nachzulesen, die nie geschrieben worden sind. Ich habe von einigen wesentlichen Weichenstellungen nur ein paar mehrdeutige, damit interpretierbare  Bilder übrig behalten, manchmal noch Redefetzen, die von Geruchs- und Geräuschclustern umspielt wurden, und von einigen der wichtigsten Situationen sind mir nur die Abdrücke geblieben, die sie in meinen Träumen hinterlassen haben.“

„Wir haben ziemlich viel aus den alten Archiven gerettet“, er grinst mich mit einem gewissen Besitzerstolz an: „Und damit haben Sie das Privileg, mit über den Sinn des Lesens zu entscheiden. Das Erkenne-dich-selbst der Philosophie bleibt eine unendliche Aufgabe, der gegenüber die Redaktion eines Datenkonvoluts aber zu ganz brauchbaren Ergebnissen führen sollte. Bei der Gelegenheit fällt mir ein, dass ich Sie auf einen Widerspruch festnageln wollte. Sie definieren sich in allem möglichen Zusammenhängen durch die Wirklichkeit des Paars: Sie haben recht nachvollziehbar gezeigt, dass der Homo Clausus immer wieder neu hergestellt wird, um die Beherrschbarkeit des Menschen zu gewährleisten. In Ihren Texten wurzeln die private Beziehungsunfähigkeit und der wissenschaftliche Solipsismus im gleichen Grund – sie werden mehr oder weniger zielgerecht hergestellt. Später haben wir diese Anregungen verdichtet, um dann für unsere Schule der Liebe oder für die Akademie des Geistes die notwendigen Konsequenzen zu ziehen. Wir haben damit jenen festen Punkt gefunden, mit dem eine Welt, in der alles nur im Als-Ob erfahren wird, aus den Angeln zu heben ist. Es muss eben nicht so sein, dass die tatsächliche Kapazität der allmählichen Verfertigung junger Götter beim Lieben nur ein Traum oder eine Sehnsucht bleibt, aber niemals in unsere Reichweite geraten darf.“

„Das ist eine treffende Zusammenfassung. Vor Publikum habe ich das Thema gern umspielt und kaschiert, aber selten in dieser Klarheit zur Sprache gebracht – ich möchte nicht unversehens in die Nähe der Evolutionsbiologen geschoben werden. Körpereigene Drogen und hormonelle Register mögen eine latente Matrix bilden, aber tatsächlich entscheiden die kulturellen Kontexte und das in Interpretationstraditionen vermittelte Repertoire über unsere Selbstdefinition und die Kräfte, die wir in der jeweiligen Situation freisetzen. Wir sind nicht so determiniert, wie es die Komplexitätsreduktion einiger Fachidioten behauptet.“ Ok, ich habe es mit einem Update zu tun! Ich sehe ein paar ungewohnte Kräftepfeile, auf der Zunge schmeckt es nach durchgebrannter Sicherung: „Seit den vergangenen Sitzungen der Schule der Liebe haben Sie die Strategie geändert. Während meine Argumentation sonst absurd verzerrt oder irrealisiert wurde, übernehmen Sie jetzt gleich am Anfang die Basissetzungen?“

„Nun, mir haben die energetischen Aufzeichnungen am Ende unseres letzten Gesprächs ein paar wichtige Einblicke vermittelt – für Algo war der Speicher schon zu, während ich die Reproduktion ihres Zugriffs auf die Wirklichkeit nachvollziehen konnte. Allerdings wollen wir unter dieser Perspektive manche Gesetzmäßigkeiten etwas genauer wissen. Ich würde gern mit einer kurzen Apologie für Überlebenskünstler beginnen, um erst einmal nachzuvollziehen, warum Sie trotz des rigorosen Ausschlussverfahrens nicht abgestürzt sind.“

„Das sollte zumindest ergänzt werden durch eine reziproke Fragestellung!“ Charlus spielt wieder mit erhobenem Zeigefinger den Oberlehrer: „Wen interessiert schon eine Algodizee für Borderliner! Ich würde gern abklopfen, wie er die Leichen zustande brachte, die seinen Weg säumen, ohne jemals dafür belangt worden zu sein. Warum ist er noch immer in der Lage, uns hier Rede und Antwort zu stehen.“

„Für diese Fragestellung ist es noch zu früh“, bremst ihn der Moderator: „Wir kommen darauf zurück. Das kann ich Ihnen versprechen. Aber erst einmal brauche ich das Tableau, dann können wir uns den Feinheiten widmen.“

„Einverstanden! Aber wenn es sich anbietet gehe ich gern auf Charlus‘ Fragestellung ein.“ Ich korrigiere ihn, weil ich nicht einsehe, dass gleich am Anfang irgendwelche Tabus gesetzt werden: „Wenn George Steiner in ‚Der Meister und seine Schüler‘ darauf hinweist, dass die Sphäre der Seele ihre Vampire hat, nennt er zwar die ausgebeuteten Schüler, deren Geist gebrochen wurde, deren Hoffnungen vernichtet worden sind. Aber das scheint für ihn zu vernachlässigen gegenüber den Meistern, die verraten, gestürzt und zugrunde gerichtet wurden. Aus meiner Sicht spricht das Machtgefälle für den Schüler, der nicht auf der Strecke geblieben ist, also nicht für den Schmarotzer, dessen Fehlverhalten durch eine Hierarchie gedeckt wird!“

„Ich denke, Sie tun Steiner unrecht“, unterbricht mich Albach mit spitzer Zunge: „An einer Stelle kennzeichnet er die wahre Lehre als gefährliches Unternehmen, weil der Meister das Innerste seiner Schüler, den zerbrechlichen und entflammbaren Stoff ihrer Möglichkeiten zu formen beginnt. Aus diesem Grund hat er sie zum Andersdenken auszubilden und für die Trennung vorzubereiten. Steiner betont, dass der richtige Meister am Schluss allein sein sollte.“

„Das mag sein, aber unter dieser Voraussetzung hätte man mich gehen lassen“, erwidere ich: „In jedem Prozess des Lehrens und Lernens gibt es Anreize zu Treue und Vertrauen, zu Verführung und Verrat. Nachdem ich einmal einer Verführung ausgeliefert war, die die entscheidenden Weichenstellungen für die damalige Entwicklung bewirkte, zog ich es vor, mir die wichtigen Einsichten selbst beizubringen. Ich war ein besessener Leser, auf zwischenmenschliche Kontakte legte ich keinen Wert, die Seminare waren lediglich zur Hinterbandkontrolle nötig. Unter diesen Voraussetzungen war es völlig unangemessen, wenn die aus einem Besitzanspruch resultierende gekränkte Eitelkeit nicht loslassen konnte und eine Intrige inszenierte.“

„Und das erklärt Ihren sprunghaften Stil, Ihr willkürliches Hin und Her zwischen Erzählung, Essay und Abhandlung?“ mutmaßt Charlus.

„Sie können davon ausgehen, bei mir gibt es keine gerade Linie“,  unterstreiche ich: „Dafür viele Sowohl-als-Auchs, keine dialektischen Widersprüche, aber enorme Ambivalenzen. Ich halte mich an jene subjektiven Erfahrungen, die vielschichtige Wahrheiten freisetzen. Die Konsequenz und Widerspruchsfreiheit, die Algo öfter angemahnt hat, dürfen Sie also nicht erwarten.“ Charlus lässt sich in seinem Sessel zurückfallen und grinst mich schelmisch an.

„Dann können wir jetzt beginnen“, gibt der Moderator das Startsignal. Wie zur Bestätigung taucht ein diffuser Nebel die Wand in ein schales Licht: „Mal abgesehen von Ihrer Geschichtsvorstellung, nach der sich historische Tatsachen mit jeder Darstellung und Reproduktion ein wenig verändern, bin ich parallel zur Inthronisierung des Paars auf eine sehr befremdliche Selbstprogrammierung gestoßen. Wie klären wir den folgenden Widerspruch: Sie haben sich als Teil einer größeren Ganzheit empfunden, aber in gewissen Situationen der extremen Infragestellung wurden Sie zu einem Projektil mit unbekannter Zielprogrammierung oder zu einem auf ein Geschoß reduzierten Bomberpiloten. Wie bringen Sie diese Dimension Ihres von Heraklit inspirierten Traumerfahrens – in der Tiefenstruktur, am Nabel des Traums, teilen die Träumer dieser Welt alle den gleichen Traum – mit der Wunschvorstellung oder den Erwartungen zusammen, dass der Mensch als Einzelner nicht existiert, sondern immer als Teil eines Paars gedacht werden muss. Legen Sie damit nicht nahe, jede abgeschlossene Identität habe eine explosive Struktur – die unter den Bedingungen einer Mikrophysik der Macht, den freiwillig übernommenen Zwängen, irgendwelche Anlässe der Implosion sucht. Oder ganz einfach formuliert: Wie bringen Sie die Hingabe an eine große Liebe mit der Struktur eines Selbstmörders in Einklang?“

Keine schlechte Tarnung für so einen Frontalangriff! Jetzt verstehe ich, wo dieser Geschmack nach geschmolzenem Metall herkommt. Sie versuchen das, was sie bisher von meiner Strategie kapiert haben, gegen mich zu verwenden. Also werde ich die Wirkungsweisen eines Blankpolierten Spiegels erklären und die Macht des Lassenkönnens demonstrieren: „Das ist leicht zu beantworten: Je einzigartiger die Liebe wurde, je mehr wir Tag für Tag an ihrer konkreten Umsetzung übten, je weniger konnte uns geschehen. Wenn mich die Gewissheit des ‚Gut-dass-es-dich-gibt‘ trägt, sind auf einmal die Begegnungen unwichtig, die mich verletzen würden. Wenn ich mich vorbehaltlos in die Aufgabe investiere, für dieses Du ein angemessenes Leben zu erkämpfen, stehen mir ganz andere Kräfte zur Verfügung, als wenn ich nur an mich denke. Die Angst zu versagen, der Vorbehalt der Blamage, setzen keine Bremsenergie frei, denn sie entfallen einfach. Ich muss nicht in Extremsituationen über meinen Schatten springen, sondern ich bin schneller als der Schatten und im rechten Augenblick nicht mehr an den linearen Zeitablauf gebunden.“

Albach spielt den gelangweilten Ästheten und klatscht müde in die Hände; die Ambilightspielereien des Exe reproduzieren einen sanften Trauerflor: „Irgendwie will mir nicht in den Kopf, dass sich eine große Liebe und der Selbstmord nicht gegenseitig ausschließen. Aber vielleicht stellt sich in diesem Fall die Frage: Wie sieht es dann mit der Identität als Bombe aus? Was bleibt übrig, wenn die Bahn durchlaufen wurde, dank der man sich sagen sollte, es gehe schließlich nicht anders? Waren Sie nicht irgendwie erleichtert, als endlich feststand, dass es so nicht mehr weitergehen konnte?“

Ok, er war schon öfter der Claqueur. Dabei dient diese Frage nur dem Versuch, mich zu einer Identifikation zu verführen. Ich soll mich um ihn als Bundesgenossen bemühen – in der Hoffnung, wir hätten das gleiche Interesse an der Erkenntnis, wobei es um alles andere eher geht, als um eine Erkenntnis. „Ich glaube nicht, dass diese Fragestellung mir weiter geholfen hätte. Heute könnte ich kontern, schon die Vorsokratiker haben die Macht der Rede mit der Wirkungsweise eines Projektils verglichen, aber dieses Sprachspiel hätte mir damals nicht weitergeholfen. Natürlich gab es irgendwann das Bild in meinem Kopf, dass ich mich auf meiner Bahn durch die Unendlichkeit des Alls ohne irgendeinen Treffer in einer unvorstellbaren Leere verlieren konnte. Aber das waren induzierte, depressive Hänger, die mit jedem GV, also mit der unmittelbaren leiblichen Erfahrung des Paars, in die Flucht geschlagen wurden. Vielleicht half sogar die Komplexitätsreduktion, denn nach den Prüfungen, die mir auferlegt worden waren, hatte ich keine Angst mehr. Allein, dass es uns noch gab, war schon der Gewinn. Das war also kein Widerspruch. Wir waren ganz auf uns gestellt, es gab niemanden, der uns von der Verantwortung für unsere Zukunft freistellen konnte. Bei Sartre habe ich einmal die radikale Kennzeichnung gefunden: An dieser Stelle war er ganz allein, niemand war sein Zeuge… – und wir waren immerhin zu zweit“, erwidere ich nachdenklich: „Das zeigt tatsächlich, der hoffnungslose Weltzusammenhang, in dem ich mich damals zu bewegen hatte, war eine schlichte Eingabe. Ich hatte ein Hintertürchen reserviert, mich mit einem lauten Knall zu verabschieden, wenn wirklich nichts mehr zu retten war. Aber tatsächlich war die Wirklichkeit, die über uns verfügt wurde, nur komplett vernagelt. Es ist nicht abwegig, dass manche der philosophischen Konzeptionen, die den Homo Clausus vorbereiten konnten, aus ähnlichen Zwängen geboren worden sind. Als es in den universitären Zusammenhängen nicht weiterging, konnte ich mir den Luxus von Zweifel oder Selbstmitteilung nicht mehr leisten. Wir lebten von der Hand in den Mund: Die verschiedenen Versuche, auf jenen Feldern Geld zu machen, auf denen die Bildungsbeamten keine Einflüsse hatten, ließen mir keine Zeit für irgendwelche Sentimentalitäten. Die geradlinige Flugbahn eines Projektils war eine Idealvorstellung, während ich mich am Hakenschlagen eines Hasen zu üben hatte. Als Schamane im Bücherregal musste ich in Kontexten auftauchen, in denen mich niemand erwartete, um dort zu jobben, bis irgendwelche Einflüsse der Flüsterpropaganda zu bemerken waren. Dann hatte ich mich still und leise wieder zu verabschieden und mit den minimalen Beständen zu rechnen. Es dauerte, bis uns klar war, wir würden in durchschnittlichen Arbeitsverhältnissen auf keinen grünen Zweig kommen, denn diese Arschlöcher hatten über Abhängigkeiten oder die Beziehungen ihrer Schüler die Möglichkeit, überall rein zu pfuschen. Sie schafften es sogar, über den Rechtsanwalt unseres Hausbesitzers die Atmosphäre im Haus zu vergiften, mir also die Hausmeistertätigkeit so schwer wie möglich zu machen. Wir wurden ausgespäht, in allen möglichen Zusammenhängen abgepasst, wir begegneten fortwährend irgendwelchen Zeichensetzungen, die uns nahelegten: Gib auf, gegen diese Übermacht kannst Du nicht gewinnen! Eine perverse Erfahrung, auf einmal war eine übermenschliche Disziplin nötig, um die kleinsten tagtäglichen Belange ordentlich zu erledigen.“

„Das ist eine Ironie der Geschichte!“ Unter dem Eindruck eines klaren blauen Himmels bringt Albach das Spiel auf einen Nenner: „Jahrelang propagieren Sie, dass Sie nichts werden wollen, weil jede abhängige Tätigkeit nur die Zerstörung von Lebenszeit bedeute. Sie widmeten sich dank dieser Hausmeistertätigkeit dem Lesen, Malen und Schreiben und finanzierten die Eigenarbeit mit einem Minimum an Hilfsarbeiten – und man erschwert Ihnen diese primitive Form einer Grundsicherung, die dank des Buchhändlerrabatts schon fast an den Naturalientausch erinnert, um die Veröffentlichung weiterer Analysen zu verhindern. Wenn Sie dann meinen, sich einfach als Durchschnittsarbeitnehmer für irgendwelche akademischen Dienstleistungen zu bewerben, kann das doch gar nicht klappen! Jeder, der ihre Abschlüsse und Zeugnisse in die Hand bekam, musste nur noch zum Telefon greifen, um ein paar Erkundigungen einzuziehen, damit war die Kacke am dampfen.“

Er ist an einem Wahrheitsgehalt dran, verbreitet Wogen von Nektar und Ambrosia – er würde mir gern nahelegen, mich mit der Klage zu bescheiden, das Leben sei ungerecht. Aber genau das akzeptiere ich nicht. Wenn sich Bildungsbeamte als Stalker betätigen, es ist einfach kriminell: „Genau so lief es! Das hat sich derart psychotisch angefühlt, als würde von allen Seiten gleichzeitig an einer Entdifferenzierung gearbeitet – die Absagen der Unis, selbst wenn sie unterschwellige Botschaften transportierten, waren noch das harmloseste. Viel wirksamer war die Flüsterpropaganda, die mir als Hausmeister bei den Handwerkern und Dienstleistern in der Stadt schaden sollte, die die Luft verpestete und sich von der Müllabfuhr über die Postboten bis zu Haus- und Zahnärzten oder Anwälten ausgebreitet hatte. Die sich außerdem im Ressentiment und Sexualneid alter Weiber vervielfältigte, sogar noch an den Supermarktkassen beim Nanz oder Aldi zu spüren war, uns also bei den täglichen Kleinigkeiten mit einer bedrohlichen Atmosphäre umgab. Keine Paranoia, sondern die unmittelbare Resonanz der tratschenden Schwägerin unserer Hausbesitzer, die als Bäckerin in der unmittelbaren Nähe dieser Geschäfte die nötigen Botschaften aus der großen Welt übermittelte. Der Hohn war, ich habe einmal beobachtet, wie sie mit einer unverschämten Selbstverständlichkeit Butter klaute, während die Angestellten vom Pennymarkt neben ihr die Regale füllten. Schwäbische Millionäre, Handwerk hat goldenen Boden – aber es gab keinen dieser Leute, mit denen ich in der damaligen Zeit oder auch später, als ich ein Luxusmagazin für die oberen Zehntausend belieferte, zu tun hatte, der nicht gewaltig verstrickt war. Die Leute durften mit Grundstücken spekulieren oder sich an der Macht ansaugen, aber sie mussten Dreck am Stecken haben, damit man im Bedarfsfall über sie verfügen konnte. Weil das bei mir nicht der Fall war, weil mir Geld oder Macht nichts bedeuteten, wurde mit aller Gewalt daran gearbeitet, mich in die Verlegenheit zu bringen, darauf angewiesen zu sein – um mir dann zu zeigen, dass ich nirgends zugelassen wurde.“

„Haben Sie sich damals vielleicht einmal Gedanken darüber gemacht, warum das so lief? Haben Sie nicht irgendwann bereut, dass nur ein paar Kleinigkeiten hätten anders laufen müssen, der ganze Schlamassel wäre Ihnen erspart geblieben?“ Die fette Wolhe kann ihr sadistisches Behagen nicht kaschieren, während braune Helferlein zerflederte Landserhefte durch die Luft wirbeln.

„Klar, meine ganze Biographie. Meine Zeugung habe ich mir nicht ausgesucht, die perverse Familienkonstellation oder die sich fast zwingend ergebende Verführung nicht weniger… Alles was ich dann später an eigenem zustande bringen wollte, war schon immer das Resultat einer Rolle als auserwählter Sündenbock. Alles, womit ich mich von den nachgemachten Menschen, den verkrüppelten Mitläufern unterscheiden konnte, lief darauf hinaus, dass ich mich ohne Reserven in eine Beziehung investierte, die zu einem Vabanquespiel wurde. Da war keine Kleinigkeit zu korrigieren oder ein Fauxpas zu vermeiden. Meine Mutter hatte ihre Besonderheit durch die Rolle, die sie mir zugedacht hatte, bewiesen – und wenn ich nicht vom Gewicht einer Welt zu kurz gekommener Krüppel erdrückt werden wollte, musste ich besser werden, als die anderen. Die Botschaft, die sich später ein paar Bildungsbeamte für mich ausgedacht hatten, war klar: Ich sei mir zu schade, um mich mit normalen Studenten abzugeben, ich würde einen Elitegedanken vertreten, der heute nicht mehr en vogue sei. Tatsächlich sollte ich darunter leiden, dass ich besser war – ich sollte mein Ausschlussverfahren selbst verantworten. Als durfte ich keinen Grund haben, stolz auf meine Leistung zu sein, als müsste ich meine Leistungsfähigkeit verfluchen und verleugnen, weil ich nicht bereit war, die nötigen Subalternitätsdressuren zu akzeptieren. So sieht es in den Herrschaftsbereichen einer kommunikativen Vernunft aus, wenn an den wichtigen Schaltstellen Parapsychotiker sitzen. – Dabei musste ich mich nur an der vollendeten inneren Leere üben und die Bedrohung, die uns begleitete, wurde zurückgespiegelt. Die braven Zuträger und delegierten Mitläufer bekamen es mit der Angst zu tun, weil sie aufgrund ihrer konfliktuellen Mimetik davon ausgingen, dass wir noch mehr in der Hinterhand hatten, wenn uns die Umzingelung nicht beeindruckte. In der Vorlesung zum Souveränitätstraining habe ich fünfundzwanzig Jahre später nachvollziehbar gemacht, warum ein als Blankpolierter Spiegel wirkendes psychisches System überhaupt nichts in der Hinterhand haben muss, vorausgesetzt, dass die Beweggründe lauter genug sind.“

„Das will ich genauer wissen!“ Charlus schüttelt seine Lethargie ab: „Hier müssen wir nachhaken, das sollten wir in ein operationales Schema bringen.“

Der Leiter ignoriert ihn, bleibt aber sympathisch dran, während uns der Exe in eine blaue und kalte Unterwasserlandschaft taucht: „Es ist bekannt, dass in unseren Großinstitutionen häufig genug Untote und Simulanten der Lebendigkeit gefördert werden! Sie kompensieren den Mangel an Substanz oder ihre Impotenz durch die Behördenabsicherung; sie fühlen sich erst dank sadistischer Intrigen wirklich lebendig. Gegen Ihre Analysen habe ich nichts einzuwenden, mal abgesehen davon, dass wir für diese Erkenntnis keinen Musik brauchen – den Statthaltern des Wissens ist das schon lange bekannt. Aber schließlich gehört es zu meinen Aufgaben, dieser von Ihnen als System von Behinderungen gekennzeichneten Institution, die nötige Anschlussmöglichkeit an eine lernfähige und effektivere Zukunft zu verpassen. Das soll uns diese Geschichte vermitteln – wir greifen auf ihre Lernprozesse zurück, um die Gesetzmäßigkeiten heraus zu filtern.“

„Da habe ich nichts dagegen – solange Sie damit haushalten können, den Adepten den sozialen Tod in mehreren Dosen zu verabreichen. Der Tod der Familie, das Enden der Selbstidentifikation, die Liquidierung der konfliktuellen Mimesis, das Aufsprengen einer kontingenten Geschichte... Die Erfahrung, dass es keine Tatsachen gibt, sondern nur Interpretationen von Tatsachen! Wir müssen mit Mehrdeutigkeiten und Ambivalenzen auskommen, jeder Zwang zu einer eindeutigen Zuordnung bedeutet bereits eine Komplexitätsreduktion, die uns um die Fülle der Wirklichkeit betrügt. Ganz am Ende, wenn Sie begabte Aspiranten zustande gebracht haben, verpassen Sie ihnen noch die Erfahrung, dass alles, was sie bisher ausgezeichnet hat, die Gründe für ein Ausschlussverfahren liefert.“

„Immerhin sind Sie doch vernünftig geworden“, wirft Wolhe ein, während sie giftig gelbe Lichter zwischen die dunklen Wogen wirft: „Sie haben sich an verschiedenen Universitäten beworben. Wobei es schon wieder auf eine seltsame Form von Erfolgsorientiertheit verweist, wenn jemand, der es abgelehnt hat, zu habilitieren, sich um eine Professur bewirbt!“ Der Exe macht sich einen Spaß daraus, Totenschädel und andere Vanitasdarstellungen im Dämmerlicht zu materialisieren.

„Als mich die Krüppelzüchter soweit ausgelaugt haben und ich nicht mehr wusste, was ich künftig machen sollte, dienten diese Bewerbungen einem ganz anderen Zweck. Nach Dresden taugten sie weitgehend dazu, Informationen zu streuen und die Zeit als Bankbote auszuhalten – wer hätte mich nach meiner Konzeption und dem Auftritt vor dem Gründungsrat in der Staatskanzlei überhaupt noch als Assistent oder Mitglied des Mittelbaus ausgehalten? Also benutzte ich die Bewerbungen, um mich im Gespräch zu halten. Außerdem war ein virtuelles Gegengewicht zu den Angeboten des Bankdirektors nötig, der ganz nebenbei immer wieder die Zeichen setzte, durch seinen Vater, einen promovierten Germanisten, mit der Literaturwissenschaft vernetzt zu sein. Ich brauchte die Bank, um die Minimalabsicherung für das laufende Jahr zu gewährleisten, aber das strengte derart an, dass ich in dieser ganzen Zeit fast nichts zustande brachte. Drei Buchbesprechungen, mehrere Versionen einer Rekonstruktion des Auftritts in Dresden, außerdem regelmäßige Aktualisierungen irgendwelcher Bewerbungsschreiben, die vor allem dem Prinzip Hoffnung geschuldet waren, damit nur die Funktion hatten, Anschlusswerte zu simulieren. Das wurde gerade deshalb nötig, weil mir das Ausschlussverfahren in den unterschwelligen Andeutungen mancher Absagen nahe gelegt wurde, die vor allem den SPD-Zuträgern eines Harpprecht zu verdanken waren. – Sie sehen also, mit aller Gewalt wurde daran gearbeitet, mich in einen Untoten und Simulanten der Selbstheit zu verwandeln. Bereits im Sommer, vor der zweiten Bankbotenvertretung, deutete sich an, dass ich mich selbstständig machen musste, um eine Position zu erreichen, auf der ich mich vor keinem dieser universitären Strippenzieher mehr verantworten musste.“

„Wie macht man das als Einzelner ohne Eigentum, dem noch dazu nahegelegt worden ist, sich in einen Mann ohne Eigenschaften zu verwandeln.“ In die Bildwelten eines Großbrands gehüllt, versucht Wolhe mich weiterhin zu provozieren, während Bornhard in der Idylle eines Strandbads an der Ostsee versucht, diese Vorgehensweise mit einem missbilligenden Lächeln abzumildern.

„Ich konnte bocken, auf dem Nein beharren, über die Ungerechtigkeit der Welt klagen und mich damit bereitwillig in den Status eines Opfers einschreiben. Oder ich konnte mir den Wahnwitz des Systems zu eigen machen, den mir schon das Feuer in der Kronprinzstrasse nahegelegt hatte. Wie es der damalige Stand von Datenschutz und Telefonmarketing nahelegte, boten sich Telefon und Fax in der weitgehend verwaltenden Welt als Sphäre für mediale Wegelagerer und Raubritter an. Die Ironie der Geschichte: Der Versuch, mir jeden geregelten Gelderwerb durch einfache Jobs, als Packer im Buchhandel, als Kursleiter auf Volkshochschulen oder dann als Bankbote, mit denen ich eine von Duldung oder Förderung unabhängige Schreibe finanziert hatte, unmöglich zu machen, lieferte im Endeffekt das notwendige Sprungbrett. Als freier Anzeigenverkäufer bewegte ich in den nächsten Jahren mit genau dem Telefon, mit dem immer wieder Bosheiten in unsere Biographie gefiltert worden waren, zwei Millionen Mark Umsatz! Welch eine Beweisfigur für den organlosen Körper der Stimme, den eschatologischen Untergrund der Lachkultur! Diese biographisch verwurzelte Erfahrung unterstrich Kampers Plädoyer für eine methodische Schizophrenie: Was mir wertvoll war, sollte mich aushungern, aber was ich verachtete, lieferte uns bis dahin unvorstellbare Mittel.“

Charlus lacht böse vor sich hin, kommentiert dann zynisch: „Man sollte eben nicht Gefahr laufen, die sublimierte Perversion einer Analfixiertheit durch eine tödliche Krankheit abzuzahlen.

„Das geht jetzt zu weit, ist auch nicht unser Thema. Aber ich habe doch einen gewissen Rechtfertigungszwang bemerkt.“ Der Leiter bemüht sich, die Spannung raus zu nehmen, er straft Wolhe mit Ignoranz: „Zum Thema Gericht möchte ich nur ergänzend unterstreichen, dass es nicht darum geht, warum es Sie noch gibt. Im metaphorischen Sinn stehen Sie viel eher in der Position des Zeugen. Da haben wir den Zeugen wieder, den Sie mit Sartre zitiert haben: Ursprünglich der Märtyrer. Sie liefern uns die Materialien und Einsichten, damit wir das entsprechende System der Selbstoptimierung nachvollziehen können. Uns interessiert, warum Sie den Todeslauf überstanden haben, weil sich hier Potentialitäten des Menschlichen zeigen, die für ein evolutionäres Repertoire zur Verfügung stehen sollten. Der Ehrgeiz unserer Algo hat einiges in eine Ecke gedrängt, die uns gar nicht so lieb ist. Es geht nicht um ihre Rechtfertigung, das haben Sie in den falschen Hals bekommen. Aus diesem Grund halte ich die nörgelnden Provokationen nicht für zielführend! Zudem habe ich auch nicht das Gefühl, dass die Visualisierung die richtige Perspektive vorgibt, eher scheint sie das Aggressionspotential zu erhöhen. Ich möchte die Sensibilisierung für Stimmungen zurückfahren.“ Der Exe reagiert mit einem gequälten Stöhnen, aber kurz danach hat sich das Ambiente normalisiert, nur die hin und her rasenden Helferlein scheinen sich nicht zu beruhigen.

„Danke schön. Nachdem Algo am eigenen Programm gescheitert ist, tangiert mich das wenig. Was sich damals in meinen Traumwelten als Erfahrung eines Projektils zeigte, war nur das Resultat einer mit vielen Tricks und Delegationen in Gang gesetzte Umzingelung, die noch immer in den Imperativen einer Algo nachklang. Wann taucht die Sprengmetapher in den Diskursen auf, wenn nicht in Situationen der Ausweglosigkeit – das beginnt schon bei Kant. Aber Sie haben meine Frage nicht beantwortet! Ist es in irgendeiner Form möglich, psychische Besetzungen abzugreifen und zu dokumentieren, die über eine Generation zurück liegen?“

„Wo denken Sie hin! Wir kommen niemals in die Vergangenheit, wir nötigen aus dem Spannungsfeld der Gegenwart die präsenten Quellen nur zu Deutungsansätzen.“ Die Helferlein führen schemenhaft vor, wie sie versuchen, die sich bewegenden Massen einer Sanddüne wegzuschaufeln. „Es gibt keine objektive Erfahrung, genauso wenig wie es das Ding an sich gibt! Zugegeben, erst einmal sehr wenig, aber vermittelt durch Ihre Reproduktion und die Techniken des Durcharbeitens wird manche Vergangenheit wieder lebendig.“

„Das ist bedauerlich, denn in meinen Selbstwahrnehmungen, den sinnlichen Erfahrungsformen des Hier und Jetzt, bin ich eine Metonymie des An-sich-Seins“, insistiere ich: „Das ist nicht auf Interpolationen beschränkt, mit denen wir unsere geschichtliche Erfahrung herstellen. Gerade in den medialen Zusammenhängen bin ich auf eine Zeiterfahrung gestoßen, die die Differentialrechnung imprägniert hat. Unsere Gegenwart ist kein alleiniges Resultat der Vergangenheit, sondern sie hängt an einem teleologischen Index, der aus der Zukunft auf uns zu kommt. Und wenn wir die nötigen Informationen in den digitalen Zusammenhängen einer Turing-Maschine situieren, wird die Eigenzeit auf einmal in beide Richtungen durchlässig.“

„Das ist ein interessanter Hinweis, der mit Robert Spaemanns Ausführungen zur Teleologie abgesichert werden sollte. Aber soweit, dass wir den Informationsfluss in beiden Richtungen in der Zeit verfolgen können, sind wir noch nicht – ihr Bezug auf die durch die elektronischen Medien geprägte Aisthesis ist wohl nur metaphorisch zu verstehen.“

„Das sehe ich etwas anders. Mit Gumbrecht kommen wir im Hier und Jetzt der Präsenz an, weil noch immer jener magische Akt funktioniert, durch den eine zeitlich und räumlich entfernte Substanz präsent wird – das klassische Beispiel ist das katholische Abendmahl. So wie der zeitliche Vektor suspendiert wird, geht es nicht mehr um Deutung und Interpretation, sondern um die Vergegenwärtigung einer Gestalt im räumlichen Zusammenhang. Jede Form von Kommunikation setzt in irgendeiner Weise die Produktion von Präsenz voraus. Der von den Kommunikationsmitteln herkommende Effekt der Greifbarkeit durch Bewegungen zunehmender oder abnehmender Nähe und zunehmender oder abnehmender Intensität beeinflusst uns als Kommunizierende, wir werden in der Materialität unseres Körpers affiziert. Es ist eine Funktion der Mimesis, entfernte Zeiten und Orte zu einer gemeinsamen Gegenwart zu verknüpfen. Wie nebenbei bewirkt dies, dass sich Personen, während sie kommunizieren, in spezifischen und wechselnden Weisen berühren – es geht eben nicht nur um unverbindlichen warmen Wind und wiedergekäute Sprechblasen. Der Raum, der währenddessen entsteht, ermöglicht die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen, damit die momentane Suspendierung der Abwesenheitsdressur. Und seltsamerweise ist das an einem Computer leichter zu bewerkstelligen, als mit einer Schreibmaschine.“

„Also sollten wir Ihren Zeitbezug bei Gelegenheit genauer untersuchen. Sie haben einmal Huxley paraphrasiert: Wenn wir uns bemühen, die Zeit in irgendwelchen Objektivationen wieder zu finden, wenn wir sie festhalten wollen, haben wir das Paradies verloren. Wenn wir uns dem Augenblick hingeben und uns im Hier und Jetzt bewegen, geht dagegen die Zeit verloren, und das ist für Augenblicke das wieder gewonnene Paradies!“

„Richtig, ich erinnere mich noch an den Zusammenhang, der einiges über die Tricks verrät, die ich gegenüber der Intrige einsetzte: Wer jeden Augenblick leben will, wie er sich darbietet, muss in der Lage sein, nicht zurück zu schauen und nichts zu erwarten. Das beinhaltet die Kapazität des Lassen-Könnens, damit die Fähigkeit, an keiner Erinnerung haften zu bleiben, sie also zugunsten der Präsenz absterben zu lassen. Das ist eine Aktualisierung jenes uralten Menschheitswissens, das noch vor der Schrift als Mortifikationstechnik taugte und sich den Erzählungen verdankte, die niemals eindeutig und identisch waren, sondern sich immer den unmittelbaren Erfahrungsmustern anschmiegten. Wir sind noch heute in Geschichten verstrickt und haben die Möglichkeit, uns von den vorgegebenen Wissensweisen, die eine fensterlose Monade der Biographie garantieren sollen, zu distanzieren. Wir können uns – und sei es mit der Starthilfe von Halluzinogenen – auf intensive Wahrnehmungen einlassen, um zu hören und zu fühlen, um zu riechen und zu schauen und uns von Rhythmen tragen zu lassen. Diese Erfahrung der Präsenz setzt einen anderen, nichtlinearen Zeitprozess voraus.“

„Das ist stimmig, das werden wir genauer untersuchen. Aber im Augenblick müssen wir erst einmal einen Zeitbezug entschlüsseln, der Ihre Erfahrungen in der Vergangenheit einkerkern sollte. Erst in einem nächsten Schritt wollen wir dann genauer wissen, wie man sich dem entwindet. Sie sind zu schnell, wenn Sie uns gleich die Lösung präsentieren. Solange wir nicht nachvollziehen, wie die Wirklichkeit in einen sich verengenden Tunnel verwandelt worden ist, ist es nicht plausibel, warum die Lösung Erfolg versprechen soll.“

„Dazu sollte ich erst einmal die Datenbasis kennen. Ich muss keine Vergangenheit bewältigen, denn die ist schließlich vergangen. Aber vielleicht verfügen Sie über Material, das mir nicht mehr zugänglich ist. Oder über gewisse Informationen von der anderen Seite, über die ich nur spekulieren konnte?“

„Wir haben alle möglichen Zeugnisse, aber die sind erst einmal nur stumm – abgesehen von den Ansagen auf zwei Anrufbeantwortern. Das würde einige Anstrengungen kosten, über Stimmanalysen das Setting einer Konstellation herauszuarbeiten, die für Sie das Ende der Zeit und ein ausbruchssicheres Gefängnis bedeuten sollte. Also haben wir uns an die alten Disketten gehalten, auf denen sich immer wieder Dateien fanden, die noch nicht zerschossen waren oder an die erste Festplatte, die glücklicherweise nur gelöscht, aber nicht formatiert oder überschrieben wurde. Dazu natürlich zwei Umzugskartons voll Ordner mit Handschriften, sei’s von Ihnen, sei’s von Ihrer Freundin und späteren Frau. Wobei es ein leichtes war, alles zurückzuholen, was einmal mit Kugelschreiber geschrieben worden war. Ich lasse die nicht dokumentierten Vorträge oder die Übungen weg – es gibt zehn Jahre Kurse auf verschiedenen Volkshochschulen zu Philosophie, Literatur und Kreativem Schreiben, aber leider keine ausformulierten Texte. Sie neigten dazu, über ein paar Stichworte zu improvisieren und dann in einer Mikroschrift mit Bleistift signifikante Beobachtungen oder Schlussfolgerungen festzuhalten – an vielen Stellen war der Strich völlig blass geworden. Dann verlassen Sie sich mal auf den Abdruck im Papier, wenn das Zeug so unendlich klein ist. Wir haben die nötigen technischen Medien bemüht, die Sie ja schätzen, wir verfügen über ziemlich viel Material. Deshalb darf ich vorschlagen, wir setzen uns erst mal der unmittelbaren Wirkung aus, bevor wir an die Wertung und Interpretation gehen.“

„Richtig“, ergänzt Charlus: „Wir haben heute die Möglichkeit, die Komplexität einer persönlichen Entscheidung und die Inkommensurabilität eines Augenblicks in einer ungeheuren Datenvielfalt aufzuzeichnen. Nur haben wir in der Regel nicht die Zeit und die Kapazität, diese Datendichte aufzuarbeiten. Das ist ein einfaches Gesetz: Je mehr Informationen und Optionen, je kostbarer und knapper wird die Zeit. So, wie es aussieht, werden wir einen unverhältnismäßigen Aufwand treiben, um die Gesetzmäßigkeiten weniger Begegnungen zu rekonstruieren. Also sollten Sie uns helfen, die entscheidenden Regeln eines maximal unwahrscheinlichen Erfolgs nachvollziehbar zu machen.“

„Also wie gesagt, alles was Ihnen wichtig erscheint, notieren Sie mit ein paar Stichworten. Wenn es sich anbietet, verwenden Sie bitte die Dokumentation durch Screenings. Mit einem gewissen Erfolg sind die Restbestände jener Besetzungsmuster abzugreifen, wenn Sie mit den Zusammenhängen in den Dokumenten Ihrer Vergangenheit zusammenstoßen. Wir versuchen Kontexte zu schaffen, in denen die Besetzungen noch einmal aktualisiert werden und vermeiden dabei, soweit es irgend geht, irgendwelche jüngeren Fragen oder Schlussfolgerungen mitwirken zu lassen. Ich denke, wir können jetzt beginnen.“

„OK, dann versuche ich ein erstes Brainstorming! Wobei es mir recht wäre, wenn Sie den Scan als Text ausgeben und auf irgendwelche blödsinnigen Visualisierungen verzichten. Ein Bild mag mehr sagen, als tausend Worte, aber es braucht dann mindesten zehntausend, um auf den Nenner zu bringen, was alles damit transportiert wird. Jene Leute, denen es an Sprachgewandtheit und Repertoire mangelt, verlassen sich auf die Manipulationskraft der Bilder. Aber das kann ganz schön in die Hose gehen.“ Ich streife die Kappe über, das Material ist angenehm kühl und anschmiegsam. Der Operator überprüft kurz die Kontakte und gibt den Kanal frei. Die unzähligen kleinen Noppen auf der Innenseite beginnen zu kribbeln. „Also schauen wir uns einmal an, wie es ausgesehen hat, als die Arbeitgeber meiner Freundin im Auftrag der Uni Stuttgart ein Maximum an Störversuchen zu inszenieren hatten.“

 

Als die Stelle beim Vize wieder einmal anhängig ist, haben wir beschlossen, ja zu sagen und mitzumachen, nur so war das dauernde Theater abzustellen. Seitdem die Gerüchte über unsere Selbsterlebensbeschreibung die Runde machten, war immer wieder versucht worden, deinen Ehrgeiz anzustacheln oder durch ein Bewerbungsverfahren umzuleiten. Du hast am Anfang abgeblockt, später auch erklärt, dass wir die gemeinsame Zeit für die Schreibe brauchten und außerdem mit dem bisherigen zeitlichen Aufwand schon genug ausgelastet waren – aber die dauernden Nachfragen, dazu noch der Ehrgeiz einer Fachbereichsleiterin, dich dem Vize abzujagen und für eigene Pläne anzuspitzen, führten zu ständigen Irritationen, kosteten einiges an Konzentration und versauten die Stimmung. Sie versuchten, unsere Atmosphäre zu vergiften; solange wir nur passiv abblockten, waren wir den ständigen Hysterisierungen ausgesetzt, unsere kreative Basis wurde inkliniert, ohne dass wir etwas dagegen tun konnten. Der naheliegende Schluss hieß: Wir sagen Ja, dann schauen wir uns an, was ihnen einfällt und verwenden das in unserem Sinne. Wenn sie es darauf angelegt hatten, uns in die Defensive zu treiben und in der Passivität ausbluten zu lassen, war ein Ja die richtige Reaktion in dieser Situation. Aber nachdem wir entschieden hatten und damit klar feststand, dass wir jetzt nicht nur in Opposition zur Chefin meiner Aushilfstätigkeiten im Buchhandel standen, sondern auch noch deine Schwachsinnigen im öffentlichen Dienst ausspielen mussten, bekam ich Beklemmungen beim Vögeln: Rattern in der Brust, das den Hals hoch bis in die Ohren hämmerte, dann Atemprobleme, danach extreme Schwächegefühle. Der Verdacht war nicht von der Hand zu weisen, die Arschlöcher wollten dich vereinnahmen, um mich kaputt zu machen. Das waren die Folgen eines Imperativs jenes sozialen Körpers, dessen Gesetzmäßigkeiten von Geh- und Sprachbehinderten, von Impotenten und Frigiden geprägt worden waren. Die mussten mit dem Köder der Macht an der Perpetuierung der eigenen Verstümmelung arbeiten, um sie an die nächste Generation weiter zu geben. Zwei Tage später war ich mit Hilfe von autogenem Training wieder auf dem Damm, wir hatten diesen Kampf aufzunehmen – wenn wir nicht alles aufgeben und in einer anderen Stadt neu anfangen wollten, gab es keine andere Möglichkeit. Ein paar Monate lang spürte ich einen Druck in der Herzgegend und konnte nicht mehr auf der linken Seite liegen. Auf die Dauer zeigte sich, dass die Entscheidung richtig war. Wir kamen nun, weil wir mitmachten, an die Leute ran, konnten immer mehr Negationen drehen und an den Absender zurückschicken. Uns war überhaupt nicht klar, wer die tatsächlichen Absender waren. Dass es nicht nur kleine Idioten sein konnten, die aufgrund ihrer Zukurzgekommenheit immer irgendwelche Schwierigkeiten machen, war an den Intensitäten abzumessen, vor allem aber am Timing, mit dem die Störungen lanciert wurden. Die Geschichte hatte irgendwer von oben angekurbelt – nur, wo war oben? War es ein schlichter Zufall, wenn dem Vorstandsvorsitzenden zu dieser Zeit eine Ehrenprofessur verliehen wurde? War der für kleine Krüppel einer solchen Institution schon ungewöhnliche Ehrgeiz beim Ausbrüten von Behinderungen auf die schlichte Tatsache zurückzuführen, dass sie von außen angestachelt wurden, weil ihr Chef auch nur ein Delegierter war, der die Belohnung eines Direktorenpostens zur besseren Motivation bereits erhalten hatte?

Parallelen zu diesen Störversuchen finden sich bei all meinen Versuchen, das nötige Geld zu verdienen. In der Praxis war zu lernen, wie sich die magische Verfolgerkausalität aufbaute, bis die Funken flogen. Erfahrungen, die im Tiefparterre von Schauerroman und Gruselkrimi gelandet waren, wurden wieder zu Wirklichkeiten, nachdem die Mimesis zu rotieren begann und an allen Ecken konfliktuelle Rivalitäten entstanden: Spannungsphänomene, Wirkungen über weite Distanzen, Zeichensetzungen und Signale wurden wie bei Paracelsus zu wirkenden Kräften. Ausfälle traten vor allem bei Apparaturen auf, die das Verhältnis von Innenraum und Außenwelt regelten oder in irgendeiner Form vermittelten – von der Sprechanlage, über den Aufzug, die Klospülung, das Telefon, den Fernseher, bis zum Computer: Die negative Energie wurde in diesen medialen Maschinen abgeleitet, aber sie galt dem Medium unserer Liebe und vor allem dem Vollzug. Als wollten die Leute, die ihr Leben auf einer Lebenslüge gründeten, sich höchstpersönlich durch unsere literarische Tätigkeit bedroht fühlen – das war Humbug oder ein Köder für besonders Blöde. In einigen Fällen war zu sehen, dass der Sexualneid den treibenden Motor lieferte: Und das war wahrscheinlich auch der Antrieb der Auftraggeber. Alle waren sich in einem Punkt einig, selbst wenn sie einander nicht kannten: Der Signifikant wucherte wie ein Krebsgeschwür von der Uni über Ministerien und Bibliotheken, erreichte sogar die Kanzleien, in denen ich Loseblattwerke aktualisierte und regnete sein Gift über Supermärkten ab. Leute, die sich als gesellschaftliche Spitzen fühlten, die als Vorstände fürchteten, ihre Zeit ginge zu Ende, denen als schwäbischer Häuslebauer-Adel nur die Titel fehlten, die als Bibliothekare oder Rechtsanwälte die eigene Subalternität an einem Schriftsteller abstrafen, sich an einem Geisteswissenschaftler schadlos halten wollten… Alle fanden sich unter einem gemeinsamen Ziel zusammen, das zwar von außen an sie herangetragen worden war, aber eigenen Ansprüchen entsprach. Eine Delegation zündet nur, wenn in der Vereinigungsmenge der gleiche Wunschhorizont wirkt: Sie wollten den Anmaßungen eines philosophierenden Hilfsarbeiters ganz legitim den Garaus machen. Die einen sahen nicht ein, warum sich der Sohn ihres früheren Hausmeisters in akademischen Gefilden bewegte, die ihre Söhne trotz Vitamin B nicht erreicht hatten. Die anderen waren immer wieder neu gekränkt, wenn ihre juristische Floskelkunde gegenüber der Sprachgewandtheit eines beweglichen Geisteswissenschaftlers nicht mithalten konnte. Die nächsten waren gekränkt, weil sie mit ihren aufgemotzten Tussis, dicken Klunkern und schnellen Autos keinen Eindruck machten. Und der akademische Adel fühlte sich verschmäht, weil einer, den sie umworben hatten, nicht in ihre Fußstapfen treten wollte. Während diese Leute sich in ihren Behinderungen einig waren, wollte ich nur das Richtige machen. Ich beschäftigte mich mit dem Guten, das mich weiter brachte, meinen Horizont erweiterte, meine Freude am Lernen förderte, den Zugang zu noch Unbekanntem ermöglichte. Ich hatte keinen Grund, mich nach unten zu relativieren, um mich zu therapieren und sah nicht ein, mich mit Verwaltungskrüppeln zu beschäftigen. Das Behindertenkabarett sollte anstecken, nur dann waren Lebenslüge und Verzicht gerechtfertigt – mit so einem Scheiß wollte ich nichts zu tun haben.

Meine Erfahrungen lieferten nach und nach eine immer ausgefeiltere Erfolgsstrategie: Das Beste war, ich bemerkte die Bosheiten nicht oder interpretierte sie als die verkrampften Versuche von Antriebsgestörten, die sich mal ein Späßchen leisten wollten. Wenn mir eine/r krumm kam, sagte ich mir, dass die Bosheit eine Reaktion der Zukurzgekommenheit war, dass die jeweilige Linkheit und Verlogenheit vor allem auf die Bedürfnisstruktur verwies... Jammerfigur für Jammerfigur musste einzeln und wie nebenbei durch Optimismus und Lebensfreude erledigt werden. Schritt für Schritt: Weil wir Wichtigeres oder Besseres zu tun hatten, beschäftigten wir uns nicht mit ihnen. Optimal war, wenn wir direkt nach einem guten Fick abgepasst wurden und die Leute dann nicht mehr kapierten, warum sie keinen Ton rausbrachten oder sich nicht mehr bewegen konnten und so ein seltsames Zittern im Gesicht verspürten. Von mir durfte keine Aggression ausgehen, sonst hätte ich die Negation bestätigt und mich ins Unrecht gesetzt – aus diesem Grund vermied ich intuitiv jede mimetische Standleitung, im Stadium der wohligen Befriedigtheit war das eine leichte Aufgabe. Außerdem durfte ich keine Angst haben, sonst hätten diese kleinen Arschlöcher einen Erfolg erschnuppert und mehr versucht. Die Leute tappten in Fettnäpfchen, hinterließen deutliche Spuren, stolperten über die eigenen Fallstricke, offenbarten sich durch Fehlleistungen. Ich schaute zu und tat immer, als bemerke oder verstehe ich nicht, was gerade gespielt wurde: je besser dies gelang, je schneller erledigten sich die Leute selbst – es gab nur kein Zurück mehr.

Ich gab Einführungskurse in Philosophie und kreativem Schreiben auf der VHS, wurde wie zufällig von anderen Institutionen engagiert, nur um immer wieder die Erfahrung zu machen, wie viel den subalternen Deppen daran gelegen sein musste, dass Sachen schief liefen und Termine verpatzt wurden. Ein Direktor redete mir im Vortrag dazwischen, weil ich zu anspruchsvoll sei, die Teilnehmer beschwerten sich, man käme sich in solchen Kursen wie ein Idiot vor. Eine Frau aus dem Rathaus beklagte sich schriftlich bei meinem Fachbereichsleiter, ich könne mir doch wenigstens einmal die Mühe machen, für sie den Don Juan zu spielen – und dazu wurde eine Stellungnahme gefordert. Ein Knastdirektor ließ ein Manuskript begutachten, um auszuspionieren, wie es in der Dachkammer der Autoren aussah; er deponierte bei dieser Gelegenheit eine Aktentasche voll Bosheit und böser Wünschen, die er in der juristischen Fachbuchhandlung abholen wollte, der ich meinen Buchhändlerrabatt verdankte. Eine verbohrte Greisin wurde von ihrer Tochter, die zufällig für den Ehrenprof arbeitete, auf mich im Kreativen Schreiben angesetzt, damit ich ihre Lebensgeschichte lektorieren, ihr tatsächlich aber als Stellvertreter helfen sollte, den Selbstmord ihres Sohnes zu verdauen – ein Verwaltungsjurist. Wie es sein muss, kamen ein paar Schwachsinnige, Süchtige, Prostituierte und andere gesellschaftliche Randfiguren hinzu: Natürlich aus den besten Kreisen. Traummänner wurden delegiert, die uns wie zufällig auf den ausgespähten Spaziergängen begegneten, scharfkantige Frauen wurden in meine Kurse abgeordert. Die Angebote sollten das Begehren ködern und dienten tatsächlich als Störfaktoren; telefonisches Sperrfeuer sollte die Konzentration mindern, regelmäßig im Briefkasten deponierte Todesanzeigen aus den 50er Jahren eine Drohung unterstreichen, vereinnahmende und zugleich striezende Aufträge vor den Ferienzeiten ein Relaxen unmöglich machen. Die Fäden liefen in einer Unterbringungsinstitution für zu kurz gekommene oder vom Arbeitsmarkt geschädigte Akademiker zusammen. Erst wurde mit kulturschwulen Mitteln versucht, die Beziehung zu stören; dann über Rivalitäten eine Gegeninstanz zur literarischen Arbeit aufgebaut, das Buch sollte mit allen Mitteln verhindert werden. Schließlich als die Unterlegenheit der Institution klar war – ein Vorstand und ein Hausmeister war auf der Strecke geblieben und das Buch war da –, wurde eine Psychose simuliert. Alles ging schief, nichts lief mehr, alles war umsonst, aber das Generve und die telefonischen Störungen nahmen täglich zu – um wenigstens Iris in einen Strudel der Selbstzerstörung mit hineinzuziehen. Ein Haufen beziehungsunfähiger Single, geschiedene Nullen, Schwätzer mit kaputten Ehen, wurde angeführt von impotenten Kalkern, die sich in den Kopf gesetzt hatten, unsere gemeinsame Autorenschaft zu verhindern. Das war vielleicht vor Jahren einmal delegiert worden, dann mochte sich der Kriegsschauplatz verselbständigt haben, doch nun ging es vor allem um das nächste Buch, in dem sie eine Analyse ihrer wohlsubventionierten Psychose befürchteten, noch dazu eine bösartige Dokumentation ihres Scheiterns.

Kennzeichnend war, dass der Vorstand dieser deutschen Vereinsmeierei als Professor senili den Vorstand ganz verschiedener Kulturinstitute hergab, von denen allein drei in demselben Gebäude residierten, in dem der Buchhandel untergebracht war, der meine einzige sichere Einnahmequelle darstellte – und der am selben Strang zog. Mit dem gleichen Ehrgeiz, weil eine von Gnaden des Todes gekürte Geschäftsführerin befürchtete, in ihren verlogenen, für die Leute gefährlichen mimetischen Machtstrategien und den hinter simulierten Familiengefühlen lauernden Todeswünschen durchschaut zu werden. Ich hatte mir eine Geschichte für sie ausgedacht – was blieb mir übrig, ich verwandelte Quälgeister in Geschichten. Mamas liebe Tochter mochte einmal beim Funk oder in vergleichbaren Eros-Centern die bittere Erfahrung gemacht haben, dass die Attraktivität einer Bohnenstange durch kein Hochschulstudium aufgefangen worden war – aber mit der Zeit war ihr eine Therapie gelungen, den Mangel als Gewinn zu verbuchen. Sie verwandelte sich in die personifizierte Selbstlosigkeit, verbarg unter der Maske eilfertiger Subalternität den Hass und Sexualneid der Zukurzgekommenen. Das identifizierende ‚Wir‘ in ihrer Rede, in ihrer Körpersprache, war exzessiv, weil sie peinlichst darauf achtete, alles eigene, jeden Rest an Selbstheit, zu vermeiden, aus diesem Grund jeden Widerstand gegen eine fehlerhafte Identifizierung einfach zu unterlaufen. Weil ich beim Jobben den Routinen folgte, unter ihren Einflüssen durchzutauchen, versuchte sie in spannungsreichen Momenten hoher Belastung das Stichwort Lungenentzündung, das Stichwort Krebs als Überraschung einzuschmuggeln, um das Abgrenzungsvermögen zu übertölpeln. Sie hatte Erfolge zu verzeichnen, der böse Wunsch sprang manchmal ohne Vorwarnung über: Eine Assistentin bekam eine Nierenkolik, ein Bote sackte in den Status des untragbaren Alkoholikers ab, eine Aushilfe verursachte einen Unfall und beging Fahrerflucht, eine stille und ganz unscheinbare Buchhändlerin bekam Bluthochdruck, ein Hausmeister hatte auf einmal eine offene TB, verschwand in einem Sanatorium. Resultate der schwarzen Magie, mit der diese Führungskraft ihre Macht ausbaute. Sie hatte es schon als Miss Moneypenny in Bonn geschafft, jeder/m die Illusion zu vermitteln, sie oder meist ihn bei der Erfüllung der Wünsche zu unterstützen; sie kalkulierte die Dates, wählte den Nachtclub aus, buchte die Hotelzimmer – und hatte doch den geheimen Triumph dabei: Sie labte sich am Scheitern der Fremdgeher. Während andere sich prostituierten, in Rivalitäten verstrickt und in die Pfanne gehauen wurden, hielt sie sich zurück, nahm teil und schnitt sich ein Scheibchen froher Erwartungen ab; aber sie nutzte jede Gelegenheit, vorhandene Ambivalenzen heimlich anzuheizen. Sie fand einen Chef, der ihre Fähigkeiten der mimetischen Einflussnahme erkannte und für seine Zwecke reservierte, die hohe Politik in Bonn belieferte beide mit den schönsten Gelegenheiten: Sie therapierte sich immer wieder neu an der Erfahrung, mit den einfachen Mitteln der Ehekrise oder der Kuppelei enorme Einflüsse auszuüben, große Männer blieben einfach auf der Strecke. Es mussten nur genug Leute hinter einem bösen Wunsch stehen, ihn für richtig halten, prompt verwandelte er sich im entscheidenden Augenblick in die Wirklichkeit.

Später, nachdem sie von Grass als Assistentin der Geschäftsführung vermittelt worden war, dauerte es nicht lange und die Besitzerin des Buchhandels fiel aufgrund einer schweren Erkrankung aus, faktisch wurde die hässliche Bohnenstange zur Geschäftsleitung. Nachdem Anbiederung und Nachahmung nicht gezogen hatten, um mich zu vereinnahmen, versuchte sie, mich mit den ihr eigenen Mitteln kaltzustellen. Ich machte die zwei-drei Urlaubsvertretungen pro Jahr schon so lange, dass ich beim Tod der Chefin bereits zum Inventar zählte und für Sonderaufgaben, die Vorbereitung von Veranstaltungen oder unvorhergesehene Berge in der Versandabteilung auch ohne Voranmeldung zur Verfügung stand. Meine Prämie war der Buchhändlerrabatt: Wenn ich für zwei-dreitausend Mark Bücher pro Jahr kaufte, war das die Flexibilität wert, das nötige Pensum an Ignoranz war einfach eine Zugabe. Anfangs musste sie mir vorführen, wie gern sie bei allen Anforderungen außerhalb der Reihe auf meine Dienste verzichtete. Aber weil es nicht so einfach war, für die Urlaubsvertretungen des Packers oder Boten jemanden zu finden, der zuverlässig zur Stelle war, außerdem alles notwendige schon kannte, präparierte sie für jeden meiner Jobs ein paar Delegierte, die nicht wussten, was sie machten, wenn sie ihren verbogenen Wünschen gehorchten. Nachdem es nicht gelungen war, mich mit Hilfe der Bedürfnisstruktur mehrerer Buchhändlerinnen in den Griff zu kriegen, versuchte sie, mich an die Tochter des Hauses zu fixieren. Als das nicht gelang, engagierte sie eine persönliche Assistentin, die Lehramtsfächer studiert und nicht in den Schuldienst gefunden hatte, forderte Anähnelungen heraus, spielte Rivalitäten vor und machte das Mädel spitz – um sie zu demütigen, fiesen Abwertungen zu unterwerfen, um mich zu einer Frontenbildung zu nötigen. Ich sollte mich mit diesem armseligen Wesen identifizieren, damit akzeptieren, dass die Negation an mich adressiert war. Die Distanzleistung fiel mir nicht schwer, weil ich auf der Uni mitbekommen hatte, wie in den Lehramtsfächern vor allem Kinder von Lehrern ihr Heil suchten; schon auf der Schule schienen mir die meisten Lehrer zu blöd. Schließlich stellte sie einen Alkoholiker ein, einen ehemaligen Polizisten, der unter ihrem Einfluss in schöner Regelmäßigkeit umknallte. Ganz link versuchte sie mich auf dem gleichen Level einzusortieren, weil ich aufgrund meines Heuschnupfens Hustenbonbons lutschte, während er seine Fahne durch Fishermansfriend überdeckte. Der zuckersüße Ton, mit dem sie über ihn verfügte, war allerdings nicht lange durchzuhalten. Er beschimpfte im Suff Kunden, wurde nach einigen Zurechtweisungen renitent, drohte ihr im Geschäft vor Zeugen Prügel an. Nach einer fristlosen Kündigung brachte sie ihn durch die Drohung mit der Polizei dazu, das Hausverbot zu akzeptieren.

Zur Unterstreichung des mimetischen Drucks führte sie aus dem SPD-Fundus ein paar Autoren, Maler und Minister im Gefolge. Ihr früherer Chef stand im Hintergrund zur Verfügung, Harpprecht war nach und nach wie zufällig aufgetaucht, wenn ich meine Urlaubsvertretung startete – aber sang- und klanglos verschwunden, als anhand der Nachricht des Vorstandstodes klar wurde, in was für ein gefährliches Spiel ihn seine Ex-Sekretärin verwickelt hatte. Die Jahre bis zum Erscheinen des Romans 'Altpapier' – der vielleicht nicht einmal der Auslöser der Behinderungen war und sich nach und nach als einziger Halt erwies – unterstehen einer dauernden Belastung, sie sind auch eine Bewährungsprobe unserer Beziehung.

 

Ich überfliege kurz den Text: „Die Interpolation ist nicht schlecht! Einige Beobachtungen habe ich früher anders interpretiert. Selbst wenn ich Gefahr laufe, Sie mit anachronistischen Geschichten zuzuschütten, werde ich noch ein paar Mal auf das Gerät zurückgreifen.“

„Sie haben sich also mit allen angelegt, die Sie hätten fördern können oder auf deren Duldung Sie angewiesen waren. Und das ohne finanzielles Polster oder eine minimale familiäre Absicherung, auch mit der Familie hatten Sie gebrochen. Damit haben wir ein paar präzise Dünnschliffe“, unterbricht mich der Moderator: „Mit diesen sollte es möglich sein, Ihre Geschichte unter den verschiedensten Perspektiven zu beleuchten. Der Sexualneid als magische Wirkungsmacht mag mit Lacans Zauber der Impotenz zu erklären sein. Dagegen zeigen die Subalternisierungsversuche die Wirkungsweisen der Macht im Kontext der gesellschaftlichen Informalisierung. Auch das Spannungsfeld zwischen sozialem Status und der subversiven Kraft der Intelligenz und natürlich die Frage nach den Folgen einer Institutionalisierung des Denkens werden wir im Auge behalten. Dazu noch das Erbe eines Kuckuckskinds, das vor allem an den Schwierigkeiten zu sehen ist, die Sie mit Rechtsanwälten und Verwaltungsjuristen hatten. Ihre Geschichte zeigt, wie sehr die Zeit aus den Fugen geraten ist. Es ist kennzeichnend, wie Sie jenseits der Melancholie in allen erdenklichen gesellschaftlichen Spannungsfeldern auf eine aus dem Hamlet überkommene Diagnose zu reagieren hatten!“

„Eben dafür wurde das Geld erfunden – es ist ein fast natürliches Mittel der Distanzierung, mit dem auch Konflikte leicht zu regeln sind. Mein Ansatz war, mit Arschlöchern nichts zu tun haben zu wollen. Ich hatte nicht erwartet, dass aus meinem früheren Umfeld niemand übrig blieb, das ergab sich einfach so. Ich jobbte nicht mehr als notwendig, um mich den wichtigen Themen zu widmen. Außerdem hätte ich es nie für möglich gehalten, dass die Intriganten versuchten, mir den Geldhahn zuzudrehen. Man/frau sollte sich klar sein, dass jede/r, die/r in solchen psychotisierten Weltzusammenhängen versucht, ein erfülltes Leben zustande zu bringen, an mehreren Fronten gleichzeitig zu kämpfen hat. Manchmal drängte sich das Gefühl auf, als hätten wir an einem Heilsgeschehen teil. Als mussten wir die Welt in unseren subjektiven Zusammenhängen ein wenig von dem Lügengespinst erlösen, das sie zusammenhielt, wenn wir überhaupt etwas zustande bringen wollten.“

„Auch diese Abschweifung nehme ich Ihnen nicht übel“, er grinst breit vor sich hin. Ich beobachte nebenbei, wie er kontrolliert, welche Unterlagen die Helferlein vor ihm auftürmen: „Aber wenn wir uns schon in eschatologischen Zusammenhängen bewegen, hätte ich gern gewusst, wie das zum erotischen Vollzug als der allmählichen Erschaffung junger Götter passt?“

„Bei dieser Thematisierung sollten wir gleich bei einer Liebe als Duell beginnen.“ Ich schaue ihn an, aber er wartet ab und so beginne ich zu erklären: „In den Unterhaltungsmedien endet der Film oder Roman mit einem Happy End, wenn die zwei sich gefunden haben: Dabei könnte es jetzt richtig losgehen! Wenn sich die hinter den beiden wirkenden Signifikantennetze aneinander abarbeiten, beginnt es erst spannend zu werden. Der Imperativ meiner Vernichtung ist längst vor der Uniintrige in einer anderen Ecke der Beamtenwelt ausgeheckt worden! Ich musste ganz schön viele Register ziehen, um eine Beamtentochter in die Wirklichkeit jenseits der verbalerotischen Phrasen zu entführen. Allerdings ist dieser Ansatz für meine Begriffe diametral entgegengesetzt der Thematisierung der Archive. Der Computer ist ursprünglich eine Junggesellenmaschine und wird als Universalprothese zum Spielfeld für viele Leute, die nicht zum Leben vorgelassen worden sind und sich dafür an den Surrogaten abstrampeln sollen. Der Unterschied ist, dass ich ihn als Waffe eingesetzt habe, um die kulturschwulen Intrigen auszuhebeln. Der Zauberspruch unserer Postmoderne heißt: Verwenden! Wir haben enorme Möglichkeiten und ein unauslotbares Repertoire, wir müssen nur den Mut aufbringen, die entscheidenden Dinge oder Einsichten in den entsprechenden Zusammenhängen richtig zu verwenden! Das setzt eine rigorose Zeitökonomie voraus – und natürlich die richtige Lustpolitik. Vielleicht ist das erst jemandem möglich, der keine Rücksichten auf Verwandtschaftsbeziehungen, symbolische und pekuniäre Abhängigkeiten nehmen muss. Vielleicht war das einzige Plus, das ich in dieses Spiel einbringen konnte, auf niemanden Rücksicht zu nehmen, mich nicht verbiegen zu müssen. Mal abgesehen von einem anderen Zeitverständnis, das die Wenigsten auch nur nachvollziehen konnten.“

„Damit haben wir aber einen ganz spezifischen Bezug“, wirft Bornhardt ein: „Eine inverse Vorgehensweise, wenn die Regeln der Normalität rückwärts buchstabiert werden. Sie haben den Zugang zu den Archiven für Ihren Zweck entwendet und eine Junggesellenmaschine für die Gewährleistung der Intensitäten der gegenseitigen Zuwendung missbraucht; Sie haben sogar die Pornographie in den Dienst der Beziehungsarbeit gestellt. Allerdings sollten Sie mittlerweile sehen, wie Ihr Schema einer Liebe als Duell zu einem rücksichtslosen Verfahren des Machterwerbs werden musste! Nach diesen Jahren sollte immerhin nachvollziehbar sein, wie Sie ihre Freundin auf ein Machtlevel gehievt haben, für das sie nicht ausgestattet war und das sie nun, unter ihren improvisierten und schludrigen Anleitungen, learning by doing, in einer Tour de Force bewältigen musste.“

„Quick and dirty, das ist richtig, häufig genug geht es gar nicht anders! Wer sich heute ein Ziel setzt und alles zu dessen Verwirklichung einsetzt, rennt der Wirklichkeit nur hinterher. Es ist viel erfolgsversprechender, mehrere Ziele gleichzeitig anzuvisieren und sich von keiner Methode gängeln zu lassen – oft genug stellt sich der Erfolg erst dann ein, wenn man wachsam genug ist, im richtigen Augenblick die Chancen des Unvorhergesehen zu nutzen. Entscheidend war, dass ich auf eine Zeitkonzeption der körperlichen Rhythmen setzte, mich also bei den wesentlichen Entscheidungen von einem Prozess tragen ließ, der vor die Zeit der Uhren zurückreicht – und außerdem gewisse Wahrheiten in ihr Recht versetzte, die einmal meiner Freundin als Prämie gedient hatten, mich im Bett zu resozialisieren und von den verschiedenen Abhängigkeiten zu heilen. Zum einen konnte ich also an gemeinsame Erfahrungen unserer ersten Verliebtheit anknüpfen: Also das Hier und Jetzt mit Intensität laden. Und zum andern hatte sie alle Argumente zur Hand, sich zusammen mit mir auf den gemeinsamen Kampf gegen ein Behinderungssystem einzulassen.“

Jetzt ist Albach da: „Das klingt viel zu harmlos – tatsächlich hatten Sie sich doch in der Funktion eines Zuhälters eingeschrieben – Sie schickten diese Frau in die entsprechenden Bewährungsproben. Und das nur, weil Sie sich nicht in der Lage fühlten, einen ganz normalen Beruf oder gar eine Beamtenlaufbahn einzuschlagen.“

„Das ist die falsche Perspektive von Schmarotzern und nachgemachten Menschen – obwohl es sicher richtig ist, dass es alle gern so gesehen hätten. Richtig ist, dass die Normalität für mich ein Fluch war: An meinen Eltern hatte ich gesehen, wie die Normalen immer nur einem Durchschnittswert hinterher hecheln und eine ungeheure Angst davor haben, jemand könne bemerken, wie wenig Substanz sie mitbringen – die Normalität ist eine Simulationsveranstaltung, also tatsächlich nur Fake. Der Normalverbraucher repräsentiert nicht die Norm, sondern er verbraucht sie – nur deshalb müssen ihm oder ihr ständig neue Klischees zur Nachahmung geliefert werden. Damit verkümmert die Selbstdarstellung zu einer Form von Beschäftigungstherapie, die Repertoires einer erfüllenden Beziehung gehorchen einem Maximum an Unwahrscheinlichkeit. Wenn die Angst die Mutter der Methode ist, die eigenen Sehnsüchte und Erwartungen auszuhalten, verwundert es nicht, wenn die sozialen Medien eine Form der Erregungsverarbeitung ermöglichen, die auf den symbolischen Tausch von Intensitäten und Körperflüssigkeiten weitgehend verzichtet. Aber genauso richtig ist es, dass an den Rändern der gesellschaftlichen Entwicklung, in der Halbwelt und der Drogenszene, auf vorbürgerliche Formen des symbolischen Tauschs rekurriert wird, die ganz andere Wahrheitswerte transportieren, wenn man nur in der Lage ist, sich darauf einzulassen. Schon deshalb ist das Bild des Zuhälters unangebracht. Es entspricht vielmehr dem, was meine selbsternannten Gegner als letzte Verstrickung für mich reserviert hatten. Kennzeichnend ist, dass das Professorenehepaar mit den Selbstdarstellungsformen der Halbwelt spielte und in mancher Interpretation die Droge als Erkenntnismittel idealisierte. Vergleichende Literaturwissenschaft arbeitet sich im besten Fall an Ersatzintensitäten ab, während ich nach meiner Verführung für einige Zeit meine Jugend verkauft habe. Das war eine Chance, den Selbstzerstörungsmechanismen meiner Elternwelt zu entkommen, aber es war mit gefährlichen Nebenwirkungen verbunden. Erst dank der Begegnung mit der Beamtentochter wollte ich nichts mehr mit den Netzwerken des Päderasten oder dem Umfeld von Theater und Süddeutschem Rundfunks zu tun haben, und als es im Bett richtig klappte, wurden die Drogen unwichtig. Das war schon wieder ein Bruch in meiner Biographie. Zu Zeiten der Intrige war mir aufgrund der vergangenen Erfahrungen klar, warum ich als Zuhälter die energetischen Bindungen zerstört und alles verraten hätte, was mir wichtig war.“

„Das liegt doch aber nahe.“ Albach gibt nicht nach, als Literaturwissenschaftler kennt er sich mit dem Thema aus: „Wenn jemand eine so schöne Frau hat, wird er, wie die Weltgeschichte zeigt, in der Not die Schönheit instrumentalisieren!“

„Damit verkennen Sie den Motor dieser Liebe als Duell! Wir haben uns gewissen Extremerfahrungen ausgesetzt: Sie mich, weil sie sehen wollte, was ich aushalte und ich sie, weil ich hoffte, dass sie was daraus lernt. Wenn ich Baudrillard variiere, setzt eine Duellbeziehung den ökonomischen Tausch außer Kraft. Bolz beschreibt in ‚Das konsumistische Manifest‘, wie es der Geldwirtschaft zu verdanken ist, dass aus unversöhnlichen Rivalen Verhandlungspartner auf dem Markt werden, dass die Vorherrschaft des ökonomischen Tausches Stammesfehden aushebelt und den Krieg als Vater aller Dinge kastriert – das asketische Modell der protestantischen Ethik kurbelt die Geldströme auf Kosten der hormonellen Säfte an. Aber auch hier ist eine supplementäre Korrektur möglich, die im Nachhinein wie nebenbei das gesamte Relationsgefüge verändert und damit die Gegenwart der Vergangenheit umformatiert. Auf einmal tauschen wir nicht nur Säfte und hormonell unterfütterte Besetzungen, sondern Wechsel auf eine gemeinsame Zukunft, Zahlungsanweisungen auf künftige Hoffnungen und Erwartungen. Dann geht es nicht mehr um Umsatz, Zinsen oder Gewinne, sondern im besten Fall der jauchzenden Selbstverschwendung wird der symbolische Tausch wieder in sein ursprüngliches Recht versetzt. Anders als es Bolz darlegt, der die lacansche Resignationsformel für das Verhältnis der Geschlechter mit der Behauptung unterschreibt: Es kann einfach nicht gehen! Wenn das Begehren immer das Begehren des anderen ist, soll das Scheitern schon darin begründet liegen, eine Anerkennung unseres Begehrens zu erwarten. Ein vom Bild der bürgerlichen Persönlichkeit geprägtes Modell, dessen Suche nach einer Ganzheit von narzisstischen Projektionen tatsächlich unmöglich gemacht wird. Wenn ich allerdings davon ausgehe, dass Partialobjekte miteinander spielen und im wechselseitigen Konsum einen gemeinsamen Wahrheitsgehalt freisetzen, der jenseits des eingemauerten Subjekts in den interobjektiven Wirkungsweisen eines evolutionären Geschehens verankert ist, muss ich mich nicht auf Bilder und Projektionen zur Selbstvergewisserung zurückziehen. Der Sex ist vorpersonell und hat, während er reziprok wird, Teil an der Erfahrung des Göttlichen, das uns in der Welt und nicht in ihrem Jenseits begegnet. Wenn diese sich im Feld des symbolischen Tauschs entfaltet, ergeben sich unmittelbare Zugänge zu den Lebendigkeiten; es werden jene Intensitäten freigesetzt, die uns von der Verstrickung in imaginäre Leidenschaften erlösen. Erst die Bildwelten und Projektionen, die sich dem Verzicht und dem Tabu verdanken, haben jene Charakterstruktur der Persönlichkeitsdarsteller geprägt, der es auf den Besitz und die Verfügungsgewalt ankommt.“

„Aber Sie können bei einigen der größten Theoretiker nachlesen“, fällt mir Bornhard ins Wort: „wie mit der Gewohnheit die Leidenschaft schwindet und der Reiz des andern Körpers gegen Null geht, wenn das Spiel nur genug wiederholt wird. Die Liebe lebt von der Sehnsucht, sie wächst doch am Verzicht!“

„In der Literatur vielleicht, aber im Leben wird sie so zur Tragödie! Wir brauchen ein energetisches Geschehen, das die Liebe wach und aufmerksam erhält. Damit sind wir bei der Liebe als Duell. Entscheidend ist eine Beziehung zwischen Gleichen, die sich nicht gleichen, ein symbolischer Tausch, der die Reibungsenergien freisetzt und für ein energetisches Spektakel sorgt, demgegenüber dem Narziss die Luft ausgeht. Ab einer gewissen Spannung springen die Funken über und mit der nötigen Übung wird eine Ranghöhe erreicht, die Geistesblitze freisetzen kann. Es ist eben nicht nur die Verzweiflung oder die extreme Ausgeliefertheit, die zum Wirkungsgeschehen Schneller Brüter führen: Das die körpereigenen Drogen befördernde Spiel mit den Partialobjekten kommt zu ähnlichen Ergebnissen. Eben weil der Tod der Spieleinsatz des symbolischen Tauschs ist, kann der Sex als l’art pour l’art und kleiner Tod die Duellbeziehung außer Kraft setzen: Wenn er nicht der Alimentation oder dem Bemächtigungswahn gehorcht, sondern der Selbstverschwendung dient.“

„Sie wollen also damit sagen, dass der kleine Tod komplementär zur Todessehnsucht derer ist, die sich auf die Botschaft eingelassen haben, es könne zwischen den Geschlechtern einfach nicht klappen!“ Ich weiß noch nicht wo sie hin will, aber Bornhard sieht schelmisch aus: „Schließlich haben die Gesetzmäßigkeiten des sozialen Todes immer wieder in den verschiedensten esoterischen Nischen überwintert, um in den epidemischen Kriegsbegeisterungen in schöner Regelmäßigkeit den Bann zu brechen und die Normalität zu überfluten!“

„Die Todessehnsucht ist mit Sicherheit eine Deckadresse für das uneingestehbare Bedürfnis, die Interpretationsanweisungen eines sozialen Körpers zu suspendieren, im Extrem, den sozialen Körper zu verlassen.“ Ich unterstreiche, warum in diesem Feld die Gegensätze ganz nah beieinander liegen: „Das ist immer ein Resultat der Erfahrung der Sinnlosigkeit des eigenen Lebens. Tatsächlich kann an diesem Punkt des Umschlags das Maximum an Sinnleere umkippen in eine bis gerade noch nicht vorstellbare Sinnfülle. Schon der Humor liefert ein modellhaftes Schema. Wir verfügen über das der Angst und Verzweiflung innewohnende Vermögen der Heilung, wenn die Zerrissenheit der Welt offensichtlich wird. Mit der Erfahrung des sozialen Todes arbeitet sich die Katharsis der Katastrophe an den eigenen Verwicklungen, den verkorksten Rücksichtnahmen ab. Bis dahin wird jede Erfahrung, die mit archaischer Autorität auftritt tabuisiert und stillgestellt, sie taucht vielleicht noch im Traum oder den multimedialen Konstrukten der Unverbindlichkeit auf. Man muss sich nur beschissen genug fühlen und völlig am Ende sein: Als mir jene Gewalten begegnet sind, hieß es, die Spannung urweltlicher Kräfte zu halten, die Assoziationsmuster durchzuarbeiten, bis die Geistesblitze zündeten. Nur ein befriedigter, mit sich einiger Körperbezug ist in der Lage, diese Kräfte zu akkumulieren, ohne die Energie in Kurzschlüssen abzufahren. Wenn alles auf dem Spiel steht, können auf einmal Kleinigkeiten bedeutsam werden und eine gewaltige Ruhe und Stärke verleihen. Die körpereigenen Drogen machen aus dem Elend und der Ausgeliefertheit, wie schon vor Jahrtausenden, das Sprungbrett eines neuen Glaubens – und wenn es der Glaube an die göttlichen Kräfte ist, die wir in den Grenzerfahrungen freisetzen. Dies scheint den Sozialisationsagenten des Realitätsprinzips bedrohlich, während die Unterhaltungsindustrie systematisch an der Symbolisierung dieser endorphinen Ventile arbeitet, um damit Umsätze freizusetzen und zugleich ihre Irrealisierung zu befördern. Also liegt doch eine einfache Schlussfolgerung nahe: Wo es möglich ist, den umfassendsten und sinnleersten Signifikanten auszuwerfen, das Geld, kann es in einem ganz anderen Maße möglich sein, Sinn und Harmonie für ein eigenes Leben zu stiften. Die ursprüngliche Stimmigkeit, dass etwas sitzt und passt und ineinander greift, liefert die notwendige Voraussetzung, damit es besser flutscht. Die sich ergebenden Harmonien sind die Grundlage aller späteren Sinnentwürfe. Gerade weil es nicht anders ging, begann ich zu einem Zeitpunkt Geld zu machen, an dem meine selbsternannten Gegner davon ausgingen, dass sie alle Einnahmequellen kontrolliert oder verstopft hatten. Die Voraussetzung war, sich nicht um den Sinn oder die Rechtfertigung zu kümmern, sondern sich auf den Markt einzustellen, die Gier für uns arbeiten zu lassen: Den Sinn hatten wir schließlich im Bett erarbeitet.“

„Ich finde das ekelig und machohaft“, wirft Wolhe ein: „Sie können nicht für beide Geschlechter sprechen, nur weil sie sich einmal vorgenommen hatten, das Paradies zu ervögeln. Das kann nicht die Lösung sein, wenn sich das eine Geschlecht ständig an der Vergewaltigung des anderen gesund stößt. Was ist am Körper eines fremden Menschen jenseits des hormonellen Kicks überhaupt anziehend oder begehrenswert? Wir wollen doch gar nichts von einander! Was zustande kommt, beruht auf einem bedauerlichen Irrtum. Tatsächlich ist doch jeder Geschlechtsakt eine Vergewaltigung!“

„Kein Problem, wenn Sie sich künstlich befruchten lassen, haben Sie ihre Bestimmung als Frau bereits erreicht! Sie erzeugen dann ein so vollständig auf Ihre Macht angewiesenes Wesen, dass sich die Frage nach dem Sinn für die nächsten zwei Jahrzehnte nicht mehr stellt. Und außerdem suspendiert diese Form der Inkompetenzkompensationskompetenz den tatsächlichen Bereich der weiblichen Macht – zu dem frau allerdings nur mit der entsprechenden Attraktivität zugelassen wird.“

„Das ist keine Antwort auf meine Frage!“ reagiert Wolhe pikiert. Sie weist damit jede Anmutung zurück, der Mangel an Attraktivität wäre ihr Motor der Verleugnung eines sexuellen Geschehens, das sie lediglich im Modus des Sexualneids erahnt.

„Das ist ein Prozess, der nur dann erfolgreich abläuft, wenn es gelingt, das Bestreben nach Macht zu suspendieren. Also üben, üben und nochmals üben. Auch der Verführung geht es nur um die Macht, auch das Begehren, das sich weitgehend der Angstbewältigung verdankt, bestätigt nur das Streben nach Macht, während der reine Sex das Begehren löscht und uns in einer heiteren Gelassenheit zurücklässt. Für eine konfliktuelle Verfassung, in der vor allem zählt, was die Angst klein hält und einen Anlass zur Selbstinszenierung mit sich bringt, ist die postkoitale Frustration eine logische Folge. Löschen Sie dagegen den konfliktuellen Bezug, sich am Wunsch des anderen aufzuladen, befähigt der Vollzug zu einem umfassenden Ja. Der symbolische Tausch liefert keine Ware gegen Geld, sondern energetische Besetzungen gegen Aufmerksamkeit und im besten Fall werden die Empfindungen zu einem Fundus werthaltiger Bedeutungen. Wenn Bolz einen Weltzustand beschreibt, in dem man vernünftigerweise von der Tatsache auszugehen habe, dass es keine Tatsachen gibt, so unterstreicht dies, warum ein jeglicher Wert nur im Status des Als-ob zu denken ist. Diese Voraussetzung, die Tag für Tag von der Theologie des Marktes und der Sinnstiftung durch Konsum eingehämmert wird, ist das psychologische Fundament des Normalverbrauchers. Die Notwendigkeit der Selbstdarstellung ist eine Steigerungsform der Abwesenheitsdressur und treibt die Gier ins Immaterielle. Der neidische Vergleich mit den anderen überwuchert die erfüllbaren Bedürfnisse und reduziert sie auf den Motor aller Machtspiele: Das Ich-bin-wichtig.“

„Ich habe das Gefühl, Sie weichen ins Theoretische aus“, unterbricht Albach und versucht mich mit dem kalten, starren Blick eines Reptils zu irritieren: „Das Geld soll den Menschen von allen unschönen Begleiterscheinungen des Menschlichen entlasten. Mit dieser Systemanalyse liegt Bolz völlig richtig. Ich denke, ein Großteil ihrer Probleme war den Machtansprüchen der Elterngeneration zu verdanken –  Ihre Probleme wären zu lösen gewesen, wenn Sie genügend Geld gehabt oder zu diesem Zweck die Schönheit der Frau instrumentalisiert hätten. Dafür gibt es genügend Beispiele!“

„Ich durfte die Frau nicht verlieren, ich hatte bis dahin alles Erdenkliche getan, um sie zu gewinnen!“ Ich schaue mir seine Pinselwarzen gedankenverloren an und wundere mich, warum er sich solche Mühe gibt, mir den Imperativ einiger Geisteswissenschaftler unterzujubeln. Nachdem er mit einer Reederstochter in ein Vermögen eingeheiratet hat, hätte er sich nirgendwo anbiedern und nichts machen müssen. Aber anscheinend hat er ein Gegengewicht nötig, um sich im Familienverband behaupten zu können. „Das ist ganz einfach. Ich wollte die Frau nicht platt machen, sondern überzeugen! Ich wollte ihr zeigen, dass es besser war, sich auf jemanden einzulassen, der sich hundert Prozent investierte, als dem Imperativ ihrer Eltern zu folgen, der gelautet hatte: ‚Bei deinem Aussehen hätte ich jeden Tag einen anderen!‘ Also verausgabte ich mich, damit nichts mehr von dem zurückblieb, was der kleine Musik als Familienkrüppel einmal gewesen war.“

„OK, damit sind wir bei der Wirkungsmacht des Signifikantennetzes der Familie ihrer Lebensgefährtin. Von hier aus wird der Duellbegriff stimmig. Der Großvater hatte es in der Rolle eines Publizisten als Herausgeber eines Naziblättchens immerhin soweit gebracht, zusammen mit Goebbels abgelichtet zu werden. Sie hatten einen dieser alten Drucke in der Hand aber nicht eine Sekunde daran gedacht, den Widerstand gegen eine Beamtenkarriere auf diese Traditionslinie zu beziehen. Einer der Onkel ihrer Frau war als Globetrotter zum Berater Ceausescus geworden, ein anderer Russischprofessor in der DDR. Das existierte für Sie alles einfach nicht. Aber nach und nach ist Ihnen vielleicht in manchen Situationen klar geworden, dass selbst diese Karrieren noch immer eine Kapazität voraussetzten, an der es bei Ihnen mangelte!“

„Das haben Sie schön auf den Nenner gebracht“, unterbreche ich ihn: „Mal abgesehen davon, dass mir diese Informationen entweder so präsentiert worden waren, dass ich sie nicht gespeichert habe oder erst Jahre nach meiner Vertretung auf der Bank zur Kenntnis nehmen konnte.“

„Haben Sie einmal besprochen, was das überhaupt hieß, als Ihr künftiger Schwiegervater, nachdem Sie sich sterilisieren ließen, getönt hat: ‚Das Kind kann meine Tochter auch von einem anderen bekommen‘?“ Er zieht sich auf diese harmlosere Argumentation zurück, um seinen Fauxpas vergessen zu machen: „Wenn der mögliche Partner einen Schutzschild gegenüber den elterlichen Imperative darstellt, ist dies doch eine ganz perverse Manipulation. Damit wird eine angebliche Emanzipation empfohlen, um die lebenslange Abhängigkeit zu erhalten!“

„Das war einfach zu verstehen, wir beschäftigten uns nicht weiter damit. Dieser SPD-wählende Beamte hatte mit allen Tricks daran gearbeitet, die eigene Tochter in eine Nutte zu verwandeln, um zu schmarotzen und seine Stillstellung auszuhalten. Dazu hatte ich sicher nichts beizutragen – ich nutzte jede Gelegenheit, den Alten unter die Nase zu reiben, warum ihre Verbalerotik nicht mehr als eine Einwilligung in den Verzicht war. Zudem gab es unter den Kollegen Ehepaare, denen vergleichbares gelungen war, die zumindest drogenabhängige Söhne oder magersüchtige Töchter zustande gebracht hatten. Was ich in diesem Kontext mitbekommen habe, war abstoßend und uninteressant. Wenn die Antriebshemmung zum Motor des Realitätsprinzips ernannt wird, ist das Leben verloren, bevor es überhaupt begonnen hat. Aber diese Einflüsse haben dazu beigetragen, einige Analysen auf der Uni einzubringen, die manchen Bildungsbeamten hellhörig machten. Sie sollten mir den Weg in eine geordnete Laufbahn in der Wissensgesellschaft gründlich verbauen.“

„Damit ändern sich aber alle ursprünglichen Setzungen: Sie galten als elitärer und eingebildeter Depp, der sich nicht mit Normalstudenten unterhielt und von Professoren umworben wurde.“

„Ich war aufgrund meiner Vergangenheit extrem entfremdet. Es war mir nicht möglich, mein Selbstwertgefühl durch die Identifikation mit irgendwelchen Gruppen oder Bewunderern aufzubauen. Zudem war ich so gut wie verstummt; ich las, um mich dank eines Repertoires treffender Zitate in einer Position des Abwartens zu halten – aber wenn ich auf den alternativen Bodensatz schaute, der mir einmal wichtig war, kam ich mir schon tot vor. Wenn mir Studenten aus gutem Hause, Kinder von Beamten, die wieder Beamte werden wollten, erzählten, wie sie auf der Uni einen richtig eigenen Lebensstil gefunden hatten, musste ich nur ein paar Anekdoten aus meiner Vergangenheit als Stricher und Flippie oder Dealer anklingen lasen und der pseudoalternative Firnis bröckelte. Von da ab wurde kolportiert, ich sei kommunikationsgestört: Die Wirklichkeit, die dieser Beamtennachwuchs aushielt, hatte nichts mit dem zu tun, was sie dann als Streetworker und Sozialarbeiter oder als Lehrer später mit dem sogenannten Praxisschock kennenlernten.“

„Und? – Was haben Sie anders gemacht?“

„Wir waren täglich drei Stunden mit den Hunden unterwegs, so bekam der Körper das nötige Futter an Sinnesdaten und Muskelinnervation. Außerdem wurde das Prinzip Hoffnung am Leben gehalten, wenn wir regelmäßig vögelten – aber von der Frage nach dem Sinn des ganzen Unternehmens hatte ich mich verabschiedet. Ich las und machte mir Notizen, teilte den Tag so ein, dass die Aufmerksamkeit durch den stündlichen Wechsel der Themen nicht erlahmte, kochte zwischenrein oder ging einkaufen. Meine philosophischen Themen federte ich durch Biologie, Ethnologie und Psychoanalyse ab und griff nebenbei auf Systemtheorie und Kybernetik zurück. Die Frage nach dem Sinn des Lebens erwies sich als Verführung zur Komplexitätsreduktion: Der Sinn war das Leben selbst! Und jeder Fick ein krönender Höhepunkt, der vieles rechtfertigen konnte oder aushalten ließ. Wir hatten erst einmal ohne es zu wissen die Gesetzmäßigkeiten eines kosmogonischen Eros reaktualisiert, lebten nicht nur in den Konflikten zwischen mehreren Welten, sondern in jener Zwischenwelt, die Platon gekennzeichnet hatte, als er den Eros als jene Kraft definierte, die in die Existenz eine Bewegung von der körperlichen Unvollkommenheit zur energetischen Präsenz des Göttlichen eingeschrieben hat. Das erotische Verlangen ließ uns an der allmählichen Verfertigung junger Götter beteiligt sein. Alles andere waren mehr oder weniger erfolgreiche Anstrengungen, eine leere Zeit zu überbrücken, bis die nächste Vergegenwärtigung des Göttlichen in Angriff zu nehmen war. Wer einmal erfahren hat, wie der Augenblick mit Unendlichkeit gesättigt wird, spart sich die Prosa verwaltender Umstandskrämer.“

„Moment einmal, ich will mich jetzt nicht auf das Spiel mit mittelalterlichen Theologumena einlassen.“ Der Moderator versucht das Thema abzuwürgen.

„Was wollen Sie im Mittelalter? Wenn Sie die späten Schriften Kittlers lesen, stoßen Sie auf genau diesen Begründungszusammenhang. Der Traum der griechischen Philosophie, über das in der Wahrnehmung des Schönen zu erfahrende Identische an das ideelle Eine heranzukommen und damit am Göttlichen teilzuhaben, lässt sich auf einer relationalen Ebene weitgehend nachvollziehen – aus diesem Grunde ist an genau jener Schaltstelle der kulturellen Entwicklungen anzuknüpfen. In Kittlers ‚Musik und Mathematik‘ wird auf den Nenner gebracht, dass die Musik dazu einlädt, in der Liebe Götter nachzuahmen: Mit dem nötigen Quantum Lebenslust und unsublimierter Schöpferkraft kann es gelingen, außerhalb der Asyle der Kunst und der Wissenschaft an der Schöpfung teilzuhaben. Wenn für das Interesse an den Rhythmen sogar an Thales oder Kroton zu erinnern ist, so deshalb, weil jede Harmonie der Bildung jenes seelischen Bereichs dient, in dem die Triebe und Affekte zu Hause sind. So wie heute wieder deutlich wird, dass die Triebe vorpersonell sind, dass die Affekte von außen ins Innere aufgenommen werden, dass es ein frommer Wunsch gewesen ist, von einem Privatbesitz der Innerlichkeit auszugehen, war der Mensch für Platon in der Triebsphäre kein Individuum, sondern eine Relation zwischen anonymen Einflüssen. Gehen wir noch ein wenig weiter zurück, vor die Sublimationsanstrengung der platonischen Philosophie, so haben wir den geschichtlichen Ursprung seiner Lehre von den Trieben in den dämonischen Mächten der alten Religion, vor denen der Mensch sich zu schützen versucht und denen er immer wieder ausgeliefert ist. In diesem Zusammenhang bekommt die Musik eine universelle Bedeutung, die wir bei allen magischen Kulturen finden. Sie hat die dämonischen Gewalten, aus denen die Götter der Hochreligion nach und nach gebildet wurden, zu beschwören und zu bannen, anzurufen oder abzuwehren. Bei Picht sind die Eigenschaften der Musik gekennzeichnet: Der Mensch verdanke ihrer heilenden Macht die Sicherung eines humanen Bereichs, der ihn vor der Übermacht der anonymen Gewalten bewahrt. So kann man zum einen sagen, die Griechen haben in einem enormen Prozess der Vergeistigung dafür gesorgt, die Urgewalten ihres dämonischen Wesens zu entkleiden, um daraus Seelenvermögen zu machen. Jener Bereich, den wir in der Tradition der Mystik als Innerlichkeit zu erleben gewohnt sind, aus dem die Selbstversicherung des bürgerlichen Ichs hervorgegangen ist, ist nichts anderes als das gebannte Pandämonium der alten magischen Religionen. Wenn das aber erst einmal erkannt ist – und das Freudsche Unternehmen hat wesentlich dazu beigetragen –, wird klar, dass es keinen großen Unterschied macht, ob der Mensch die Gefahren, die ihn bedrohen, als innere oder als äußere Gewalten erfährt: Es ist die gleiche Erfahrung der Bedrohung und Überwältigung.“

„Das sollten wir noch genauer wissen“, wirft Albach ein: „Vor allem in einer aktuellen Form! Das ist Bücherwissen, fein gesponnene Spekulation frei nach Whitehead. Aber was hilft das jemandem, der täglich acht Stunden im Büro am Telefon hängt und ein dafür notwendiges Wissen mit einer Halbwertzeit von wenigen Minuten aus dem Computer bezieht.“

„Ich habe bis zur Erschöpfung telefoniert! Wenn ein Mensch die nötige Substanz erwirbt, also nicht nur als depperter Schauspieler seines Selbstwertgefühls über den Umweg der anderen gelten will, ist das genau an jenem Ausgangspunkt zu sehen, an dem Erleuchtung und Orgasmus identisch sind! Authentizität beginnt, wenn es uns gelingt, das Begehren zu löschen!“

„Und genau hier sollten wir ansetzen…“ müde lässt sich Charlus im Hintergrund vernehmen: „Nur weil Sie Musik heißen, geben wir uns mit der Absicherung bei einer antiquierten Tradition nicht zufrieden.“

„Ja natürlich! In den vergangenen Jahren haben in der Massenunterhaltung Vampire und Mutanten eine solche Bedeutung gewonnen, weil sie für einen Wahrheitsgehalt stehen. In diese Nischen der Sehnsucht, der subliminalen Wahrnehmung in der Zerstreuung, ist die menschheitsgeschichtliche Gewissheit ausgewandert, dass wir mehr sind, als festgestellte und normierte Herdentiere, dass wir auf der Suche nach Lebendigkeiten sind, dass wir in Verbindung mit den Ursprungsgewalten unsere Grenzen sprengen können. Der wichtigste Zugang zum Heiligen und der Motor aller Verwandlung ist die Sexualität – sie liefert die Öffnungen jenseits der Bedingtheiten unserer individuellen Grenzen. Die in extensiven Augenblicken erreichte energetische Einheit ist ein Geschehen, das sich der sprachlichen Erfassung entzieht, es ist nicht zu fixieren und verklingt mit der Zeit. Also braucht es die notwendige Übung und Geduld, um ein volles Sprechen auszuarbeiten, mit dem die energetische Deixis nach und nach umspielt und in Dienst genommen werden kann. In der Beziehungsarbeit entsteht jene Frustrationstoleranz, dank der Verzicht und Ersatzleistung mit der Zeit zu ihrer eigenen Aufhebung beitragen. Tatsächlich haben wir immer wieder einen Status der kraftvollen, unwiderstehlichen Harmonien erreicht, die die Echtheit des umfassenden Es-ist auf einen Nenner bringen konnten.“

„Das führt uns zum gegenwärtigen Zeitpunkt noch in eine Sackgasse“, beharrt der Moderator: „Die von Ihnen gekennzeichnete zeitliche Verschränkung erinnert doch vielmehr an das frühere Spiel mit chemischen Ekstasen, den Turbulenzen der Peptide im Unendlichen. Damit sind wir aber gewaltig nah an der Welt der Komplexitätsreduktion eines Süchtigen!“

„Das mag sein, nur hat mich der Sex einst von meinen Süchten erlöst. Jede Sucht steigert die Komplexitätsreduktion, um die Ängste auszuklammern, die die Begegnung mit den anderen freisetzt. In der ersten Verliebtheit geschieht nicht viel anderes, wenn die Projektionen unserer Bedürfnisse die Wirklichkeit des Gegenübers überlagern. Allerdings beinhaltet dies die Chance, das Gegenüber kennenzulernen. In der Folge kann uns ein spielerisch tastendes Verhalten in die Lage versetzen, uns im anderen zu verlieren und damit eine Offenheit für die Erfahrung des Hier und Jetzt vorzubereiten. Normalität und Mitläufertum reduzieren eine als überkomplex erfahrene Wirklichkeit auf die Minimallösung schwachsinniger Konventionen und verdammen uns dazu, in einer Welt von Sensationen und Begeisterungen aus zweiter Hand leben. Dabei wäre es ein leichtes, den multimedialen Gebrauchtintensitätenvermittlern die Schlüssel zu entwenden, um erneut der Echtheit der Überwältigung zu begegnen. Gegen dieses Fluchtverhalten in Abstumpfung und Resignation pflegten wir die aufmerksame Entdeckerfreude der kindlichen Intelligenz. Wir konnten uns daran üben, die Erfahrung eines Zustands in Bilder und Worte und Gefühle umzugießen, den wir jenseits der Symbolisierung erfuhren. Das ging nicht als Übersetzung, die Unmittelbarkeit des Hier und Jetzt der Präsenz war kein zeichentheoretisches Unterfangen. Es ging also nur durch geduldiges Üben und durch die Ausbildung von Routinen, die sich von der Kontrollinstanz des Bewusstseins unabhängig machen konnten.“

„Sie weichen aus!“ versucht Albach zu unterstellen und wirbt zugleich um meine Aufmerksamkeit: „Sind diese enormen Umwege vielleicht nötig, weil Sie von meiner Unterstellung der Rolle eines Zuhälters ablenken wollen?“

„Ich denke, wir argumentieren auf zwei ganz verschiedenen Ebenen. Ab einem gewissen Zeitpunkt lebte ich nur noch dank dieser Frau, für sie hätte ich mein Leben gegeben – denn ohne sie hätte ich mich einfach fallen lassen und darauf gewartet, bis in dieser schwachsinnigen Welt, für die ich mich niemals freiwillig entschieden hätte, das Licht ausging. Wir ziehen unsere Kraft nicht aus der Egozentrik, sondern wir gewinnen sie, wenn wir uns im anderen verlieren, wenn wir alles für jemanden investieren, den wir lieben.“

„Das war einmal ein Mythos, der heute zum Motor vieler Werbestrategien geworden ist!“ Kein Wunder, fühlt Wolhe sich in diesem Zusammenhang berufen: „Sie müssen mir erst einmal beweisen, warum die Paarbildung für ein wirklich gebildetes Individuum mehr bringen soll, als die Freude an der Selbstentfaltung!“ Zuckersüß und verlogen, aber es bleibt der bittere Nachgeschmack von billigem Süßstoff.

„Ich muss sicher nichts beweisen, das mag Ihr Problem sein. Der Bezug der Macht auf das Verhältnis der Geschlechter variiert nur die Wahrheitswerte des Verzichts und der Surrogate. Wenn die Akkumulation von Macht vom Verzicht auf eine entgrenzende Lustpolitik abhängt, bietet sich die Frage nach den Grundlagen der Gesetzmäßigkeiten des Paares an. Wie Max Bense mir beigebracht hat, müssen wir immer wieder bis drei zählen können. Für die Semiotik ist die ursprüngliche Einheit die Zwei und zwar als Triade! Es muss eine Vermittlung zwischen den Geschlechtern stattfinden, die Funktion des Eros besteht darin, wie Fellmann überzeugend für eine philosophische Anthropologie zeigte, ein Verhältnis der Geschlechter herzustellen. Die Wirklichkeit der erotischen Liebe ist reicher als alle Sinngebungen, und sie entzieht sich dem zweckrationalen Handeln: Sie braucht kein fremdes Ziel, weil sie ihr eigener Beweis ist. Die Lust ist die einzige Sprache, die beide Geschlechter unmittelbar verstehen, weil sie die Erfahrung vermittelt, dass jeder Subjekt und Objekt zugleich ist. Der Eros erscheint als der einzige Weg, die narzisstische Einkapselung des Menschen zu überwinden. Dazu braucht es den Schutzschild eines Dritten gegen die gierigen Besitzansprüche der Mutter, die dafür sorgen möchte, dass später keine/m der Zugriff auf ihren Ableger gelingt. Schon in Nachgeburt und Doppelgänger ist dieser Dritte präfiguriert, wie Sloterdijks umfangreiche Abschweifungen in den ‚Sphären‘ erwiesen. Gegen ein klassisches Identitätskonzept ist mit Harmonien zu operieren, also mit dreiklängigen Relationssystemen, die jenseits des Einen und der Eins sind. Erst durch eine/n Partner/in werden wir in die Lage versetzt, wirklich ins Leben zu treten: Die Essenz der Tragödie taucht in der Erfahrung der Liebe als Duell wieder auf! Es ist die Mutterschaft, der wir das Prinzip verdanken: Ich schenke dir, was Du gar nicht haben wolltest, weil ich damit meine haltlose Position auszuhalten weiß. Und dann erwarte ich, dass Du ehrfürchtig genug bist, nichts mit dem Geschenk anzufangen! – Dank der Beziehungsarbeit können wir diese tödliche Gabe der Pandora zurückweisen: Es ist immer wieder die erste Frau, die dafür sorgen soll, dass die Menschen nicht bis zum Leben vorgelassen werden.“

„Eben das bezweifele ich!“ Wenn sie nur ein bisschen diffundiert, braucht Wolhe nicht aufzugeben, sie kann mir den schwarzen Peter der Begründung unterjubeln: „Die Mythen stehen im Rechtfertigungszusammenhang des patriarchalischen Weltbilds. Und der ist unbestritten eine Denk- und Erfahrungsbehinderung, die letztlich darauf hinausläuft, dass der Mensch als Mann meint, alle Fraglichkeiten und Begegnungen durch Unterwerfung zu regeln. Das ist heute erledigt, damit müssen wir uns nicht mehr beschäftigen!“

„Über den Wahrheitsgehalt der Mythen gibt es die verschiedensten Statements. Ich darf Sie an die Arbeiten von Jessica Benjamin erinnern – dort könnten Sie den Fundus ihrer Argumentation aufrüsten. Der Mythos transportiert vielleicht keinen fixierten Wahrheitsgehalt, aber Bedeutsamkeiten, also die entsprechenden Variablen, die dann in den jeweiligen Lebenssituationen mit konkreten Bedeutungen aufgefüllt werden. Gelegentlich höre ich noch Popmusik, und wenn ich das ansehe, was sich in einem halben Jahrhundert angesammelt hat, so ist nicht nur eine Entwicklung vom einfachen Rock’n Roll zu psychedelischer Musik oder symphonischen Pop nachzuvollziehen. Alle Märchen und Mythen wurden verwurstet, alle Stilrichtungen und Komponisten wurden zitiert. Wenn ich die richtigen Stücke raussuche, kann ich an den Wandlungen einer Liebesvorstellung teilnehmen, die sich von der egozentristischen Selbstbefriedigungsmanie bis zu den Geheimnissen des Tantra und einer transpersonalen Erotik entwickelt. In der Massenunterhaltung finden wir oft authentischere Dokumentationen des psychischen State of the Art als in den sozialpsychologischen Statistiken. Es ist schon anderen aufgefallen, wie gerade in Extremsituationen die Wirklichkeit nicht mehr vom Comic Strip zu unterscheiden ist. Eben weil die Mythen noch unverstellt und ohne Rücksicht auf den guten Geschmack alles durch den Wolf drehen, was der postmodernen Bedürfnisstruktur entspricht. Aber lassen Sie mich Albachs Vorwurf noch einmal aufnehmen: Als wir wirklich keine Möglichkeiten mehr hatten und ich die Routinen eines Anzeigenverkäufers am Telefon erarbeitete, war ich der Prostituierte. Wenn ich Termine zustande brachte, um einen Auftrag über ein paar tausend Mark zu schreiben, schickte mich meine Frau mit dem Imperativ hin, den Umsatz zu realisieren, ganz egal, wie ich es diesen Arschlöchern zu besorgte. Ich schrieb die Vertragsabschlüsse, solange es das Geld protziger Luxusgeschäfte und reicher Schwachköpfe  war. Aber ich bestand nicht darauf, jemanden zu schädigen, der es sich nicht leisten konnte, in einem Exklusivmagazin zu werben und damit seine letzten Reserven zu verpulvern.“

„Das greift schon zu weit vor“, schaltet sich der Moderator ein: „Vielleicht hatten Sie im Endeffekt etwas gut zu machen! Die Entscheidung, die Habilitationsangebote im Sand verlaufen zu lassen, verwirklichte doch nicht den Plan, ein freier Autor zu werden – genau dazu hätten Sie die Unterstützung der Professoren benötigt.“

„Wer sagt denn, ich habe das einfach entschieden?“ werfe ich ein: „Ich habe mich doch eher um eine Entscheidung gedrückt, weil ich mich nicht in irgendwelche Abhängigkeiten verstricken wollte. Ich ging davon aus, diese Bildungsbeamten würden mich auf die Dauer schaffen, wenn ich auf ihre Zuwendung angewiesen war!“

„Genau das meine ich damit, wenn ich sage, Sie hätten es tatsächlich ein wenig zu gut gemacht: Sie haben sich rar gemacht, wurden damit zu einem ernstzunehmenden Machtfaktor. Wenn wir auf etwas keinen Einfluss nehmen können, macht es uns Angst. Noch dazu haben Sie über die Bande gespielt und ihre Lebensgefährtin als Informationsleitung verwendet: Über die Drehpunktpersonen der Volkshochschule wanderten die nötigen Provokationen direkt zu den Literaturwissenschaftlern. So etwas sollte man sich genau überlegen, denn Sie haben sie damit in den Focus ganz anderer Einflüsse gestellt. Als schöne Frau hatte sie es genossen, immer im Zentrum des Interesses zu stehen, aber schon als Koautorin des Ottobuchs gewann sie eine andere Bedeutung und die Gerüchte, die sich um die Arbeit am Roman ‚Altpapier‘ rankten, katapultierten sie in wesentlich höhere Regionen. Währenddessen ließen Sie Benses Vorschlag, über Adornos Ästhetik zu arbeiten oder die literaturwissenschaftliche Anregung, das Projekt Kultur und Vergessen in Angriff zu nehmen, einfach unentschieden, um sich die Verstrickung in irgendwelche Abhängigkeiten zu sparen.“

„Was soll’s, es reichte doch, und ich hatte keine Lust, als Bildungsbeamter zu enden. Ich verdiente mit meinen Tätigkeiten nicht weniger als meine Lebensgefährtin und aufgrund der geringen Mietkosten konnten wir uns alles leisten, was wir brauchten, um die gemeinsame Zeit in Eigenarbeit zu investieren. Wir mussten nicht einmal sparen – wenigstens so lange, bis wir umzingelt waren und die Anschlussmöglichkeiten rapide schwanden.“

„Sie hätten aber immerhin misstrauisch werden können, als ihre Lebensgefährtin Angebote bekam und auf den Posten der Sekretärin des Vizedirektors angespitzt wurde. Noch dazu war das ganze Theater der Hohn, wenn man ihre Möglichkeiten bedachte. Warum setzten Sie sich derartigen Belastungen und Machtspielen aus, nur weil Sie nicht bereit oder fähig waren, die Arbeit in den üblichen Netzwerken aufzunehmen? Sie hätten doch einfach so lange mitspielen können, bis sich Chancen ergeben hätten, auf einen erfolgversprechenderen Zug aufzuspringen!“

„Das klingt plausibel, war aber nicht mein Ansatz. Ich wollte vor allem unabhängig bleiben. Ich wollte über die Wege des Wissens, über die Wahrheiten, denen ich meine Zeit widmete, selbst entscheiden. An das richtige Repertoire angeschlossen, garantieren unkontrollierbare Hilfsarbeiten einen Freiheitsspielraum, den es für die brüchige Karriereplanung in der Verwaltungsuniversität schon lange nicht mehr gibt. Sie können erklären, warum die Leute mehr und mehr Angst vor mir hatten und deshalb irgendwelchen Schwachsinn ausbrüteten. Aber das ändert nichts an der Tatsache, dass ich nicht zu ihnen gehören wollte. Ich begann kein Studium der Philosophie, um mich auf eine Welt einzulassen, die allen Zauber verloren hatte. Einem Kind der Lüge und der Dummheit eröffnete die Philosophie auf einmal einen Raum, in der die Lügenwelt dieser kleinen Spießer und natürlich die der großen Simulanten durch die Arbeit an jahrhundertealten Wahrheiten zerlegt werden konnte.“

„Das ist schon lange her“, wirft Wolhe ein und winkt mit dem moralischen Zeigefinger: „Sie haben ihnen noch immer nicht verziehen. Es waren schließlich Ihre Eltern!“

„Genau, das kann man nur vergessen, zu verzeihen ist es nicht. Wenn es nach mir ginge, müssten die Leute rechtzeitig vor jeder Geburt mit einer Art Führungszeugnis nachweisen, für das seelische und leibliche Wohl des künftigen Erdenbewohners mit den nötigen Mitteln und Fähigkeiten sorgen zu können. Gefühlsblinde Rechenmaschinen, die sich durch eine Zeugung die künftige Alimentation sichern, würde ich genauso ausschließen, wie asoziale Fickautomaten, denen es gleichgültig ist, was sie mit einer Schwangerschaft alles anrichten. Dann stände nicht zur Debatte, ob fötalen Gewebe und Zellstrukturen einer industriellen Verwertung zuzuführen wären.“

„Das ist kein Argument!“ insistiert sie: „Schauen Sie doch mal, was aus Ihnen trotz oder wegen Ihren Anfängen geworden ist. Über was für eine wundervolle Intelligenz Sie verfügen – auch wenn Sie in einer Form damit umgehen, die mir nicht akzeptabel erscheint.“

„Als Kind habe ich einen gewaltigen Aufwand getrieben, um von dem Mann eine Anerkennung zu erfahren, der nicht mein Vater sein durfte, obwohl uns der Name-des-Vaters verband. Natürlich bekam ich sie nicht, aber weil ich das Gesetz der Mutter nicht verstand, strengte ich mich immer wieder neu an. Ich wurde die Spielfigur für die hoffnungslosen Fälle und so konditioniert, dass ich erst zu einer großen Form auflief, wenn ein Normalverbraucher aufgegeben hätte, weil nichts mehr zu retten war. Aber ist es das wert, wenn einem dafür die Kindheit gestohlen wird? Außerdem sollten Sie sich vielleicht erst einmal über Ihren Ansatz verständigen! Ihre verlogene Einfühlungsgabe soll auf Dauer nur bewirken, mich in der Handhabung der Gesetzmäßigkeiten von Kontexten, also den Tricks, die Bateson unter Lernen 3 zusammenfasst, zu verunsichern!“

Sie versucht völlig unschuldig zu tun und gibt vor, ich hätte sie missverstanden habe. Der Moderator wischt den schlechten Geruch beiseite und mischt sich ein: „Genau so etwas müssen wir wissen. Ob es der Aufenthalt in einem Schwarzeruniversum ist oder die Erfahrung des symbolischen Tauschs auf dem Strich, beim Spieler oder Süchtigen. Wir versuchen uns an der Algebra des optimierten Menschen. Ihre Veröffentlichung zu den „Helden des Subliminalen“ haben gezeigt, dass Sie unsere Archive mit zusätzlichen Informationen beliefern könnten!“

„Erst einmal musste ich mithilfe einer exzessiven Lektüre die Scherben wegräumen und die Schäden beseitigen, die jenen Schwachsinnigen zu verdanken waren, die ohne einen Funken Verantwortungsgefühl für meine Geburtlichkeit gesorgt hatten. Und das ist ganz real so abgelaufen: Ich las, bis ich nichts mehr in der Birne hatte, bis ich irgendwann in meiner Ecke sitzen konnte und an nichts mehr dachte. Ein systematischer Speicherüberlauf ist nicht minder wirksam wie ein hartes körperliches Training. Kurzfristig ist immer wieder eine angenehme innere Lehre zu erreichen – zur Vollendung brauchte es dann noch ein paar andere Zutaten. Manchmal hatte ich das Gefühl, dass man die meiste Kraft des eigenen Lebens darauf verschwenden muss, die Scheuklappen abzustreifen, die jenen Krüppeln zu verdanken sind, die sich gar nicht getraut haben, ohne Selbstbetrug und Verleugnung zu leben. Auch das war eine Form des symbolischen Tauschs: Ich musste die durchschnittlichen Verkrüpplungen abarbeiten, um an eine echten Erfüllung heran zu kommen. Erst nach den Selbstheilungsversuchen einer exzessiven Lektüre kam das Ergebnis zustande, dass es eine Beziehung zwischen Wissen und Genießen gab: Es war ein Wissen, das mich nährte, das mich zum Ficken befähigte, das mich neu gebären konnte – und das ich tatsächlich der Resozialisierung im Bett verdankte. Ein Aspirant auf eine Stelle als Bildungsbeamter hätte diesen Erfolg verdrängen müssen. Die ausführlichen Aufenthalte im Bücherregal konnten bei diesem Unternehmen das Repertoire erweitern. Zu Zeiten, als die Zukunft durch meine Eltern hoffnungslos vernagelt worden war, hatte ich nur auf Droge an einem Geschehen teilgehabt, das mich mit einem fiebernden Staunen auf die Suche schickte – und diesen Lernerfolg habe ich nicht vergessen. Entzaubern sollten schließlich die Instanzenwege, die vielen Subalternisierungsversuche. Aber genau damit wollte ich mich nicht abfinden, ich hatte das Glück, im gesellschaftlichen Rahmen einer Zeit zu explorieren, in der die wirtschaftliche Expansion auf einer Wiederverzauberung der Welt beruhte.“

„Sie denken hier an die Diagnose Max Webers, die allerdings bereits in den Zwanzigern überholt war“, unterstreicht Albach: „Die verspätete Modernisierung, die das Dritte Reich den Deutschen aufzwang, war tatsächlich nur auszuhalten durch einen exzessiv durchorganisierte Enthusiasmus – weil sie jubeln und die Begeisterung ausleben durften, marschierten sie so bereitwillig mit. Mit dem Zusammenbruch und der verordneten Verleugnung war auf einmal Skepsis und Bescheidenheit angesagt. Hitler hat das Begeisterungsvermögen der Deutschen für mindestens eine Generation komplett gestört.“

„Richtig, deshalb brauchte es das Hintertürchen der Jugendkultur, um diese Antriebsstörung zu überwinden und Gefühle jenseits der Schwelle von Trauer, Scham und Verzicht zu entfesseln. Das den Modernisierungserfolgen der Nazis verdankte Vakuum der Begeisterungsfähigkeit wurde mit den modernen Medien und im Konsum wieder mit Sinn geflutet. Die Botschaft lautete, mit den sogenannten theologischen Mucken der Ware sind wir an der Entzifferung jener in unseren Körpern eingeschriebenen Geheimschrift dran. Mit den Medien haben wir an einer Wiederverzauberung der Welt teil, die die Chance beinhaltet, Gesetzmäßigkeiten zu kapieren und umzusetzen, an die wir in der alltäglichen Prosa nie heran gekommen wären. Es arbeiten genügend Spezialisten am Design, am Plot, an den charakterisierenden Zeichensetzungen. Unter dem Imperativ des wirtschaftlichen Wachstums bewegte sich die Welt in vielen Bereichen mittlerweile in der surrealistischen Verdichtung von Erlebnisräumen, die wirklicher wurden als die verwaltete Welt. Unter diesen Einflüssen tat sich für uns ein waffentechnisches Repertoire auf, mit dessen Hilfe sich viele der angekurbelten Nachstellungen wie von allein erledigten. Es tat gut, das Brausen in den einzelnen Zellen zu spüren, den Blitz zu bewohnen und mit den Tieren zu sprechen. Wir hatten niemals daran gedacht, gemeinsam zu zaubern, doch die in den Nachstellungen und Verleumdungen entstehenden Routinen gaben einen unerwarteten Halt – wir begannen die Kräfte, mit denen wir es zu tun hatten, erst nach und nach an den Opfern zu erkennen, die auf der Strecke zurückblieben. Als die die Intrige richtig in Fahrt kam, war es erhebend festzustellen, wie der Zufall für uns zu arbeiten begann. Wir konnten hin und wieder ein intuitives Wissen verwenden, das unter den Bedingungen des gepredigten Realitätsprinzips erst in der Zukunft auf uns wartete.

„Hier haben wir den Ansatz des Serientäters, das sollten wir genauer abklopfen!“ meldet sich Charlus zur Stelle: „Das ist eine Kunst, die nicht jedem gegeben ist, denn Sie können mir nicht erklären, wie der Kontext für eine/n zu arbeiten beginnt! Dieses Paar hat es geschafft, einer ganzen geisteswissenschaftlichen Fakultät durch Nicht-tun einen Tritt zu versetzen. Während der folgenden Nachstellungen und Umzingelungen haben die beiden, ohne überhaupt etwas zu unternehmen, eine Strategie entwickelt, dank der die Intriganten und ihre Delegierten alle mehr oder weniger beschädigt worden sind. Das will ich genauer wissen! Eine alte chinesische Regel der Kriegskunst hat einmal gelautet: Wer wirklich siegt, kämpft nicht! Das haben die beiden über Jahre hinweg durchgehalten, ohne einen Schaden abzubekommen.“

„Das stimmt nicht ganz, wir hatten Dino verloren“, werfe ich ein: „Es war ein starkes Symbol, wenn wir auf unseren Spaziergängen ein Pärchen Chows als Antriebsmaschine verwendeten. Wir kamen in den zwei Stunden vor der kreativen Eigenarbeit auf Touren und legten gewaltige Runden zurück. Als mein Chow unter dem Druck der Intrige eine Magendrehung bekam und unter Qualen krepierte, war das ein sehr schmerzhafter Einschnitt – ein Teil von mir ist mit ihm gestorben.“

„Das mag eine andere Geschichte sein, aber das führt jetzt zu weit weg. Wir wollten auf die Grundlagen des symbolischen Tauschs zurückkommen“, meint der Moderator und schaut mich abwartend an.

„Die Unmittelbarkeit dieser Erfahrung von Jetztzeit verdankt sich der Analogie zum Koordinationszentrum des Ich-Hier-Jetzt der Deixis. Die Gehirnforschung hat erwiesen, dass die Zeit, die wir als Gegenwart erleben, eine Zeitspanne von etwa drei Sekunden ausmacht. Mit einer gewissen Unschärfe beginnen an den Rändern eines derart kleinen Zeitfensters schon die Vergangenheit und die Zukunft. Die ästhetische Erfahrung ist in der Lage, dieses Fenster zu weiten, indem sie die Grenzen zum unmittelbar Vergangenen und zum Erwarteten verfließen lässt und eine Gestaltwahrnehmung möglich macht, die den Augenblick mit Ewigkeit imprägniert. Solchen prägnanten Augenblicken verdanken wir das Gefühl, an einer zeitlosen Präsenz teilzuhaben!“

„Das wissen wir mittlerweile“, insistiert der Moderator: „Aber sie laufen Gefahr, die wichtigen Zusammenhänge nicht mehr zur Sprache zu bringen, wenn Sie ständig auf die magische Verfolgerkausalität zurückgreifen. Also noch einmal die Frage: Wie haben Sie die Grundlagen des Symbolischen Tauschs für sich erarbeitet?“

„Einverstanden, obwohl Ihnen die Gesetzmäßigkeiten der magischen Verfolgerkausalität schon die Antwort auf Ihre Frage liefern. Ich versuche, einen Überblick zu geben, der die extremen Momente nicht nivelliert, damit die zwischen ihnen herrschende Spannung deutlich wird. Aber dazu brauche ich wieder Ihren praktischen Verstärker.“ Ich ziehe die Datenkappe über. Alles, was ich zusammensuchen müsste, ist präsent:

 

Die Intrige hat als Form der Katastrophenpädagogik gewirkt. Dem sozialen Tod habe ich die Erfahrung zeitloser Augenblicke zu verdanken, in denen nur das Gattungswissen des Körpers weiterhilft, der gespeicherte Überlebenswille eines evolutionären Geschehens – und damit die Erkenntnis, dass in der Dialektik die Eschatologie steckt. Es gibt momentane Ewigkeiten, in denen die Gesänge in den einzelnen Zellen, das Rauschen und Vibrieren ihrer zeitlichen Ausfaltung, zu einer Woge des überbordenden Lebenswillens anschwellen und über alle Ufer der institutionalisierten Stillstellung treten. Die in ihnen freigesetzte Bewegung befördert noch unterhalb der Sphäre der Bedeutungen eine Bejahung des Fließens und der Wandlungen der Lebendigkeit. Diese Bedeutsamkeiten hatte ich glücklicherweise nie aus den Säften verloren – schon deswegen war versucht worden, anhand meiner Vernichtung auf ihrer Nichtexistenz zu bestehen.

Zur Konzeption des Symbols finden sich Querbezüge bei Manfred Franks 'Gott im Exil', die mit Girards Überlegungen zum Verhältnis zwischen dem ursprünglichen Lynchmord und dem späteren, schon verdünnenden und verkennenden Ritus zusammengedacht werden. 'Das Heilige und die Gewalt' sind in den Anfängen eine ambivalente Einheit und so, wie sich verschiedene Zeichensysteme und Interpretationsanweisungen dazwischen schieben, werden sie im Prozess der Zivilisation immer weiter voneinander entfernt. In einem Weltzusammenhang der Grausamkeit ist Benjamins Begründungsverhältnis von Symbol und Tod mit Girard zu lesen. Die Bewegung des Rückwärtsbuchstabierens hat Teil an einer vordiskursiven Erkenntnis des Leibes: Opfer und Gründungsmord lieferten eine erste authentische Symbolerfahrung. Habermas Ausführung ‚Vom sinnlichen Eindruck zum symbolischen Ausdruck‘ zur Entwicklung des Symbolisierungsgeschehens erscheint damit in einem härteren Licht, denn nun werden gewisse Fundamente des kommunikativen Handelns offensichtlich, das implizite Scheitern ist nicht verwunderlich. Die sprachliche Einigung findet nur scheinbar in einem gewaltfreien Raum statt, denn abgesehen davon, dass Macht und Autorität in vielen Sprachformen verkörpert werden, gibt es strategische Verwendungsweisen, mit denen es im Sinne einer pervertierten Sprechakttheorie gelingt, böse Dinge mit Worten zu tun. Zu erinnern ist an Tardes von Durkheim angeregte Einsicht, dass eine Gesellschaft durch mimetische Stressimpulse zusammengehalten wird, dass der soziale Körper über Gefühle kommuniziert. Somit steuern gemeinsame, vorgeordnete Ängste und Erwartungen, ohne bewusst zu werden, die durchschnittlichen Befindlichkeiten. In den Gründungsakten ist es die brutale Willkür, mit der die Konvention zustande kommt, die mehr oder weniger stillschweigende Übereinkunft einer Gruppe auf Kosten eines einzelnen Lebens. Wenn die mimetische Krise in der Entdifferenzierung einen Höhepunkt erreicht, ist die Gewalt virulent, die Negation wuchert blind in der Gemeinschaft und droht sie zu zerbrechen. Im Punkt des Umschlags findet im Nu der Symbolkonstitution eine Übereinstimmung der Beteiligten auf Kosten des willkürlich ausgewählten Opfers statt: Das gemeinschaftliche Band ist wieder hergestellt, die Hierarchie und die Unterschiede sind gewährleistet. Der Ritus kommt später, er spielt mit Erinnerungen und zitiert die Krise, um sie zu bannen; er arbeitet als Überdruckventil an der Entspannung der in einer Gemeinschaft aufbrechenden Konflikte. Girard betont den Augenblickscharakter dieser Einheitsstiftung, die Plötzlichkeit und Unergründlichkeit des Konsens – in Benjamins Konzeption des Symbols finden sich einige Anklänge: von der Zeiterfahrung des Nu, über die kritische Sättigung eines Mediums zum Punkt des Umschlags, zur einheitsstiftenden und trotzdem jeder Intention entzogenen Wahrheit. Zu unterscheiden ist im Folgenden das Symbol als konventionelles Sprachzeichen vom Symbol als Ereignis eines Geschehens selbst – Benjamin findet dieses Symbol in der Dichtung wieder, die nichts mitteilt, keinen Inhalt, keine Botschaft, keine Handlung, sondern die sich selbst in ihrer Medialität zum Gegenstand hat. Während mit Blumenberg das Feld einer Metaphorologie aufbereitet wird, geht Frank von einer Begründung am anderen Ende der Skala zwischen Terror und Spiel aus, die nicht weniger wichtig ist, weil sie die notwendige Beziehung von Präsenz und Verkörperung nachvollziehbar macht. Interessant ist vor allem, wie der Symbolbegriff in zweierlei Verwendung auftritt: Das unterstreicht, warum der Mythos seinen Bogen zwischen zwei Extremen spannt, denn zum einen existiert er in einem Brauch und zum anderen gründet er in der Ambivalenz des Heiligen/Verfluchten. Aber als Erzählung hält der Mythos sich immer schon in einer gewissen Distanz zu beiden: Über etwas erzählen, das ist etwas ganz anderes als am Geschehen unmittelbar teilzuhaben. Erzählen heißt, etwas einer symbolischen Ordnung einverleiben. Das Symbol wird damit zum Stellvertreter der Sache, es verliert den Status der unmittelbaren Teilhabe, ist nicht mehr nicht die Sache selbst. Damit übernimmt Frank den Hegelschen Symbolbegriff, trennt sich also von jenen Einsichten, die von Hamann und Herder über die Frühromantiker bis zu Goethe reichen und von Benjamin wieder aktiviert worden sind. Für Frank gewährt der Ritus – das Verschlingen des in wilden Tieren verleiblichten Gottes oder des Heilands in den Gaben des Abendmahls – die unmittelbare Teilhabe am Heiligen, das man sich zu eigen macht; die symbolische Teilhabe ist das Sakrament, denn die Teilhabe als Abwesenheitsdressur reduziert das Heilige auf Lokalitäten, die  jenseits der erfahrbaren Welt situiert werden. Schon im Mythos als Erzählung ist eine Abwesenheit des Heiligen eingearbeitet, die im Extrem als sein Verlust erscheinen kann. Das, was hier dem Ritus im Gegensatz zu Blumenbergs ‚Arbeit am Mythos‘ an Verkörperung und Präsenz zugesprochen wird, taucht an späterer Stelle als eigentliche Qualität des Symbols auf. Frank lässt im Symbolbegriff Creuzers eine Idee zum Bild und ganz sinnlich werden, wenn sie sich präsentiere ohne Rest, wenn Sie ganz und gar Anschauung wird, wenn die ältesten Mythen nichts als narrative Auslegungen komplexer Symbole sind. Das ist noch immer eine Surrogatfunktion, allerdings heißt es in einem Zitat an anderer Stelle, das Momentane, das Totale, das Unergründliche des Ursprungs und der Notwendigkeit seien die Hauptkennzeichen des Symbols. Wenn die Geschichte, die im Symbol zur Handlung zusammengedrängt war, an der Sache selbst teil hat, von der sie spricht, finden wir eine Reprise bei Bachofen, der das Symbol vor den Mythos setzt und ganz wie Creuzer den Mythus zur Exegese des Symbols macht. Symbolik ist ursprünglich real und leiblich vollzogener Ritus in Ekstase, Rausch, Tanz und Musik. Diese immanenten Verweisungszusammenhänge lassen den medialen Status der menschlichen Erfahrung selbst zur Erfahrbarkeit gerinnen. Der Mythus entfaltet in der sprachlichen Reproduktion erst die ursprünglichen Geistesblitze und seine Wahrheit beruht nach Voegelin darauf, dass die symbolische Sprache eine reale Situation beschreibt. Diese Symbolik bringt eine Einsicht zum Ausdruck, der die Gesetzmäßigkeiten der Spannung der Existenz vermittelt. Die Primärerfahrung der Angst ist nicht durch die Furcht vor einer Bedrohung erklärbar, sondern sie ist tatsächlich die Antwort auf die Bodenlosigkeit einer Existenz aus nichts. Allen Strategien der Angstbewältigung ist die Nichtexistenz inhärent – was liegt also näher, als die Negation auf ein Opfer zu delegieren. Das Mängelwesen Mensch kompensiert die Unvollkommenheit des Todes in diesem Leben durch die Vollkommenheit des Lebens im Tod. 

In den Evangelien findet Girard eine Kombination von Mimetik und Dämonologie, die ihn für eine Rückkehr zu den christlichen Werten plädieren lässt; er setzt gegen die Informalisierung wieder auf mittelalterliche Wertsysteme und starre Hierarchien. Doch dieser fundamentalistische Salto rückwärts müsste nicht sein und entwertet einige seiner wichtigsten Einsichten. Es gibt andere Hochreligionen, die zu ähnlichen Schlüssen gekommen sind, es gibt einige Theorieansätze, in denen die bittere Essenz dieses Wissens ernst genommen und seit Jahrzehnten weiterentwickelt worden ist. Nicht nur die Evangelien sind jenen Texten überlegen, die noch den Stempel des magischen Denkens tragen oder den der ichpsychologischen Interpretationen der zwischenmenschlichen Beziehungen. Es reicht schon der Ansatz, sich von jeder konfliktuellen Mimetik zu verabschieden und den Dritten als Sündenbock durch einen Dritten der verbindenden Gemeinsamkeiten zu ersetzen, wie es in der systemischen Philosophie und in psychoanalytisch gefederten Spielarten der Diskurstheorie oder der historischen Anthropologie stattgefunden hat, und wir kommen zu ganz ähnlichen Ergebnissen. Für Girard zeigt die dämonologische Sicht die Einheit und Vielheit gewisser individueller und sozialer Verhaltensweisen mit einer von den Wissenschaften weiterhin unerreichten Intensität. Wir haben erst einmal anzuerkennen, warum unter Menschen ein gewisses Potential an Wunsch und Hass, an Neid und Eifersucht am Werk ist. Diese bösen Wünsche sind in ihren Wirkungen viel hinterhältiger und durchtriebener, in ihren Kehrtwendungen und Metamorphosen viel paradoxer und unvermittelter, in ihren Formen viel komplexer und ihrem Prinzip nach viel einfacher, als das, was sich Menschen ausgedacht haben, wenn sie die Auswirkungen ohne übernatürliches Eingreifen erklären wollten. Die mimetische Natur dieses Dämons ist explizit, denn er wird als Affe Gottes gekennzeichnet und die Vorgehensweise der konfliktuellen Mimetik ist paradoxerweise mindestens so intelligent und wie sie dumm ist. Die Überlieferung bekräftigt den einheitlich dämonischen Charakter von Trance und ritueller Besessenheit, von hysterischer Krise und Hypnose und verweist auf die reale Einheit all dieser Phänomene. Die Überlegenheit dieser Erklärung der Phänomene durch eine konfliktuelle Mimetik zeigt sich vor allem in ihrer Fähigkeit, in einem einzigen Begriff Widersprüchliches zu vereinen: Das Diabolische und das Symbolische! Die Mächte der Zwietracht, die perversen Wirkungen, die das Chaos auf allen Beziehungsebenen erzeugen – und die Macht der Einheit, die soziale Ordnungsmacht. Diesem Ansatz gelingt, was Soziologie und Anthropologie, Psychoanalyse und Kulturtheorien mit Mühe nachvollziehen: Wie die soziale Transzendenz und die zwischenmenschliche Immanenz unterschieden und gleichzeitig vereint werden können. Er bewältigt die Beziehung zwischen dem, was in der französischen Psychoanalyse das Symbolische und das Imaginäre genannt wird. Das Dämonische wird einerseits allen konfliktuellen Tendenzen innerhalb der zwischenmenschlichen Beziehungen, der zentrifugalen Kraft innerhalb der Gemeinschaft gerecht und trägt andererseits der zentripetalen, die Menschen einigenden Kraft, dem geheimnisvollen Kitt eben dieser Gemeinschaft Rechnung. Es ist tatsächlich die gleiche Kraft: spaltend in den mimetischen Rivalitäten, einigend in der einmütigen Mimetik des Sündenbocks. Die mimetische Ambivalenz transportiert die fehlerhafte Identifikation auf Kosten der Opfer, und sie ist zugleich der Motor der psychotischen Entdifferenzierung. Was von Girard als Dämon anhand der Evangelien auf einen Nenner gebracht wird, erfordert keinen Rückgriff auf die Blindwütigkeit des institutionalisierten Glaubens mehr – meist wird nur übersehen, warum das Repertoire von Bosheit und Geisteskrankheit gerade anhand der traditionellen Überlieferung aufzuschlüsseln ist. Es ist völlig ausreichend, wenn man sich diesen einfachen Gesetzmäßigkeiten des menschlichen Zusammenseins stellt, also dank der nötigen Distanzleistung auf die Verleugnung und die damit einhergehende Idealisierung der Gemeinschaft verzichtet.

Mimesis als zentrale Kategorie einer ‚Historischen Anthropologie‘ zeigt mit Wulff eine fundamentale Ambivalenz: Sie trägt zum einen zur Verbildlichung und Ästhetisierung der Welt bei, wobei die Bilder von einem mimetischen Taumel erfasst werden und ihre Selbstreferentialität und Geschwindigkeit die Abstraktion und Verbildlichung noch steigern. Andererseits kann sie als Träger von Hoffnungen auf Eindeutigkeiten verzichten, Bewegungen mit gebrochener Intention initiieren, Raum für das Nicht-Identische bieten und den Augenblick gegenüber der Chronokratie ins Recht setzen. Unser mimetisches Vermögen ermöglicht einen nicht-instrumentellen Umgang mit dem Anderen und der Welt, in dem das Besondere gegenüber dem Universellen geschützt wird und die Dinge und wie die Menschen in einem Status der Gelassenheit erfahren werden. Auch wenn der gegenwärtige Stand des Zivilisationsprozesses noch keine Entscheidung für eine der beiden Seiten der Mimesis zulassen mag, so legen Opferritual und Sündenbockmechanismus als mimetische Formen der Gemeinschaftsstiftung doch nahe, auf entlastende und stillstellende Momente zu verzichten – gerade diese scheinen eine fast systemtheoretisch zu pointierende Selbsterhaltung der Schuld und damit der Ausgeliefertheit zu gewährleisten. Am Anfang hat der mimetische Taumel die Gemeinschaft selbst ergriffen, und erst der grundlegende Mord sichert ihre Fundamente. Die Chance des Nicht-Identischen wird im Sündenbockmechanismus beseitigt, aber die hergestellte Identität macht vergessen, wie ihr der Tod im Gerüst sitzt. Aus diesem Grund macht ihn jede Abweichung, jedes Erahnen des Anderen virulent. Die Suche nach Ähnlichkeiten dient den Freiheitsspielräumen der Handhabbarkeit und mündet doch in Gewohnheitsmustern, mit denen wir uns den Aufwand von Erfahrungen ersparen. In Institutionen werden dann die zugrunde liegenden Nachahmungszwänge im Gefolge von Machtspielen als Stillstellungs- und Selbstbespiegelungsdressuren wirksam. In den 'Hieroglyphen der Zeit' hat Kamper das Problem des Bösen neu formuliert: Es versteckt sich im Opferwillen – höchstwahrscheinlich resultiert es aus der fehlerhaften Angstbewältigung und befördert die Verkennungsanweisungen der Identität. Die Angst war schon immer die Mutter der Methode, allen Abstraktionsleistungen ist jene Askese anzumerken, die das Heil aus Verzicht und Selbstbestrafung zu keltern sucht.

 

„Das ist keine üble Zusammenfassung, es hätte mir einige Mühe bereitet, die Originalzitate aus meinen Leselisten zusammen zu stellen. Gerade in Zeiten, in denen die Überkomplexität der Welterfahrung und das Orientierungsbedürfnis der Massen der Religion einen neuen Kredit verleihen, sollten wir nie vergessen, es sind unsere biographischen Energien, mit denen wir jungen Göttern zur Wirkung verhelfen oder alte Teufel am Leben erhalten.“

„Aber die Weisheit nimmt doch den Umweg vom Mund über den ganzen Körper zum Ohr“, wirft Wolhe ein: „Dann hätte ich von Ihnen viel eher erwartet, sich esoterischen Geheimlehren zu widmen, als in den Computer auszuweichen und alle möglichen Techniken zu erwerben, um die Digitalisierung für sich nutzbar zu machen.“

„Warum nicht? Der Computer als Medium, das alle anderen Medien in sich aufnehmen und reproduzieren kann, zeigte mir die in den verschiedensten Zusammenhängen dargestellte, enttäuschende Leere unserer Welt als das Dunkel des gelebten Augenblicks der Verwaltungsvollzüge von Bildungsbeamten! Dagegen sollte jenseits der Gutenberg-Galaxis klar sein, was für uns alles wieder zur Verfügung steht, nachdem die reduzierte Realitätskonstruktion der bürgerlichen Welt aufgesprengt wurde. Mit den Anregungen beliebiger Luxusmagazine ist das Atmosphärische in den feinsten Variationen für jeden zu realisieren, der seine Zeit darauf verwenden kann. Dank einem enormen Repertoire an Schmuck, Inneneinrichtung und Mode werden jene Zeichen gesetzt, die authentisch wirken und deshalb den Gefühlen, die unsere Seele möblieren, die frühere Überzeugungskraft neu verleihen. Mit dem Rückgriff auf eine umfassende digitale Bibliothek können wir die Intuitionen des Mystiker mit der theoretischen Physik in Beziehung setzen, wir verwenden das klassische philosophische Theoriegebäude als Trainingsfeld einer postmodernen Architektur der Wissenssysteme.“

„Das akzeptiere ich so nicht!“ Wolhe wirft empört ein: „Alle wesentlichen Zusammenhänge finden für uns dank der Computer in einer Blackbox statt. Wir drücken ein paar Tasten und bekommen ein Ergebnis – aber wie es zustande kommt, ist für uns nicht nachvollziehbar. Der Mensch ist auf Erfahrungen angewiesen, wenn er sich in der Welt orientieren möchte. Die Statistik liefert keine Erfahrungen, die Chaostheorie wird nicht einmal den einfachsten Bauernregeln gerecht und enttäuscht uns regelmäßig beim Wetterbericht!“

„Dann sollten Sie vielleicht ins Auge fassen, wie eine technische Reaktualisierung der Esoterik zu unvorhersehbaren Ergebnissen führt. Gegen die Paranoisierung des Ich-denke auf dem kartesischen Zeitstrahl, der ohne Wiederkehr in die Zukunft führt, erfuhr ich in der Arbeit mit dem Computer eine Zeitachse, die symmetrisch und reversibel ist. Digitalisierte Informationen verfügen über einen variablen Zeitpfeil, der in Augenblicken der Gefahr dafür sorgte, uns Hinweise und Tipps aus der Zukunft zu übermitteln. Gegen die Vernetzung der Statthalter des kommunikativen Wissens, die damit einher gehenden Machtstrategien, fand ich in der Interkonnektivität virtueller Welten einen Resonanzraum, der korrelativ zur Konzeption des Blankpolierten Spiegels war. In den Augenblicken, in denen ich meine Ängste und Hoffnungen, meine Sehnsüchte und Erwartungen vergaß und nur in der unmittelbaren Gegenwart agierte, nahm ich ein Wissens auf, das für unser Überleben notwendig war. In den von Ihnen reklamierten Kausalzusammenhängen konnte ich nicht wissen, um was es ging und damit wäre es nur logisch gewesen, zu scheitern.

Eben das war nicht der Fall, weil es einen einfachen Weg gibt, wie und mit welchem Vertrauensvorschuss man oder frau sich auf das Glück des Unvorhergesehenen einlassen kann. Nachdem die institutionalisierten Menschheitserfahrungen, die einmal über Generationen einen Halt vermittelten, heute fast jeden Kredit verloren haben und ihre in den Medien auftauchenden Reminiszenzen sofort der Inflation unterstehen, bietet sich der Rückgriff auf die Körpererfahrung und die strukturierenden Rhythmen an den Ursprüngen des Lernverhaltens an. Aus Mary Douglas‘ ‚Ritual, Tabu und Körpersymbolik‘ sind konkrete Tricks abzuleiten. Was die tradierte Erfahrung einmal vermittelte, Sicherheit und Orientierung, muss sich wieder neu am Koordinationszentrum des Mythos entzünden. Wir haben nicht nur in jedem Leben neu zu beginnen und die vorhandenen Wissensweisen für uns zu strukturieren, sondern sogar in jedem Lebensabschnitt neu dazu zu lernen. Mit der Freude an den körperlichen Vollzügen greifen wir auf einen verborgenen Antrieb zurück, der prinzipiell jedem zugänglich sein könnte, der in der Lage ist, sich von einem Rhythmus ergreifen und von einer Melodie tragen zu lassen. Ein ‚Schatten des Orpheus‘ liegt auf dem fließenden Übergang von Mystik und Erotik bei Saner, der sich über eine Religion des Staunens und der umfassenden Präsenz Gedanken machte, für die es keinen jenseitigen Gott mehr braucht, sondern nur die Unmittelbarkeit der Ekstase. Die Muster dieser Gesetzmäßigkeiten prägen noch das Begründungsverhältnis im sozialen Tod und stehen vor allem quer zu jeder institutionalisierten Macht. Mit dem Zerfall der über die Jahrtausende gewachsenen Traditionsräume tauchen die ursprünglichen Fragestellungen in jedem Leben an den bedeutsamen Schaltstellen wieder auf.“

„Bitte nochmal zurück zu der Fragestellung“, unterbricht mich der Moderator: „Vielleicht erklären Sie uns einmal, warum Sie ab Mitte der 80er Jahre so viel Energie darauf verwendet haben, sich mit allen möglichen Tricks vertraut zu machen, um die literarische Arbeit mit Textverarbeitung, relationaler Datenbank und Tabellenkalkulation auf einem CPM-Computer effektiver zu gestalten! Wenn es keine resignierende Beschäftigungstherapie war, ist der Rückgriff auf das mimetische Vermögen kein wirklicher Einwand gegen meine Argumentation. Sie versuchten die Macht, an der Sie geschnuppert hatten, mit den neuen technischen Möglichkeiten weiter auszubauen!“

„Vom Aufschreibesystem aus gesehen liefert der Computer einen pragmatischen Zugang zu den Praktiken der Esoterik! Die ersten beiden Manuskripte hat meine Freundin auf einer elektrischen Schreibmaschine getippt, was bei mehreren Korrekturdurchläufen einen gewaltigen Arbeitsaufwand forderte. Erst einmal war es nur ein Achtbit-Rechner: Aber wie viel einfacher war es doch, mit einem Wordprozessor Teile zu verschieben, zu erweitern, zu kopieren oder zu überschreiben; wie souverän war mit Zitaten umzugehen, wenn sie erst einmal in einer Datenbank abrufbar waren! Mittlerweile entschied ich mich für einen Text nicht nach der dritten oder vierten Umarbeitung, sondern der Text war das Resultat von hunderten von Umarbeitungen auf deren Weg längst vergessen worden war, was als Ausgangspunkt gedient hat. Ich ließ mich führen und die Zitate, die meine ursprüngliche Argumentation unterfüttern sollten, kolonisierten wie nebenbei Regionen, an die ich bis dahin nicht gedacht hatte. Viele treffende Formulierungen habe ich hergestellt, indem ich Zitate, die mich ansprangen, solange dressiert und umgeformt hatte, bis sie nicht nur das zum Ausdruck brachten, was mich faszinierte, sondern echte Erfahrungen artikulierten. Sie sollten nicht unterschätzen, was es bedeutet, wenn dank einer intensiven Qualität der täglichen Lektüre der innere Monolog ausbleibt: Ich hatte irgendwann nichts mehr zu sagen – war allerdings auch nicht mehr durch die Flüsterpropaganda kleiner Arschlöcher zu manipulieren. Wenn mein Speicher genug ausgelastet war, konnte ich dasitzen und an nichts mehr denken oder mit den Hunden durch den Wald jagen, mich ohne Filter der Motorik überlassen – für die innere Affenhorde war keine mehr Kapazität frei. Aus diesem Grund musste ich mir die notwendigen Rede- und Argumentationsfiguren neu aneignen, wenn ich erklären und begründen wollte, was der Ich in den verschiedenen Belastungsproben gelernt hat. Ich las und unterstrich Zeilen oder markierte ganze Absätze: Nach und nach machten wir alles wichtige gemeinsam abrufbereit. Nebenbei musste ich die auf dem CPM-System entstandenen Texte an der umgeleiteten Druckerschnittstelle manipulieren, damit in Word auf dem Atari und später in Word unter Windows eine identische Darstellung das Ergebnis war. Aus den Textsammlungen der Digitalen Bibliothek waren per Stichwort Fundstellen zu exzerpieren, aus meiner Arbeitsbibliothek wichtige Zitate über ein OCR-Programm einzulesen, ein Diktierprogramm sparte unnütze Tipparbeiten –  unsere Texte bekamen eine ganz andere Dichte. Noch dazu hatten wir außer den Spaziergängen mit den Hunden weitere Gemeinsamkeiten zu kultivieren.“

„Das lenkt doch vom Thema ab“, insistiert Albach und hüllt sich nüchtern in eine kalte Atmosphäre: „Ich wollte vorhin schon wissen, ob Sie mehr oder weniger bewusst gewisse Belastungsproben für Ihre Freundin herbei geführt haben, um sie weiter an sich zu binden. Sie neigten selbst zu Vabanquespielen, das hatten ihnen früher bereits Lehrer bestätigt – haben Sie dieses Schema einfach weiter gereicht? Vielleicht sogar, um ihr, die sich nicht wirklich binden und auf sie verlassen wollte, nahe zu legen, dass niemand anders übrig blieb, dank jener imaginären Umzingelung, die die Welt in Feinde und Gleichgültige aufgeteilt hatte?

„Nach den Jahrzehnten, die gemeinhin vollendete Tatsachen herstellen, könnte man das so sehen – Ihre Argumentation trifft sich auf jeden Fall mit einem Wahrheitswert. Der Todeslauf auf der Uni hat sich wie von allein an unsere biographische Vorgabe einer Liebe als Duell angeschlossen“, erkläre ich ganz geduldig: „Noch als ich die Magisterarbeit abgeschlossen hatte, mich auf die mündliche Prüfung vorbereitete, hatte es meine Freundin nötig, mich mit einem Kursleiter der Volkshochschule auszureizen. Sie steigerte das Spiel, bis ich mich weigerte, weiterhin ihren Geschichten zuzuhören, um ihr die nötigen Tipps zu geben, mit denen sie sich wichtigmachen und gegenüber dem Typ das Heft in der Hand behalten konnte. Mit der Begründung, sie brauche einen Ansprechpartner, ließ sie mich sitzen und gab vor, zu dem Typ zu ziehen.“

„Und – wie haben Sie das Problem gelöst?“ Wolhe gibt sich einfühlsam, hat sich aber noch längst nicht von ihrem Kurs verabschiedet. Als sitze sie in einem nach Pisse und Stress stinkendem Versuchslabor, um hinter die Voraussetzungen zu kommen, wann eine letale Dosis besondere Gaben freisetzt.

„Im Altpapier habe ich beschrieben, welchen Sog ein Fenster im vierten Stock auf einen ausübte, der alle zur Verfügung stehenden, erbärmlich wenigen Möglichkeiten ausgereizt hatte, diese Frau zu gewinnen: Spring-und-aus… Rilke hatte mich zu dem Bild inspiriert: Gehirnschrift an Autos und Fassaden. Ich habe das Problem nicht gelöst, sondern kapiert, warum es nicht mein Problem war. Aber ich habe mir gesagt, ich musste steigern, ein Magister war eindeutig nicht schlagkräftig genug. In diesen Tagen rauschte es in meinem Kopf vor Anspannung und Stress. Um das Energielevel auszuhalten, ging ich noch vor der Prüfung zu einem Prof, der mir wohlgesonnen schien und fragte, ob er mir ein Gutachten für ein Promotionsstipendium schreiben würde. Das Resultat dieses Gesprächs: der Prof bekam noch am selben Tag einen Hörsturz und das Gutachten war passé. Seit dieser Zeit hatte ich in der Nähe solcher Fenster ab einer gewissen Höhe immer wieder Schwindelgefühle, über Jahre hinweg und das, obwohl ich mehrmals als Hausmeister mit den Dachdeckern vom Balkon im fünften Stock über eine wacklige Leiter auf das Flachdach klettern musste. Diese kleinen Delegierten sollten erweisen, dass der Herr Doktor feige war und kniff, also musste es sein. Ich half mehr oder weniger vergeblich, jene Stellen zu finden, an denen das Wasser einen Weg fand, um an der Decke der Schwester des Vermieters hässliche Flecke zu hinterlassen. Diese italienische Millionärsgattin hielt sich ein paar Tage im Jahr in Stuttgart auf, brüstete sich dann mit der Bekanntschaft eines bekannten Literaten. Ansonsten stand die Wohnung leer, wenn sie nicht in manchem Semester an Studenten vermietet wurde. Irgendwann machte es die anfallende Wärmedämmung nötig, das Haus um fünfzehn Zentimeter zu erhöhen und bei der Gelegenheit komplett abzudichten. Von da an konnte ich mir die Mühe sparen, mit weichen Knien auf das Dach zu klettern.“

„Ich erinnere mich an eine Passage, in der Sie beschreiben, wie hellhörig dieses Geschäftshaus war“, sinniert Charlus: „Und es entbehrt nicht der Komik, diesem Quälgeist beim Scheißen zuhören zu müssen, wenn die Kegel im Fallrohr neben Ihrer Badewanne vorbei rauschten. Das störte Sie, sonst hätten Sie es nicht in einem Zusammenhang aufgeführt, in dem das Geschäftshaus charakterisiert wird, als seien die Installationen nach dem Krieg aus vom Schrotthändler der Gerberstraße zusammengebastelten Resten erneuert worden. Und die Komik findet für mich einen Höhepunkt, wenn ich weiß, Ihnen war in anderen Zusammenhängen sehr wohl klar, wie sehr Sie von der Hellhörigkeit profitierten, wenn Sie sich beim Ficken in eine Feuersbrunst oder einen Wirbelsturm verwandelten, die Leute damit zurückstauchten!“

„Das ist ein blödes Thema und lenkt nur ab!“ Wolhe lehnt sich angewidert zurück, als erinnere etwas an die früheren Ekelgefühle gegenüber der Haut auf der Milch: „Wie haben Sie das Problem gelöst? Wie geht man damit um, wenn man sich voll in eine Partnerin investiert und einsehen muss, sie verträgt diese Nähe und Intensität nicht und gerade deshalb die Abwesenheit pflegt, zu anderen Typen ausweicht?“

„Durch Geduld, Einfühlungsgabe und Lernvermögen. Außerdem gibt es jenseits der galoppierenden Vorstellungen das überzeugende Antidot: Just do it! Was heißt es denn, wenn wir nicht mehr bereit oder fähig sind, uns im anderen zu verlieren, sondern nur noch an der Selbstdarstellung arbeiten, dank der wir anderen die gerade marktgängigen Klischees als unser Ureigenstes vorführen. Wenn wir nicht mehr in der Lage sind, uns auf die Welt einzulassen, weil wir uns mit Bildwelten und Kommunikationsakten über die Welt zufrieden gebe: Wir werden nichts erfahren, was uns den Halt eines stabilen Gleichgewichts vermittelt – und uns nicht gewinnen. In einer Lebenswelt, die mehr und mehr der Psychotisierung untersteht, verbergen sich magische Verhaltensformen in den pragmatischen Gebrauchsanweisungen, die den Umgang mit der jeweiligen Black Box vermitteln – das ist ein Sozialisationsgeschehen. Wenn wir die Aktualisierungen eines Absolutismus der Wirklichkeit umspielen wollen, haben wir gegen den Wust der Verleugnung und der fehlerhaften Identifikation die Gesetzmäßigkeiten auszufalten, damit aber zum Verschwinden zu bringen!

Wolhe bekommt bei einer heftigen Gegenbewegung einen Krampf in der Wade und Albach insistiert: „Die Analyse möchte ich wirklich zu Ende hören!“

„Schon während des Magisters hatte ich kapiert, warum der Parcours mit dem Kursleiter  delegiert worden war, um mich im letzten Augenblick von einem Uniabschluss abzuhalten… das konnte nur eine Auftragsarbeit sein. Als meine Freundin ein paar Monate später ihrem Vater die Magisterurkunde zeigte, hatte der es nötig, darüber zu lästern, dass das Papier nach nichts aussah, richtig mickrig. Er musste dann seine prächtige Beamtenurkunde ausgraben, um sie dagegen zu halten. Zu dieser Zeit waren wir etwa zehn Jahre zusammen und erst jetzt hielten diese Eltern es für nötig, mir in einer Situation, die suggerieren sollte, dass ich ihnen eine besondere Zumutung bereitet hatte: „Sonst schaffen wir das nicht mehr!“, das Du anzubieten. Es ist in keinster Weise selbstverständlich, wenn man als gesellschaftliche Null, ohne die Rückendeckung eines traditionellen Familiensystems und die Verwurzelung in über Generationen gewachsenen Abhängigkeiten, in die Lage kommt, eine Position zu erarbeiten, die auf keine Anerkennung zielt, sondern einen eigenen Platz in der Welt beansprucht. Schon deshalb drückte ich danach auf die Tube und hatte bereits fünf Monate nach dem Magister die Dissertation abgeschlossen.“

„Sie haben öfter angedeutet, dass die Vorgaben ihrer beiden Familienromane direkt zu den Intrigen einiger Professoren überleiteten.“ Albach ist immerhin in der Lage, die richtigen Fragen zu stellen: „Nur kommt mir das irgendwie sehr weit hergeholt vor und hätte im Endeffekt bedeutet, dass solche kleinen Leute wie ihre künftigen Schwiegereltern in der Lage waren, Professoren zu delegieren. Könnte das keine Erklärung sein, warum Sie ihre Lebensgefährtin in die Schlacht schickten?“

„Genau so war es – ich hoffte auf einen Lernerfolg. Wobei ich nie behauptet habe, es handele sich um eine persönliche Delegation. Das waren magnetische Wirkungen, sie sollten bedenken, in welcher Traditionslinie dieses Beamtenehepaar beheimatet war. Den Publizisten und Regierungsrat aus der Nazizeit haben Sie selbst genannt. Später gab es sowohl in den USA wie bei den Kommunisten universitäre Abschlüsse, unter denen ein Romanist, promovierte Juristen und ein Slawist zustande gekommen waren. Das waren eben nicht nur kleine Leute, auch wenn Informalisierung und SPD-Orientierung dafür sorgten, die akademische Abschlüsse nicht zu zählen, schließlich waren diese Alten progressiv. Das tatsächliche Problem der Beamtenwelt war die Ausgrenzung der Realität. Das endlose Geschwätz, die sinnlose Selbstdarstellung verdünnten die Lebensintensität; den Mangel hatten dann Intrigen, Gemeinheiten oder harte Verbalerotik zu kompensieren. Häufig genug war ich als Außenseiter dazu genötigt worden, als Gebrauchtintensitäten-Vermittler zu dienen. Der Lebensnerv der Stillgestellung ist die Verleugnung – dagegen hilft nur der ungepufferte Zusammenstoß mit der rauen Wirklichkeit. In solchen Weltzusammenhängen begann ich die Regeln einer Katastrophenpädagogik zu erahnen, die ich dann später produktiv umzusetzen hatte. Nur wenn es richtig weh tut, ist eine minimale Chance freizusetzen, auf die Komfortzone des Zerredens und des Selbstbetrugs zu verzichten. Nur unter Schmerzen wird gelernt, nur wenn es nicht anders geht und man sich substantiell bedroht fühlt. So gesehen war es in meinem Interesse, die Furzideen meiner Freundin mit der ungeschönten Wirklichkeit kollidieren zu lassen, bis sie sich für einige Zeit der Notwendigkeit fügte, auf meiner Seite der Front zu stehen. Als es wirklich darauf ankam, taugte sie zu einer schlagkräftigen Unterstützung. Aber das hielt gerade so lange, bis sich die selbsternannten Gegner unter den Bildungsbeamten verkriechen mussten – danach war die alte Regieanweisung, mich in Frage zu stellen, wieder virulent. Dieses Mal eben mit der Motivation, sich an mir zu rächen, weil ich die ersten Jahre nicht eingesehen hatte, die Verantwortung für meinen Fixerbruder abzulehnen, ihn also gleich zu Beginn zu verabschieden. Ihre libidinöse Besetzung der Drogenszene war eine Reaktivierung der alten Abwesenheitsdressur, diente aber in the long run dazu, meine Distanz zu erhöhen und mich zu weiteren Leistungen anzutreiben.“

„Und wie soll das gegangen sein? Tatsächlich unterstanden Sie doch einer viel umfassenderen Katastrophenpädagogik, die auf alles angewendet wurde, was Sie zustande bringen wollten!“ Wolhe wittert wieder einmal eine Chance, ein grandioses Scheitern zu beschwören. Die rhetorischen Schlenker dieser Vertreterin der political correctness stinken nach Neid und Zukurzgekommenheit.

„Das ist nicht sehr zielführend!“ Albach macht sich sogar die Mühe, den Störversuch auszuhebeln: „Es geht Ihnen anscheinend darum, Schuldgefühle freizusetzen und Abhängigkeiten zu bestätigen. Manchmal denke ich, Sie haben den Ehrgeiz an jener Macht teilzuhaben, die jede wache Lebendigkeit dem Tabu unterstellt.“

Sie lächelt, als freue sie sich darauf, mich bald da zu haben, wo Sie mich haben will: „Er hat meine Frage nicht beantwortet. Tatsächlich hat er sich auf einem Nebenkriegsschauplatz verzettelt und die wesentlichen Entscheidungen umspielt. Wie soll denn sowas gehen?“ Wieder zuckersüß mit einer Kinderstimme.

„Dieser Nebenkriegsschauplatz war die Frau meines Lebens, ich kann mir noch heute keine andere vorstellen – aber es war über weite Strecken ein Todeslauf. Es gab immer wieder den Punkt in meiner Biographie, an dem ich in die Verzweiflung über so viel Sinnlosigkeit abstürzen sollte, wenn ich nicht den Notausgang fand und einfach neben mich trat: Beobachtend, wie der Musik das jetzt hinbringen würde. Wenn ich nicht involviert war, kapierte ich, warum meine Freundin irgendwelchen Zwangsmechanismen unterstand, die sich nach jedem Kontakt mit der Mutter enorm steigerten. Dann konnte ich mir sagen, sie sollte doch tun, was sie machte, bis sie selbst kapierte, wem sie damit einen Gefallen tat. Ich musste mich der viel wichtigeren Aufgabe widmen, uns irgendwie hinter den Behinderungssystemen ankommen zu lassen. Und die Energie stand wieder zur Verfügung – denn das war die eigentliche Erklärung der Störungen: Wir sollten die von uns freigesetzte Kraft nicht selbst nutzen können.“

„Ok, das haben wir alle schon kennen gelernt, die Ausbremsung oder die Erfahrung, wie unendlich müde die psychotischen Strategien machen“, unterstreicht Albach: „Damit haben wir eine nachvollziehbare Erklärung, warum in Ihren Texten so großen Wert auf die exakten Beschreibungen kleiner Psychotiker gelegt wird. Es gehört wenig dazu, sich mit Cracks auf der gleichen Ebene zu messen und an ihnen zu wachsen. Viel entscheidender scheint die Ihre Geschichte kennzeichnende Erfahrung, mit welchen Techniken der Analyse und der Selbstdistanzierung die dauernden Nadelpiekse subalterner Arschlöcher auszuhalten sind – und natürlich auch, mit welchen Tricks man ihnen die Rechnung präsentiert.“

„Noch dazu gibt es davon zu viele. Man braucht, wie meine Freundin damals meinte, eine Engelsgeduld, bis die Negation auf die Leute zurück fällt, die sich für so unwichtig halten, dass sie alles Mögliche veranstalten, um endlich einmal wichtig zu sein. Schon diese Einschätzung war fraglich: Wenn man nicht aufpasste, transportierte sie irgendwelche bösen Wünsche, sorgte für eine Negation, die sich einschrieb. Es war eher angeraten, witzig zu finden, was sie sich einfallen ließen, noch dazu lieferten sie sich damit aus. Wenn mir irgendwelche Informationskanäle die Opfer unter den Delegierten jener Krüppelzüchter präsentierten, hatte ich nicht unbedingt das Gefühl, das Signifikantennetz ließ mit seinen Konsequenzen lange auf sich warten. Die Macht korrumpiert, in ihrem Zentrum lauert die Psychose. Wer erst einmal von ihr gepackt wird, ob Frau oder Mann, erfährt die von Lacan auf den Nenner gebrachte Regel: Das Geschlecht zählt nicht. Also ist es angeraten, den Kampf um die Macht durch Geduld und Hingabe zu ersetzen und sich auf die Mythen des Geschlechts einzulassen.“

„Das passt jetzt nicht hierher!“ Der Moderator will das Thema fast unwirsch abbügeln, er spielt mit den Datenpaketen, die dunkle Schatten von Helferlein vor ihm auftürmen: „Wir haben schon einiges über diesen Restbestand eines mythischen Zeitalters gehört. Aber in diesen Zusammenhängen führt es uns erst mal auf eine ganz falsche Fährte.“

„Damit bin ich nicht einverstanden. Aber das haben wir mit Ihrem Gadget schnell geklärt.“ Mit einem Handgriff habe ich die Kappe übergezogen.

 

Seit Menschengedenken wird davon ausgegangen, wir gelangen in den Grund der Welt, wenn wir uns in den Grund der eigenen Seele versenken! Das erklärt sogar, warum die Mimesis eine semimaterielle Fundierung der Erfahrung und des Wissens liefert, wir also nicht mit den eigenen Setzungen und Konstruktionen stillzustellen sind. In diesen Zusammenhängen werden die Bedingungen der Möglichkeit eines Geistesblitzes fundiert. Damit zeigen sich die Voraussetzungen für den Sprung auf ein anderes Niveau des Signifikantennetzes. Es sieht so aus, als zeichnen theoretische Physik und Psychoanalyse ganz ähnliche Muster nach. In extremen Konstellationen umreißen verzweigte Verweisungszusammenhänge und auf engstem Raum konvergierende Wechselbezüge die ambivalenten Wertigkeiten, die wir mit der Sprache nur näherungsweise erreichen. Die großen mythischen Figuren gingen im Fortgang der Zeit an der Komplexitätsreduktion, also an der durch Abstraktionen entstandenen Stumpfheit und Empfindungsunfähigkeit zugrunde. Was nicht heißt, sie verschwanden damit einfach, denn sie tauchten in den Gesetzmäßigkeiten einer Partitur, bei den Spielereien eines Bastlers oder den Zwängen einer Neurose wieder auf. Die ursprünglichen Einsichten der ersten Naturphilosophie wurden mittlerweile wieder in ihr Recht versetzt, um nach und nach stabile Felder in den Medien zu besetzen. Selbst die Verbalerotik, die pervertierte Alternative, das politisch-korrekte Denken haben Teil an jenen agonalen Mechanismen, die einst von der Tragödie aufgeschlossen worden sind. Die Fragen nach der Materie, nach Zeit oder Raum, nach Anfang und Ende des Geschehens, münden in den gleichen Unvorstellbarkeiten, wie jenes Verhältnis von personeller Macht und Selbstlosigkeit. Nicht anders scheint die Erfahrung des Selbst in der Katastrophe auf genau jenen Quellpunkt der Macht bezogen zu sein, in dem sich die Konstitution eines Ich mit der eines Gottes begegnet: Gott ist ein Peptid.

Die klassische Beschreibung heißt: Jede Kreatur ist gleich weit von Gott entfernt, aber alle zusammen sind Gott. Nur so wird es verständlich, warum jede/r in gewissen Augenblicken den göttlichen Funken vergegenwärtigen kann. Eine Errungenschaft des deutschen Idealismus hat wesentliche Ahnungen der Mystik kommunizierbar gemacht: Du kannst Gott nicht begegnen, Du kannst nur in gewissen Augenblicken zu Gott werden. Damals wurde denkbar, wie Gott sich in unseren Reflexionsfiguren zu realisieren beginnt. Der Bezug zum tierischen Magnetismus symbolisierte zudem eine Rückbindung der Inkarnation an das körperliche Geschehen.

Einer der sichersten und zugleich gefährlichsten Wege in dieses Rund, in das wir nach Sloterdijk ein Leben lang kommen wollen, ist die Liebe! Das Rätsel, das uns immer wieder neu zu lösen aufgegeben ist, lautet, die Gesetzmäßigkeiten, die die schicksalshafte Unzugänglichkeit des Ursprungs anzeigen, in unserer Beziehungsarbeit wirklich werden zu lassen. Eine Argumentationsfigur der negativen Theologie liefert zugleich die interessanteste Form der Selbstvergegenwärtigung, die mir bisher begegnet ist. Wenn wir uns kein Bild machen sollen, aber nach diesem Bilde einer unvorstellbaren Entität, die vor allem Sein ist, geschaffen worden sind, findet sich in den verschiedenen Offenbarungen des Selbst genau jenes kreative Nichts, jener energetische Wirbel, dem die unwahrscheinlichsten Entwicklungen entspringen. Tatsächlich zaubern wir in gewissen Augenblicken unseres Lebens – wir haben nur keine Macht darüber. Die Institutionen versuchen, in Bildern und Riten ein Geschehen, das den Menschen übersteigt, das eine umgreifende aber nicht zu fassende Macht offenbart, für Dressurakte auf einen Nenner zu bringen – und dabei lautet unsere Aufgabe, dieses Geschehen gewähren zu lassen!

 

Charlus fährt mir in die Parade: „Das wundert mich jetzt. Ich dachte immer, Sie wehren sich gegen den Anspruch des Imaginären, gegen die Vorherrschaft der Vorstellungen und Bildwelten?“

„Das stimmt. Bilder können bannen oder verzaubern, Neid und Begehren auslösen, weil Sie sich direkt an die Mimesis richten und in das Zeitalter des Nachahmungszwangs zurückreichen. Sie scheinen unmittelbarer zu wirken als die Sprache, die auf den Distanzleistungen der Übersetzung beruht. Aber das ist nur ein gradueller Unterschied, denn auch hier werden Zeichensysteme differenziert und interpretiert. Wer am Bilderverbot klebt, will nicht wissen, dass in den sublimierten Formen der Trieberfüllung noch immer das gleiche göttliche Gesetz herrscht: Gehorche den heiligen Schwingungen! Unsere optischen Wahrnehmungen mögen weniger kodifiziert sein, wenn wir davon absehen, dass Sehgewohnheiten und kultureller Kontext einer eigenen Grammatik und einem Bedeutungslexikon unterstehen – aber auch sie sind vor allem erst einmal Schwingungen. Wenn unsere Wahrnehmung sie aus der Verdinglichung entlässt, unterstehen sie den gleichen Einschränkungen wie sprachliche Formulierungen. Das Tabu resultiert aus absurden Reinheitsgeboten, die einst die höchste Form des Schweigens gefordert haben: Gewisse Zusammenhänge durften nicht einmal vorstellbar sein. Eine unüberschreitbare Grenze trennt Sprache als Medium einer gewollten und bestimmten Mitteilung von der Musik als dem Ausdruck des Schwebenden, Fließenden, das nie genau zu umschreiben ist. Dennoch kann sie unseren Sinn für Ganzheiten präzise ansprechen, weil sie das Geheimnis des Lebens auf der Ebene der Formen nachspielt, ohne es sofort auf einen Nenner zu bringen, damit dem Geheimnis im Schweigen huldigt, ohne der Verführung nachzugeben, es durch einen eindeutigen Begriff platt zu machen. Es sind die Harmonien, die uns bewegen, bedrohen oder die mühsam erworbenen Gewohnheitsmuster aushebeln, die der Ersparung von Erfahrungen dienen sollten. Sie schließen uns kurz mit einem kosmischen Geschehen, das unsere Fassungskraft übersteigt und dem wir nur gerecht werden, wenn wir uns sprachlos behutsam dem Geheimnis öffnen. Tatsächlich ist bereits jedem Genuss die Bedrohung der personalen Autonomie beigemengt.“

„Das ist für einen logisch denkenden Menschen nicht mehr nachvollziehbar!“ Der Moderator versucht mich abzuwürgen: „Diese Bedrohung, von der Sie sprechen, ist ungenießbar und eine Zumutung für jeden, der sein Leben selbst in die Hand nehmen will.“

„Zu meiner Umformatierung gewisser Zen-Einsichten gibt es einen kleinen Vortrag in der Akademie des Wissens, der bisher unter Verschluss gehalten wird und nicht veröffentlicht werden durfte. Vielleicht machen Sie sich bei dieser Gelegenheit stark dafür.“

Ein paar zackige Computergraphiken huschen über die Wände, ihm ist die Überwindung anzusehen, als er sagt: „Wir prüfen Ihre Thesen zum Blankpolierten Spiegel, die zugegebenermaßen ernsthafte Konsequenzen für die Selbstdefinition, damit aber für ein erfolgsorientiertes Handeln haben müssten. Manches ist stimmig, vieles sieht aber nur aus wie ein glücklicher Zufall oder, je nach Perspektive, ein zufälliges Unglück ihrer Gegner.“

Charlus unterbricht ihn: „Vielleicht hat er nicht nur ein Mythologem variiert, das schon immer im symbolischen Tausch mitgedacht war? Vielleicht ist er in den postmodernen Zusammenhängen auf ein Strategem gestoßen, das bereits in der frühen buddhistischen Weisheitsleere aufgetaucht ist und in den subversiven Ansätzen des frühen Christentum noch einmal virulent wurde!“

„Wir können uns hier in irgendwelcher Esoterik verlieren, dann aber nicht sehr weit kommen.“ Der Moderator reagiert unwirsch: „Also zurück zum Thema: Warum dieser Aufwand, warum der Anspruch der Inkommensurabilität, wenn Sie auf das reflexionsarme Medium Computer ausweichen?“ Seltsamerweise visualisieren die Spielereien im Hintergrund psychedelisch verfremdete Computerplatinen und die Blaupausen von Schaltplänen.

„Erst mal eine kleine Korrektur: Ich habe das Gefühl, Sie identifizieren den symbolischen und den ökonomischen Tausch. Damit ginge aber ein wesentliches Differenzkriterium für die Gestaltung eines eigenen Lebens verloren – Authentizität ist keine Kategorie der Statistik, außerdem abstrahiert der ökonomische Tausch vom Sinn. Aber zurück zur ursprünglichen Argumentation: Mit der Promotion hatte ich es endlich geschafft, die jahrelange Irrealisierung meiner Existenz durch das Beamtensystem in die Knie zu zwingen. Meine Freundin kapierte den Betrug, den ihre Identifikation mit dem Vater verdeckt hatte. Das gemeinsame Projekt des Ottobuchs sollte sie in meine Welt rüberziehen. Die Quittung erhielt ich, als wir das Manuskript abgeschlossen und in einem kleinen Verlag mit Druckkostenzuschuss untergebracht hatten. Dieser Teil der Arbeit an einem Buch war anstrengend und raubte zusätzliche Zeit und Nerven – ich weiß nicht mehr, wie vielen alternativen Verlagen ich einen Ausdruck zugeschickt habe. Außerdem war eine ernüchternde Erfahrung, dass der sogenannte Druckkostenzuschuss fast dreimal so hoch war, wie die Bibliothekstantieme der VG-Wort, die wir im folgenden Jahr bekamen. Mit der Technik hatte ich von Anfang an angezielt, mich von den üblichen geisteswissenschaftlichen Netzwerken und dem konventionellen Verlagswesen unabhängig zu machen. Es brauchte nicht mehr lange, bis ich mich dank des für MS-DOS-Verhältnisse enormen Hauptspeichers des Atari St mit dem Satzsystem Tex/Latex vertraut machte. Was Sie als reflexionsarmes Medium bezeichnen, war für mich Werkzeug und Medium zugleich. Ein Computer ist nur so gut, wie die Person, die ihn sich entsprechend des bestehenden Repertoires zunutze macht, aber er setzt einen in die Lage, die Resultate zu potenzieren.“

„Sie sind mit dem Computer auf einen anderen Schauplatz ausgewichen! Noch dazu, um sich über diesen Umweg mit einer Armatur zu versehen, dank der Sie nicht nur Ihre Unabhängigkeit von der Universität durchsetzen konnten. Sie wollten sich in der Position des Verlegers auf der gleichen Ranghöhe wie ein Bildungsbeamter situieren, um dann ihre harsche Kritik an Verbalerotik und eitler Selbstdarstellung zu lancieren. Quasi aus erster Hand – eben ohne ein Vermögen im Hintergrund, ohne die Einflussmöglichkeiten eines Familiensystems – und wie Sie erklärt haben, noch dazu gegen die mächtigen Bremsversuche künftiger Schwiegereltern!“

„Im Nachhinein können Sie die Entwicklung so interpretieren. Tatsächlich hat mich diese Beamtenfamilie dazu gebracht hat, die Gegenbewegung auf der Uni selbst zu provozieren. Ich hatte über stillgestellte Simulanten gelästert und wollte mit unterdurchbluteten Arschlöchern nichts zu tun haben – aber das waren genau jene Losungsworte, unter denen gewisse Bildungsbeamte sich ertappt fühlten. Sie wollten mich aus ihrer alles andere als befriedeten Welt entfernen.“

„Das heißt also“, fasst Albach zusammen: „Sie haben im Kampf um die Frau ihres Lebens eine Wahrheit ausposaunt, die für ihre weiteren Möglichkeiten zu einem Ausschlussverfahren führte. War Ihnen damals noch nicht klar, dass eine Institution in einer klaren Rivalität zur Paarbeziehung steht? Die Regeln des symbolischen Tauschs können auch gegen die Beziehungsarbeit eingesetzt werden: Der Durchschnittsmann flieht vor den Ansprüchen einer Partnerin in die Institution; dort kann er sich beweisen, dort kann er unverbindliche Seitensprünge riskieren, während im Herrschaftsbereich seines Heims Forderungen an ihn gestellt werden, Gegenleistungen erwartet werden, die völlig unvereinbar mit Geilheit, Karriereplanung und Hierarchie sind. Wenn er nicht selbst auf die Verlagerung seiner Libido kommt, gibt es sanfte Druckmittel, von der Belohnung der Eitelkeit bis zur Förderung der Karriere, um die Besetzung der gewünschten Themen zu garantieren. Solange Sie gedacht haben, die Anerkennung und den Erfolg innerhalb der Geisteswissenschaften ihrer künftigen Frau zu widmen, sind Sie von falschen Voraussetzungen ausgegangen. Sie haben daran gearbeitet, sich als unliebsamen Kritiker kaltzustellen, die Alma Mater war schon immer sehr eifersüchtig.“

„Das war ein Fehler, das mag stimmen. Ich hätte vielleicht versuchen sollen, die universitäre Armatur weiter zu befestigen – aber es ist längst nicht gesagt, dass das geklappt hätte. Schließlich bin ich unter den Voraussetzungen des Ausschlussverfahrens in Regionen vorgestoßen, die mir sonst nicht erreichbar gewesen wären. Interessant wurde ich für die Funktionäre in den Machtpositionen, weil ich Wert auf meine Unabhängigkeit legte, mich allen Vereinnahmungen entzog. Ein stabiles Abhängigkeitsverhältnis hätte nur dafür gesorgt, mich an einer kurzen Leine ausbluten zu lassen, bis ich wirklich auf ihre Förderung und Unterstützung angewiesen wäre – das hätte seinen Preis gehabt: Die Liebe im Tausch gegen die Universalversicherung der Großinstitution! Zur Verlagerung der libidinösen Besetzung war ich nicht in der Lage.“

„So, wie ich das sehe, waren Sie sehr wohl konfliktuell veranlagt“, wirft Wolhe etwas verächtlich ein, die Plisseefältchen der geschürzten Lippen wirken abstoßend: „Sie haben die Freundin gegen die Universität ausgespielt und die Professoren dazu verwendet, das Signifikantennetz ihrer künftigen Schwiegereltern in Schach zu halten. Dann haben Sie die Frechheit, zu behaupten, Sie hätte keine Neigung zur konfliktuellen Mimetik, weil Sie nicht in der Lage seien, sich mit jemanden zu identifizieren!“

„Das war ein Lernprozess, sicher aber kein Ausspielen. Sie verkleinern den Konflikt zu einem Machtspiel auf der gleichen Ebene, während ich mich lernend vorantastete, um auf mehreren Ebenen zu agieren, die für mich erst einmal nichts miteinander zu tun hatten. Ich musste Geld verdienen, dazu taugten die Hilfsarbeiten; ich musste dokumentieren, dass ich kein durchgefallener Penner war, dazu taugten die Uniabschlüsse; ich musste dafür sorgen, dass der Raum für kreative Eigenarbeit mit einem Minimum an Kosten zur Verfügung stand, dazu taugte die Hausmeisterwohnung. Erst im Nachhinein war zu sehen, wie die Einflusssphären immer präziser ineinander griffen. Das war als bösartige Paranoiadressur gedacht, aber es sollte nicht lange dauern, bis der soziale Tod die unterstellte Identität als eine Illusion erwies. Erst die in die eigene Geschichte eingeschriebene Differenz liefert die eigentlichen Wahrheiten. Wir sind nicht mit unserer Geschichte identisch, sondern immer schon mehr, oft weit voraus. Dank dem Glück des Unvorhergesehen sind wir in verschiedene Geschichten verstrickt, die den Zwang zum identisch Einen löchern, nebenbei ein Repertoire der vielen Welten befördern.“

„Das greift schon wieder viel zu weit vor“, Der Moderator versucht an seinem Kurs festzuhalten: „Der Versuch, in den Computer auszuwandern war wohl der virtuelle Ersatz für den sozialen Körper, der Sie gerade ausgespuckt hat!“

„Warum denn? Ich lehnte von Anfang an jede Art von Karriereplanung ab. Ein Ausschlussverfahren war keine Strafe, denn ich hatte nie das Bedürfnis gehabt, dazu zu gehören. Ich wollte mir nur die Legitimation verschaffen, weiterhin zu lesen, was mich interessierte, zu schreiben, was ich für richtig hielt.“

„Das ist eine schwache Erklärung, die ich Ihnen so nicht abnehme“, erklärt Wolhe: „Wenn Sie bei Ihren Ausspielversuchen erfolgreich gewesen wären, müssten Sie nicht erklären, warum Sie keinen Wert auf eine sichere und gut dotierte Stelle legen! Noch dazu, wenn wir heute nachvollziehen können, wie konsequent Sie die Themen weiter verfolgt haben, mit denen Sie sich in einigen Situationen hervortaten.“

„Nach der Erfahrung der vergangenen Jahre bietet sich eine andere Erklärung eher an. Als ich in der geisteswissenschaftliche Einbahnstraße dank eines Luxusmagazins einen Haken schlagen, durch eine Kloake entwischen konnte, ergab sich wie nebenbei ein Interpretationsansatz, der eine Vielheit von Welten impliziert, der mir damit ermöglichte, einfach in einer anderen Welt weiter zu machen. Ein Thema, das ich konsequent weiter verfolgt habe, diente vor allem dazu, die angebliche Haltlosigkeit meiner Position relational abzusichern. Wenn Peirce von Kant herkommend die Welt als trichotomisches Zeichensystem begreift oder etwa zur gleichen Zeit bei Tarde das Leibnizsche System der Monaden zu einem soziologischen und  zeichentheoretischen Verweisungszusammenhang von Interferenzen und Interdependenzen wird, in dem alles mit allem zusammenhängt, gewinnen wir einen Interpretationsspielraum, der uns den Aufenthalt in den verschiedensten Weltaspekten ermöglicht. Es gibt nie nur eine Welt, schon die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen lädt zu Systemsprüngen und Umformatierungen ein, wenn man/frau nur den Mut hat, sich von den Gewohnheitsmustern der Interpretation zu verabschieden.“

„Das ist erst mal eine gewagte Behauptung!“ Wolhe hält an ihrer schwachsinnigen Position fest. Der inhaltsleere Einwand wirkt schon sehr verkrampft – jetzt weiß ich wieder, warum sie mir so unsympathisch ist: Das ist ein Krampfbaby. Weil sie nie in der Lage war, sich im Wohlgefallen eines begehrenden Blicks zu sonnen, hat sie alles auf den Machtrieb und die Disziplin gesetzt.

„Das sehe ich nicht so. Solange es Ihnen gelingt, andere einzuschüchtern und unter ihrer Macht leiden zu lassen, solange Sie ihren Selbstzweifel auf ein Opfer delegieren, müssen sie nicht zur Kenntnis nehmen, was für ein unfertiges und verängstigtes Krüppelchen in den eigenen Fühlfäden übermittelt wird. Und das wissen Sie! Aber mit dem gewollten Mangel an Einfühlungsvermögen und auf Kosten ihrer Opfer können Sie den Mangel verleugnen und den Neid auf die attraktive Frau in eine moralische Instanz verwandeln.“

„Ich darf doch bitten“, unterbricht mich der Moderator: „Wir haben Sie nicht eingeladen, um Ihnen die Möglichkeit zu geben, unseren Mitarbeiterstamm zu dezimieren. Also zurück zur Fragestellung: Warum der Computer, warum haben Sie sich nicht auf Lesen, Schreiben und Malen beschränkt? Sie verfügten über ein viel kreativeres Repertoire für die so hochgeschätzte Eigenarbeit!“

„Für mich ging es tatsächlich um eine Umformatierung des sozialen Körpers. Alle Medien vor dem Computer waren immer auf physikalische Körper angewiesen, die der Vergänglichkeit unterworfen sind und als konservative Aufschreibesysteme der Verdinglichung zuarbeiten – erst in dem mit Spannungszuständen Zeichensysteme generierenden Totalmedium, das alle anderen Medien reproduzieren kann, fällt der körperliche Träger des Mediums nicht mehr ins Gewicht. Weil ich der Vernichtung unterstellt werden sollte, bot sich dieses Ausweichen in die verlustfreie Handhabung meiner Biographie an. Noch dazu begegnete ich einer reziproken Zeitkonstitution. Als Sohn eines Hilfsarbeiters und als Kuckuckskind im Wunschhorizont einer Mutter kam ich erst einmal aus dem Nichts. Die Ansprüche, mit denen ich in die Welt geschickt worden war, bereiteten eine kritische Masse der Selbstzerstörung auf – erst die Erfahrung einer umfassenden körperlichen Befriedigung machte dieses negative Potential zu einem Anachronismus. Seit dieser Zeit, in der das Zuzweit des Paars den imperativen Besitzanspruch der Mutter gebrochen hat, wusste ich, warum alles, was für mich wichtig war, erst einmal selbst zustande gebracht werden musste. Ich hatte mir Schritt für Schritt, dank der körperlichen Arbeit als Packer und Bote eine Bibliothek aufgebaut, in die ich vor den Anforderungen einer schwachsinnigen Wirklichkeit ausweichen konnte. Je größer die Infragestellungen wurden, je umfassender wurde mein Bücherregal – es fehlte nur noch der Absprung in die Digitalisierung.“

„Das nenne ich Eskapismus!“ Jetzt meint Wolhe, die auf die vorangegangene Analyse keine Miene verzogen hat, mich getroffen zu haben: „Statt verantwortungsvolle Tätigkeiten aufzunehmen, haben Sie die Zeit mit Hilfsarbeiten verplempert, sich mit Hilfe der Literatur um das Realitätsprinzip gedrückt.“

„Aber klar, statt der Einladung zu folgen, mich auf eine Weltreise einzulassen, wollte ich lieber ganz woanders hin. Wenn Ihre Einschätzung treffen würde, wäre ich fast normal zu nennen gewesen. Was macht der normale Arbeitnehmer anderes, als sich um die Frage nach dem Sinn zu drücken und in die Leistungsspirale aus Dauerkonsum und Massenunterhaltung auszuweichen. Das war eben nicht alles. Ich war auf das Realitätsprinzip angewiesen, um es als Waffensystem gegen die selbsternannten Gegner auszurichten. Ich hatte Bildungsbeamte als Mitglieder einer parapsychotischen Vereinigung zu demaskieren. Schließlich war mir empfohlen worden, mich aus der Welt zu entfernen! Für meine Generation gab es keine innere Emigration mehr, weil das System der Informalisierung die Grenzen der Identifikation durch den Gegensatz eingeebnet hatte. Es brauchte eine an den Prinzipien der Chaostheorie ausgearbeitete Gegenposition, wenn ich nicht in den Verliesen der Parapsychotiker verfaulen sollte! An dem Punkt, als das Sozialisationsprodukt eines Hilfsarbeiters in die Lage versetzt wurde, Wissenschaftsminister zu provozieren oder eine ganze Fakultät auszureizen, war klar, ich musste in andere Weltbereiche auswandern. Der Rechtsanwalt, der einmal mein Erzeuger gewesen sein sollte, machte sich nur noch als ein Schatten bemerkbar, der dafür sorgte, dass mir irgendwelche Juristen Schwierigkeiten bereiteten und dabei erwiesen, was für kleine, subalterne Deppen dieser Berufsstand hervorbrachte. Ohne mir darüber Rechenschaft ablegen zu können, arbeitete ich mich über Jahrzehnte dank der imaginären Vorgaben meiner Mutter an jenem Unrechtssystem ab, das ihre Kinder mit germanischen Namen belehnt hatte. Geisteswissenschaftler und Juristen waren am völkischen Mythos in den Himmel der Bedeutsamkeit gehievt worden, in den Zusammenhängen der Hitlerei war die Verleugnung der Subalternität zur Souveränität ernannt worden. Das war die Prämie, mit der die Nazis Millionen kleiner Arschlöcher bei der Stange hielten: Sie konnten Macht ausüben, sie durften mit Füssen treten, was ihnen überlegen war!“

„Diese Spielregeln sind uns bekannt“, meint Albach desinteressiert: „Das wissen wir seit den Untersuchungen der frühen Kritischen Theorie, mit den Männerphantasien eines Theweleit ist es zur Basis einer anspruchsvollen akademischen Ausbildung geworden. Wir wollen wissen, warum es Ihnen gelang, auf einem dank der Informalisierung verlorenem Posten standzuhalten. Alles was für ihre Generation als Schibboleth des kritischen Denkens getaugt hatte, war doch tatsächlich durch die Gesetzmäßigkeiten des Massenmarktes zu Plattheiten und Erkennungszeichen der Selbstdefinition abgenudelt worden. Das Prinzip Hoffnung oder das Repertoire an Möglichkeiten der Weltveränderung waren im Geschwätz, in den Formen der Selbstdarstellung, in den Parolen einer politischen Lagermentalität verloren gegangen. Die Abweichung und die Alternative waren zu Marktmechanismen geworden. Gerade die Intention anders zu sein und einen eigenen Lebensstil zu pflegen, war das Erkennungssignal, unter dem sich das neue Markenbewusstsein sammelte. Der Warenfetischismus sprang wie von allein über, prägte einen Kult des Ich. Schließlich wurde noch bestätigt, welchen Halt und welche Sicherheit der Fetischismus vermittelte, welche grundsätzliche Fundamentierung er unerkannt schon immer geleistet hatte. Was haben Sie also anders gemacht?“

„Nichts, ich habe mich aus dem Spiel der Rivalitäten ausgeklinkt. Ich musste diese nachgemachten Menschen nicht bekämpfen, nachdem ich kapiert hatte, wie bestes Wissen in warmen Wind überführt worden war, wie die brauchbarsten Einsichten unter dem Zugriff einer kulturschwulen Gemeinschaft zu Formen der Verbalerotik pervertiert wurden. Ich wollte damit nichts zu tun haben. Aber weil das Wissen notwendig war, um die Verstrickung in einem perversen Familienroman aufzusprengen, hatte ich die nötigen technischen Errungenschaften auf einer anderen Ebene des Kommunikationsgeschehens für den kritischen Zugriff nutzen.“

„Aber warum die Huldigung der Digitalisierung“, wirft Wolhe ein: „Während Sie doch daran arbeiteten oder daran arbeiten sollten, mit ihrer Lebensgefährtin einen Lebensplan zu entwickeln? In solchen Fällen sorgt man sich und bereitet eine gemeinsame Zukunft vor.“

„Ich denke, das haben wir bereits geklärt! Wenn es das Sein nicht mehr gibt und Wahrheit zu einer Funktion von Sätzen degeneriert ist, gibt es noch immer den Antrieb des Wissen-Wollens, das Bedürfnis, sich in einer Welt jenseits der Lüge und Verleugnung, jenseits der Manipulation zu bewegen. Zu einem biographisch bedeutsamen Datum begegnete ich einmal dem Traum vom Ganzen der Welt, der Hoffnung auf den Schlüssel für das große Geheimnis, auf das umfassende Wissen. Unter dem Einfluss jener Intriganten, die mich vereinnahmen und ausbremsen wollten, kapierte ich, es war als Ganzes nicht zu haben. In manchem Fall aber in der perspektivischen Verkürzung: Wenn ein Geistesblitz die notwendige Einsicht frei setzte, wenn die richtige körperliche Reaktion einen kleinen Vorsprung vor den anderen gewährte, wenn die Lust für einen Augenblick die Gegenwart zur Unendlichkeit werden ließ. Ich wollte wissen, im Endeffekt im biblischen Sinne erkennen. Weil ich fremd war, habe ich oft das Gefühl gehabt, der Körper sei nur ein schlecht sitzender Anzug, die Selbstdefinition überzeugte nicht, die Reden und Handlungen schienen nur nachgemacht. Aber unter dem Einfluss der magischen Verfolgerkausalität geschah etwas mit mir: Ich wurde nach draußen katapultiert, betrachtete mich von Außen. Auf einmal wusste ich, die ganzen Fraglichkeiten des Selbstverständnisses und der Körperlichkeit waren einem Tabu zu verdanken. Nicht ich war zu schlecht auf diese Welt vorbereitet worden, sondern die war mit all denen, die schon da waren, so unvollkommen und zurückgeblieben, es war kein Wunder, wenn nichts wirklich stimmte – primär sollte ich mich gar nicht zurechtfinden. Damit gibt es einen wesentlichen Unterschied zum kosmischen Verständnis der Gnostiker. Sie definierten sich als Fremde, bewiesen sich durch die Entfremdung vom eigenen Körper die Verbundenheit mit dem Göttlichen. Während ich mich dank der Entfremdung von den Folgen des Körpertabus entfernte, bei der Entdeckerfreude, der Lernfähigkeit des Ganzen Körpers anlangte: Ein aktiver Teil der Schöpfung selbst zu sein! Das Glück des Unvorhergesehenen ist ein Resultat jener Entfremdung, die den Motor unseres Lernvermögens ausmacht. Die Seele zeigt sich in den Fingerspitzen und auf der Haut, die subliminalen Wahrnehmungen speisen das Sinnenbewusstsein, der Ich ist nur ein Ausguck in einem Meer vielfältiger Wissensweisen. Ich konnte mit der Nase schlussfolgern und die Gefahr wittern, im Herz der Gegenwart wurde die unmittelbare Zukunft sichtbar.“

„Das will ich noch ein bisschen genauer wissen. Die Nietzschereminiszenz reicht uns hier nicht“, Albach spielt listig den Sekundanten, er will wohl dafür sorgen, dass ich mich in irgendwelchen Nebensächlichkeiten verrenne.

„Einverstanden, aber dazu greife ich wieder auf das Spielzeug zurück.“

 

Die Seele ist das Fließgleichgewicht all der körpereigenen Drogen, die im besten Fall wie eine gelungene musikalische Improvisation auf der Grundlage der im Laufe eines Lebens dichter und tönender werdenden Harmonie antwortet und sich durch die Zeiten und Räume mitteilt. Erst die Entfremdung von all jenen scheinbaren Sicherheiten, die wir der sozialisierten Normalität verdanken, produziert jenen Überschuss, mit dem wir den Hörraum herstellen, in dem die Koordination des Hier und Jetzt ermöglicht wird. In diesem Zusammenhang greift die Kritik an den Bildwelten und der Vorherrschaft des Imaginären. Wenn wir mit dem ganzen Körper hören, vermittelt der Gleichgewichtssinn der Präsenz die Nähe, so fern sie sein mag, mit einer Ferne, die uns sehr nahe kommt. In diesem Raum des Schweigens beginnen Harmonien zu klingen – das ist der Ursprung aller Geistesgegenwart! Nicht im ich-denke, sondern in den Ahnungen und Schwingungen kommt das Repertoire dieser Gegenwart auf uns zu. Die Blicke der Gegenstände wispern, das Rauschen uralter Archive und das Knistern biomagnetischer Felder trägt uns die Weisheit eines morphogenetisch strukturierten Kosmos zu: Wir haben teil an einer Sphäre der Macht, in der Gedanken Wirkungen zeitigen. Wir partizipieren an einem über das Geschick des Einzelnen hinausgehenden Geschehen, an einem Wissen, das quer durch die Zeiten reicht. So verwundert es nicht, wie ich mit dem dort vorliegenden Repertoire eine Psychotisierung umspielt und ausgehebelt habe.

Kamper verdanke ich einige feinsinnige Differenzierungen, die nachvollziehbar machen, wie unendlich dicht vernetzt eine Wirklichkeit ist, die geistesgegenwärtig erfahren wird. Wir sind Wellenreiter in einem Meer von Wissensweisen und Sinneseindrücken. Wenn es gut ist, verwandeln wir uns in die Welle selbst. Die starre Scheidung zwischen Subjekt und Objekt zeigt sich als das Folterinstrument der Wissenschaftsgeschichte, mit dem die Natur ihre Geheimnisse abgepresst bekam; die Trennung zwischen dem Ich und dem Anderen ist tatsächlich etwas sehr relatives, wenn wir die zarten Benetzungen und die abrupten Anverwandlungen, die biomagnetischen Übertragungen und den harmonischen Gleichklang bedenken. In diesem Zusammenhang erinnere ich an einen Vortrag Theweleits über den Dritten Körper: Der Bezug zwischen Körpergedächtnis und Motorik führt wie nebenbei auf die Forschungen zum Nachahmungsneuron. Wenn Sloterdijk hervorhebt, wo wir uns befinden, wenn wir Musik hören, also in der Musik sind, bietet sich der Bezug auf die Bewusstseinsforschung an: Der psychische Bereich, den die Musik besetzt, ist jener Bereich des Dazwischen, jenes ursprüngliche Feld der Nachahmungsneuronen, an dem der Quellpunkt einer erfolgsorientierten Semiose anzusetzen ist. Natürlich werden gefühlsblinde Mütter und wissenschaftliche Autisten von diesem Zwischenbereich nichts wissen wollen – sie befinden sich seit der Mitte des 18. Jahrhunderts in einer unheiligen Allianz. Es geschieht ihnen recht, wenn sie sich zur Strafe für ihre Verleugnung in einer Hölle der Dumpfheit einrichten müssen.

 

„Und was soll dieser Ausflug in Ihre Zitatzusammenhänge bringen?“ Wolhe darf ihren Fauxpas vergessen machen und auf den wissenschaftlichen Standard pochen: „Für mich liefert das Sammelsurium weder eine befriedigende Erklärung, noch einen sinnvollen Beitrag zu unserem Forschungsprojekt!“

„Ein paar Krüppelzüchter hatten versucht, uns unsere Grenzen zu zeigen, um sie dann enger und enger zu ziehen – in jener Nacht, die zum Tode des Vorstands führte, habe ich das Gefühl verloren, unsterblich zu sein. Allerdings wich meine Unschuld dem Wissen, dass es Geistesblitze gab, die einem das Leben retteten, selbst wenn sie Lebensjahre kosteten. Bei dem Todeslauf wurde erwiesen, dass wir keinen imaginären Grenzen gehorchen müssen. Seit dieser Erfahrung tragen wir die Verantwortung, ein brisantes Wissen vor der Pervertierung durch die Institutionen der Lebensersparnis zu bewahren.“

„Das ist esoterischer Scheiß!“ Wolhe gibt sich nicht mehr die Mühe, die selbst reklamierten kommunikativen Standards zu beachten. Mit den nötigen Anregungen stellt sie sich vielleicht selbst ins Abseits: „Außerdem war das nicht die ursprüngliche Frage. Also nochmal: warum die Huldigung der Digitalisierung?“

„Gerade deshalb – oder weil es so etwas wie einen Lebensplan nicht gibt! Wenn wir meinen, einfach das zu tun, was unseren Prägungsmustern für Befriedigung und Glück entspricht, bleibt nichts von einer wirklichen Planung übrig – nur der Wiederholungszwang verstümmelter Krüppel, die sich mit ihrem Mangel an Kenntnis und Erfüllung arrangieren! Meine abstoßendsten Erfahrungen habe ich mit nachgemachten Menschen gemacht, die während der Sozialisation eingetrichtert bekommen haben, sie sollen alles so machen, wie es alle anderen machen. Natürlich gibt das Was-sollen-denn-die-Leute-denken Halt und Sicherheit. Aber wehe, sie kommen in die Lage, am antiken Paradox des Kreters zu verzweifeln oder resigniert versuchen, alle weiteren Anstrengungen eines eigenen Lebens zu verabschieden. Was heißt es denn, wenn in den Lebenszusammenhängen der Simulanten Lügner Lügner Lügner nennen – der Konformismus ist die geistige Pest dieser Welt! Diese scheinbare Lösung des Sicherheitsbedürfnisses führt irgendwann auf den Punkt, an dem die Betroffenen resignieren, weil sie um ihre Lebenszeit beschissen, in Aggression oder Selbstzerstörung abdriften. Das dritte Reich oder die DDR waren vor allem Resultate des Konformismus, was sich an wertvollen Spaltprodukten der BRD ergab, war ein Resultat der Reeducation, die sich im Nachhinein am Wertewandel der Weimarer Republik gesund stoßen konnte. Das Vorhandensein konkurrierender, aber sich nicht ausschließender Wertsysteme ist die unabdingbare Voraussetzung der Entwicklung des Denkens. Wenn ich wirklich etwas Eigenes zustande bringen will, muss ich erst einmal den Punkt erreicht haben, an dem ich erkenne, ich bin eine Null. Das ist eine entscheidende Entdeckung, die wir den Arabern verdanken. Diese Chiffre war eine erste Variable; sie transportiert damit bereits die Funktion des inhaltsleersten Signifikanten, nämlich die des Geldes – und das ist, seit die Illusion der Bindung an einen Goldstandard dahin ist, die umfassendste der Welt!“

„Dieser Bezug auf die Null und das Nichts ist ine theologische Erbschaft! Noch dazu gab es Spruchweisheiten, die das Geld mit Gott gleichsetzten.“ Albach ist mit der Tradition vertraut, ich muss mich bei seinen Einwänden mit keinem Schwachsinn auseinandersetzen. Ganz folgerichtig bringt er eine Fraglichkeit auf den Nenner, die mich oft beschäftigt hat: „Mich wundert nicht, dass Sie wesentliche Einsichten für die Verabsolutierung von Speichersystemen und die allmähliche Verfertigung junger Götter bei Heidegger und Voegelin geborgt haben. Also noch einmal: Sie sind in den Computer ausgewichen, quasi als inneres Ausland Ihres Bücherregals! Aber war das nicht schon Beschäftigungstherapie und Resignation? Haben Sie denn in irgendeiner Weise eine Chance gesehen, die Verwirklichung Ihres Wunschhorizonts umzusetzen?“

„Ne, natürlich nicht – mal abgesehen von dem wichtigen Lernpensum während des Studiums, man/frau muss sich von Wunschhorizont und eigenem Begehren verabschieden. Und zwar nicht durch Askese, sondern durch Überreizung und Erfüllung: Man/frau sollte nie unterschätzen, wie sehr unsere Sehnsüchte der Vergangenheit verhaftet ist, sie machen die Aura aus, die ein Mensch oder eine Situation für uns hat, während die Erfüllung, sei sie noch so instantan, in die Zukunft verweist. Schon Benjamin hatte konstatiert, mit der technischen Reproduzierbarkeit ging die Aura des Kunstwerks verloren – die zu verstehen war als die momentane Vergegenwärtigung des geschichtlichen Verweisungszusammenhangs, in dem das Kunstwerk für die Kontemplation gegenwärtig wird. Benjamin war in der Lage, keiner idealisierten Vergangenheit nachzutrauern, sondern die Erfahrung der entstehenden technischen Medien für sich nutzbar zu machen, indem er Zukunft an ihnen dechiffrierte. Das instinktreduzierte Lebewesen Mensch hält sich in vielen Fällen nur deshalb am Leben, weil es einen starken Bezug auf die Zukunft hat, weil es anhand der Teleologie die Zeiten verschränkt, um in der Gegenwart zu navigieren. In den dauernden Zusammenstößen mit Neuem und Unerwartetem, den kleineren oder größeren Schocks, den Erfahrungen der extremen Entfremdung, stellt sich für Augenblicke ein Verweisungszusammenhang ein, der mit einem Relat in der Zukunft verankert ist.“

„Aber warum dann der Bezug auf das Nichts?“ Albach fasst noch mal nach und hat sogar Agambens Fundierung in ‚Die Sprache und der Tod‘ zur Hand: „Wenn alle Bestimmung nur durch Negation geschieht, muss ich doch nicht auf einen biblischen Anfang rekurrieren, an dem das Nichts der Ursprung von allem ist. Wenn Gott uns so fremd ist, dass wir ihm nur gerecht werden, wenn wir nicht von ihm sprechen, ihn nicht zu benennen versuchen, also diese Anonymität im Zentrum der Schöpfung akzeptieren, taucht sie eben im Motor unserer Erkenntnis und Selbstdefinition auf. Wenn das das Geheimnis des abendländischen Nihilismus ist, bleibt uns nur die Einwilligung in die Resignation!“

„Warum denn? Traditionen können tödlich sein, Gewohnheiten betrügen uns um die lebendige Erfahrung. Wenn ich wirklich im Hier und Jetzt präsent bin, stelle ich fest, wie sehr die Jetztzeit mit Zukunft gesättigt ist. Ich sah keinen Grund, zu resignieren, sondern erwartete, mit der nötigen Zeit und einem Schonraum des Experimentierens noch irgendwie eine Lösung jenseits der verwalteten Welt zu finden. Außerdem ist der Bezug auf das Nichts sozialisationsbedingt erst einmal ein Spiel mit den Tabus, die den Schoß umgeben. Den pornographischen Sog lernte ich durch ausgiebige Begegnungen mit einer flutschigen Möse in Schach zu halten. Dann dauerte es Jahre, bis mich der Bezug auf die Null und das Nichts auf den von Grassi rekonstruierten mythischen Symbolbegriff zurückführte, mit dem ich Benjamins Sprachtheorie als Versuch einer Vergegenwärtigung unmittelbarer Präsenz interpretierte. Heideggers Bezug auf das Sein greift zu kurz, wenn er Hermeneutik und Metapher als Resultate einer metaphysischen Sackgasse kennzeichnet. Man nehme die Zeit weg, verzichte auf das Telos und der Mensch lässt sich fallen, das ist der Tod. Vielmehr ist das Sein nur als Metapher zu verstehen, als unvorstellbar vielfältig vermittelter Verweisungszusammenhang in dem nichts es selbst ist und alles erst seinen Stellenwert oder seine Bedeutung aus den Beziehungen erhält, zwischen denen es sich befindet. Gegenüber dem Drängen des Gestaltbilds und dem Nachahmungszwang der Bildwelten hat das Symbol eine prägnante Funktion, denn wir sind Lautstromwandler, wir übertragen die fremde Körperspannung in die eigene und beim Sprechen wird eine ganz eigene Intensität der Wirklichkeit übertragen. Nach Lacan führt das volle Sprechen auf einen leiblichen Status der Präsenz zurück, in dem das Symbol die Sache selbst ist. Agambens Ausführung zu einem mythisch-traditionellen System, in dem der Akt der Überlieferung und ihr Gegenstand absolut identisch sind, im lebendigen Vollzug bestehen, ist eine nicht unwesentliche Ergänzung, denn das Koordinationszentrum des mythischen Denkens ist der Leib. Im infinitesimalen Intervall zwischen dem Nicht-mehr und dem Noch-nicht wird das Kontinuum der linearen Zeit aufgebrochen, wir werden in den kritischen Augenblicken mit unserer Verantwortung für die Verwirklichung von Präsenz konfrontiert.“

„Wollen Sie mit dieser Argumentation rechtfertigen, für fast zwanzig Jahre zu keinem ordentlichen Gelderwerb in der Lage gewesen zu sein?“ Wolhe bemüht den Holzhammer eines Spießerarguments.

„Wieso, ich habe überhaupt nichts zu rechtfertigen! Ihr Ansatz beinhaltet noch lange keine Empfehlung für den Anpassungszwang. Die Jobs haben immer ausgereicht, um den wichtigen Themen den nötigen Rahmen zu gewährleisten. Während ich als Durchlauferhitzer Material sammelte, in den abwegigsten Schmökern zu Hause war, ging ich erst einmal davon aus, unendlich viel Zeit zu haben. Im Resultat ist uns die Interpolation gelungen, obwohl alle Beteiligten immer darauf bestanden haben, die Auswanderung in eine eigene Welt komme dem Absturz in die Anomie gleich. Wie es heute aussieht, ist die Zeit über viele Lösungen einfach hinweg gegangen. In den Phasen, in denen wir es nicht geschafft haben, im Hier und Jetzt präsent zu sein, haben wir aufgrund der Kämpfe einfach das Wichtige verpasst.“

„Nun ja, ob Lautstromwandler oder Durchlauferhitzer – später als Anzeigenverkäufer und Produzent von Promotions konnten Sie intellektuell keine Ansprüche mehr stellen!“ Sie denkt, sie sei weiter am Drücker.

„Und? Was soll das, gerade weil ich jetzt das nötige Geld hatte, konnte ich Ansprüche stellen. Noch dazu war ich am Telefon bundesweit präsent und habe Umsätze zustande gebracht, mit denen ich genau jenes Wissen, das die Behördenuniversität derart infrage gestellt hatte, in eine Zukunft transportieren konnte. Andere vor mir haben Linsen geschliffen und nebenbei mit einer materialistischen Metaphysik das geltende System des Wissens aus den Angeln gehoben. Irgendwo in den Speichersystemen ist eine ausführliche Abschweifung über die Aktualität von Spinozas Erkenntnistheorie vergraben. Ich steckte dank der Intervention einiger Geisteswissenschaftler bis zum Hals in der Scheiße, noch dazu musste ich während der Vertretung eines Bankboten zeitweilig auf den Händen gehen. Dennoch erarbeitete ich aus lauter kleinen Schritten eine Zukunft, die mir nicht vergönnt sein sollte. Der Bezug auf ein besseres Wissen ging nicht verloren, sondern wurde eher noch bestärkt.“

„Sie hätten die Bank betrügen können oder einen der Päderasten erpressen, die sie aus einem früheren Leben kannten“, wirft Bornhard schelmisch ein: „Warum haben Sie auf einmal so penibel darauf geachtet, keinen Fehler zu machen, gegen kein Gesetz zu verstoßen usw. – Sie hatten sogar Zugang zum Privatissimum einer internationalen Bank, warum haben Sie nicht die Gelegenheiten genutzt, Zahlungsanweisungen umzuleiten?“

„Das ist die Frage!“ Charlus ist wieder bei der Sache: „Auf welches Machtpotential haben Sie zurückgegriffen?“

„Wer sagt denn, dies wäre keine Falle gewesen? Wer weiß, ob ich diesen Job bei der internationalen Bank nicht nur deswegen bekommen habe, damit man mich weiterhin kontrollieren, außerdem gewissen Verführungen aussetzen konnte. Ich kam nicht einmal auf den Gedanken, irgendwelche illegalen oder kriminellen Abwege zu versuchen. Diese eindeutige Haltung verdankte ich sogar der Intrige. Weil unsere Umgebung derart mit üblen Nachreden und bösen Wünschen gesättigt war, achtete ich darauf, keine mimetische Standleitung zur Negation zu schaffen. Ab einem gewissen Zeitpunkt war mir klar, ich musste makellos sein, damit die Negation auf die Leute zurück fiel, die ihre Delegierten dazu angespitzt hatten, uns zu einem falschen, lediglich reaktiven Verhalten zu verführen. Das Prinzip Blankpolierter Spiegel ist nicht vom Himmel gefallen, sondern hat sich aus ganz konkreten Fraglichkeiten ergeben. Gewisse biomagnetische Felder schossen zu einem Muster zusammen. Am Ergebnis, an den Ausfällen auf der anderen Seite, konnte ich ableiten, wie richtig der Kurs war. Ich lernte Kräftepfeile zu lesen wie eine KI an der Mustererkennung lernt, also nicht anhand irgendwelcher Bedeutungen, sondern dank der syntaktischen Verknüpfungen. In einem zweiten Schritt waren die Kräfte in Bedeutungen zu übersetzen, dabei zu erfahren, warum Bedeutungen in gewissen Zusammenhängen wieder zu Kräften werden. Nicht umsonst wurde die biographische Linie früher mit dem Steuern eines Schiffs in Verbindung gebracht – steuern kann man nicht als autonomes Subjekt, das sich auf die eigene Kraft verlassen will, sondern indem die verschiedenen Spannungen und Widerstände in Dienst genommen werden, um das anvisierte Ziel zu erreichen oder vielleicht sogar ein ganz anderes, dass sich als brauchbarer erweist.“

„Das kybernetische Modell könnte eine Antwort sein, wenn hier nur ein minimales Interesse an meinem Ansatz freizusetzen wäre!“ Charlus beginnt unwirsch zu werden – aber vielleicht versucht er eine Außenseiterrolle zu simulieren, um mich einzuwickeln und dann mit einer apodiktischen Definition zu überfahren. Ich habe schon ein paar Mal beobachtet, wie er ein Thema behutsam durch gewisse Regeln eingekreist hat, um ab einem gewissen Punkt alles auszuschließen, was seinen Regeln widersprach.

„Mein Gott, was für ein Brimborium müssen Sie in die Welt setzen“, Wolhe ignoriert ihn, um mich einem Rechtfertigungszwang zu unterwerfen: „Tatsächlich rehabilitieren Sie eine fatalistische Variante des Konformismus. Die Leute, die nichts falsch machen wollen, am besten gar keine Position ergreifen, wollen sich tatsächlich doch nur die Hände nicht schmutzig machen! Ein Musik, der nirgends mitspielte, immer seinen eigenen Weg gehen musste… Aber für das bisschen Geld brauchen Sie dann den Rückgriff auf eine längst verstaubte Metaphysik. Nur um sich zu rechtfertigen, weil Sie tatsächlich nichts anderes machen, als ein kleiner Buchhalter, der seine Pflicht erfüllt, um ein Häuschen abzuzahlen. Vielleicht mit dem Unterschied, dass Sie es nie zu einer Immobilie bringen werden!“

„Das ist richtig, ich werde mir niemals so einen Mühlstein um den Hals legen. Damals bin ich durch diese Prüfung gekommen, weil ich beweglich war, durch keinen Besitz ausgebremst wurde, weil ich alles anders machte, als es die Leute erwartet haben, die gemeint hatten, meine Gegner zu sein.“

„Das ist völlig uninteressant!“ Charlus gibt nicht nach: „Ich hätte jetzt gern noch ein paar Kochrezepte zu Ihrer Theorie des sozialen Todes gehört. Was interessiert mich hier eine Rechtfertigung der Lebensversicherung oder das Plädoyer für den Bausparvertrag. Die Leute, die darauf angewiesen sind, werden nur doppelt beschissen. Man bricht ihren Willen, selbst aus dem Leben etwas zu machen, dann zwingt man sie später, mit ihren Ersparnissen hauszuhalten, damit sie der öffentlichen Fürsorge nicht auf der Tasche liegen!“

„Gern, in dieser Navigation anhand von Mustern gibt es kein sicheres Wissen, aber weil ich einige Erfahrungen gemacht habe, ist es ganz spaßig, über die Gesetzmäßigkeiten zu spekulieren. Der kultische Kern der Tragödie hat immer einen Bezug auf das Wechselverhältnis von Tod und Wiedergeburt; er zitiert in irgendeiner Form jene Initiationsregeln, die eine Einführung ins Register der Sexualität darstellten. Das biomagnetische Gewitter ist unsere erste und einzige Erfahrung des Göttlichen. Alles andere sind Surrogate, mögen sie noch so aufgebauscht den Aufenthalt in befriedeten Weltausschnitten verbürgen. Nur der Körper mit seinen hormonellen Leidenschaften vermag der Sprache einen semantischen Gehalt zu geben. Wenn wir die Götter suchen, finden wir sie genau dort, wo die Großinstitutionen ihre Tabus gesetzt haben. Ich greife noch einmal auf den Aufzeichnungsmodus zurück. Das spart Zeit, ich muss mir nicht die Mühe machen, nach Formulierungen zu suchen, die längst hinterlegt worden sind.“ Ich streife die Datenkappe über.

 

Wie jede Konventionalisierung einer Offenbarung der perversen Strategie gehorcht, weitere Offenbarungen unmöglich zu machen, taucht dieses Gesetz auf der untersten Ebene der Ekstase noch einmal auf. Als müssten im Alltag ständig Gegenmaßnahmen ergriffen werden, um Resignationsformeln zu erzwingen – so gelingt es sogar, wenn wir nicht wach genug sind, eine große Liebe zur Ader zu lassen. Am Ende erleichtert uns der Seitensprung um den übrig gebliebenen Ballast. Der Lattenzaun der Kultur ist durchlässig, damit wir sehen, wie unkomfortabel die sogenannte Wildnis hinter der Absperrung ist. Einige der größtem Stars wurden zu Beweisfiguren, wie tödlich der Aufenthalt dort sein soll. Vielleicht teilt diese Form der Komplexitätsreduktion mit der Schönheit und der Pornographie die gleiche Gesetzmäßigkeit. Was uns fasziniert, bannt uns, weil wir Angst davor haben – bis wir über die Techniken verfügen, das Faszinosum zu reproduzieren: Dann nudeln wir es so lange ab, bis es uns nicht mehr beeindruckt, das ist eine Form von Rache. Wir kämen weiter, wenn wir mehr Achtung vor dem ursprünglichen Tremendum hätten. Wir sollten davor in die Knie gehen und es für die herausgehobenen Momente der Beziehungsarbeit bemühen, statt es nur endlos zu reproduzieren. Der kleine Hermes hat einmal eine Schildkröte zu Tode gequält und aus ihrem Panzer die Leier gezaubert, mit der er Apoll die geraubten Rinder entgelten konnte – ein Mythos über die Entstehung des Opferkults. Orpheus hat noch herzergreifend gesungen, als sein abgefetzter Kopf von den Fluten hinweg getragen wurde. In diesen Bildern ist die Musik ein der Sprachlosigkeit abgerungenes Zeugnis der Auslöschung, des Verklingens und zugleich des Überdauerns – Odo Marquard hat sich auf Lévi-Strauss berufen, als er zeigte, dass die Musik selbst eine Form des Mythos ist, und mit Steiners Reminiszenz an die ‚Mythologica‘ wurde hinter den Gesetzmäßigkeiten musikalischer Harmonien das Geheimnis des Menschlichen vermutet! Vielleicht erklärt das, warum ihre enorme Absorbtionsfähigkeit einst das Prinzip Tragödie, die heilsame Katharsis freigesetzt hat. Immer wenn es uns gelingt, das Gefängnis des Ich zu sprengen, beginnen wir an den Harmonien eines größeren Ganzen teilzunehmen, die rationalen Analysen nur zum Teil zugänglich sind. Wer zu viel Ehrgeiz in die Austrocknung des Zuidersees investiert, behält von der ursprünglichen Musikalität des Göttlichen vor lauter Sublimation nichts mehr übrig. Dabei gibt es die Stimmigkeiten notwendigerweise in jedem Leben! Ohne ein harmonisches Leitmuster hätten wir schon die embryonalen Entwicklungsstufen nicht zu meistern gewusst. Es war einmal da. Es klingt in der Wirkungsmächtigkeit des Kitsches auf; es ist der Fundus jeder großen Liebe und der Motor der Arbeit am Mythos. Es ist das ozeanische Gefühl, das unsere Seele mit dem Universum als Ganzem vernetzt, und zugleich der prometheische Funke, mit dem die Offenbarung der Seinsmächtigkeit unserer Fantasie noch in den pragmatischen Vollzügen entzündet werden kann. Die Erleuchtung als Einklang mit der Welt ist präsent in allen Phasen des Lebens, in denen uns eine energetische Woge packen und für eine Weile tragen darf. Die Gesetzmäßigkeit der Musik, die jenen Bezug auf den Tod, aufs Zerbrechen, auf die Auslöschung aufbewahrt und zugleich überwindet, hält die Negation in Schach; der richtige Rhythmus und die den Kontext zum Klingen bringende Harmonie sind in der Lage, die Nichtung durchzustreichen! Die unserer Zeit entsprechenden Fraglichkeiten – in jeder Zeit wartet das Bedürfnis, die ihr entsprechenden Rätsel zu lösen – sind eher am Computer, als in den Wäldern zu bewältigen. Die Mustererkennung kann genügend Leute in die Lage zu versetzen, sich auf jene Harmonien einzustellen, die den Gesetzmäßigkeiten unserer Evolution abzulauschen sind. In meiner Geschichte spiegelt sich noch einmal ein uralter Wirkungsmechanismus, der auf den Namen Orpheus hörte: Der Trieb muss durch den Tod hindurch gehen, um zu klingen und zu rühren. Wobei ich der Popmusik und den durch Halluzinogene aufgesprengten kulturellen Werten Zugänge zur Authentizität verdankte, die wohl auf den oberen Rängen der philosophischen Selbstidentifikation nicht mehr zur Verfügung standen.

Wer hätte gedacht, dass ich unter LSD und während der Lektüre von Huxley, Leary oder Castaneda viel näher an das brennende Zentrum der Wahrheit herangekommen war, als unter den Führungsansprüchen von Bildungsbeamten, für die das Wissen nur ein Anlass für Profilierungsmöglichkeiten sein durfte. Dort optimiert das Wechselspiel von Kritik und Vereinnahmung nicht etwa die Wege der Lebendigkeiten, sondern nur die Verwaltungsvollzüge. Was führen uns jene Simulanten der Selbstheit vor, wenn nicht die traurige Hoffnungslosigkeit, sich auf nichts wirklich verlassen zu können, was sie nicht selbst hergestellt haben – das ist erbärmlich wenig und in den entscheidenden Zusammenhängen haltlos! Subalterne, in Intrigen verstrickte Deppen, die vor lauter Machtspielen längst vergessen haben, welche Konsequenzen ihr Verhalten herbei führt – und die diese Gesetzmäßigkeit verdrängen, solange sie genügend Delegierte zur Verfügung haben, um die damit verbundene Negation nach unten weiter zu reichen. Ich habe während der Intrige mit der notwendigen Selbstdisziplin an der Prosa der Welt gearbeitet. Dennoch blieben Reste des ursprünglichen Antriebs bewahrt, weil das proletarische Theater der Grausamkeit in meiner Biographie die notwendigen Spuren hinterlassen hat. Die Schmerzen, die diese Intriganten mit der Katastrophe des sozialen Todes verbanden und an einen unbotmäßigen Schüler adressierten, waren für mich bereits in den Ursprüngen zuhause. Der Schmerz formatiert Weltenspringer, auf eine solche Immunisierung war man/frau in den Verwaltungsbezügen nicht vorbereitet. Auf Dauer und unter dem Einfluss der freigesetzten Umsätze musste ich mich nicht mit Lübbes Analyse abfinden, das Verhältnis zwischen Vergangenheit und Zukunft habe sich verändert, schon die unmittelbare Zukunft erscheine ohne Herkunftsbezug als schwarze Wand des Unerwartbaren und Unvorstellbaren. Im Repertoire meiner Herkunft gab es nichts, an das ich mich gebunden fühlte, aber vieles, das als Mahnung taugte. Dafür warteten viele Zugänge auf ihre Verwirklichung, das Glück des Unvorhergesehenen versprach Steigerungen des Repertoires.

 

„Einverstanden, das ist ein brauchbarer Ausgangspunkt. Bei Ihren Wiedergeburtsmetaphern setzen Sie verschiedene Variationen von Welt voraus, die durch den Harmoniebegriff synchronisiert werden.“ Charlus lehnt sich selbstgefällig zurück.

„Das entkräftet meinen Vorwurf noch lange nicht“, Wolhe beharrt auf ihrer Position: „Sie können noch so klug sein, Sie können noch so viel Umsatz in Bewegung setzen, aber Sie können nicht immer alles wissen, was gerade vonnöten ist! Während Sie nur eine große Menge von Leuten vernetzen müssen und es wird sich immer jemand finden, der gerade über das Wissen verfügt, das Ihnen jetzt so dringend nötig wäre!“

„Genau so etwas wollte ich hören!“ Charlus spielt vor, wie er in seinem Element ist: „Der richtig organisierte Mob heißt heute Wisdom of the Crowd! Die Menge, die für jedes lustvolle Schlachten zu haben ist und den Wahn der Selbstjustiz nur zu gern in ein Pogrom verwandelt! Wenn wir aus dem Totalitarismus lernen wollen, müssen wir erst einmal für die notwendige psychische Hygiene sorgen, für ein durchschnittliches Bildungsniveau, das zu Distanzen befähigt. Mir läge eine surrealistische Vereinnahmung des Konstruktivismus viel näher: Die Seinsmächtigkeit der Imagination unterlegt unserem Wahrnehmungsapparat die Schematismen, nach denen schließlich Erkenntnisvorgänge ablaufen. In biographischen Verknüpfung muss man nicht alles wissen, sondern nur wissen, welches Phantasma gerade die Wirklichkeit prägt.“

„Nein, machen Sie diese Entwicklung nicht schlecht! Mit den sozialen Medien ist auf einmal eine Form der basisdemokratischen Macht entstanden, die für Augenblicke bereits in den bürgerlichen Revolutionen wirksam war.“ Es wundert mich nicht, dass Wolhe die aktuellen Mechanismen der Manipulation als Freiheitsspielräume propagiert.

„Rein theoretisch – ja!“ werfe ich ein: „Nur dürfen dann nicht irgendwelche Arschlöcher die nötigen Stimmungen präparieren, um den reaktionärsten gesellschaftlichen Kräften den Treibstoff zu liefern. Die sozialen Medien sind zu einer Selbstdarstellungsarena von Asozialen geworden, häufig genug arbeiten dahinter Kräfte an einer politisch umsetzbaren Entdifferenzierung. All jene technischen Errungenschaften, die die Kommunikation befördern und beschleunigen, dienen in vielen Fällen dazu, Erpressern, Lügnern und Betrügern ein gut getarntes Feld aufzubereiten. Jene Delegationsleistungen, die früher gerade mal psychotische Mütter und größenwahnsinnige Politiker zustande gebracht haben, sind heute dank der sozialen Medien ein Machtmechanismus auf dem Tummelplatz von Parapsychotikern.“

„Das ist ihr pseudoelitärer Standpunkt“, wirft Wolhe ein: „Damit haben Sie sich bereits auf der Uni völlig isoliert und jeder Kommunikation verweigert! Und was sind überhaupt Parapsychotiker?““

„Leute, die anfangs noch wissen, dass ihre Überzeugungen von dem abweichen, was gemeinhin für wahr gehalten wird, die sich dann in einer Gruppe Gleichgesinnter stabilisieren und auf eben diese Überzeugungen einigen. Was Sie unter Kommunikation verstehen, ist eine sehr reduzierte Form des Umgangs mit der Sprache. Ich plädiere für den symbolischen Tausch und lehne Manipulation und Selbstdarstellung ab. Damals hatte ich keine Lust, mich mit dem Nachwuchs von Lehrern, der wieder Lehrer werden wollte, über irgendwelche Selbstdefinitionen und Demarkationslinien zu streiten. Das war nur Zeitverschwendung, denn ich wollte mich nicht selbst definieren, sondern erst einmal kennenlernen, was die Welt der Wissenschaft an Möglichkeiten bot.“

„Unter solchen Voraussetzungen brauchen wir nicht mit einander sprechen!“ Wolhe versucht sich wieder an einer Exkommunikation: „So kommen wir nie zu einem Ergebnis.“

„Das stimmt, bei Ihren Voraussetzungen werden Sie das nicht können. Zu Ihrem vorigen Einwand haben ich eine Differenzierung nachzutragen. Natürlich kann ich nicht alles wissen – aber ich kann unter der richtigen Voraussetzung die Erfahrung machen, wie mir zum rechten Zeitpunkt genau das zugetragen wird, was zur Lösung der aktuellen Fraglichkeit taugt. Wer aus Angst vor der Welt und den Zumutungen einer eigenen Erfahrung auf ein starres Machtschema zurückgreift, wer immer alles vorausplanen will, wird nicht in der Lage sein, sich auf die Unsicherheiten der Lebendigkeit einzulassen! Mich wundert immer wieder, warum gerade Krampf-Babys die Unsicherheit reklamieren und irgendwelche festen Werte einklagen, während sie Macht durch die Verunsicherung anderer auszuüben. Selbst die Erfahrung stabiler Ungleichgewichte und der notwendige Umgang mit einer Fehlerkultur kann zu Zwecken der Einschüchterung pervertiert werden, ohne dass so jemand etwas aus der Erfahrung lernt.“

„Ich darf doch an die Tagesordnung erinnern“, der Moderator mischt sich ein: „Nachdem die Überlegenheit Ihres Ansatzes erwiesen wurde, halte ich es nicht für erkenntnisfördernd, wenn Sie meinen, die Kollegin einfach vorzuführen!“

„Ich muss mich nicht provozieren lassen! Sie sollte einfach ihren antiquierten Ansatz überarbeiten oder für sich behalten. Wissen Sie was Schwarmintelligenz faktisch ist? Die statistische Annäherung an den größten gemeinsamen Nenner: Also die computertechnisch unterfütterte Dominanz des Konformismus! Die Suchmaschinen und die sozialen Medien haben uns in unseren Neigungen und Gewohnheitsmustern zu bestätigen. Das läuft auf eine Form der geistigen Inzucht hinaus, die an der Reproduktion von Beamtennachwuchs ausgerichtet ist. Und zwar ohne die Privilegien, die dem Staatsdiener garantiert werden, nur um der gemeinsamen Blase willen, die das tragbare Gefängnis der Selbstidentifikation noch mehr Beschränkungen generieren lässt. Die Werbung hat so etwas schon immer gemacht. Bei meinen Interviews und Produktdarstellungen musste ich nur den verengten Horizont durch die nötigen Lobhudeleien idealisieren: Ich habe verkaufen gelernt, war in diesem Sinne meiner akademischen Zeit voraus. Ich brauchte nicht auf die gemeinsamen Ansprüche verzichten. Wir behielten sie eben für uns, sie sollten auf die Dauer nur zu finanzieren sein. Jenseits der Identifikationsangebote konnte ich Geld machen und das in einer Form, die davor unvorstellbar war. Geld ist der inhaltsleerste Signifikant, der für alles und nichts stehen kann: Da sind wir wieder bei der Entdeckung der Null, also jener Systemvariablen, die für alles stehen kann. Als Sohn eines ehemaligen Heimkinds, eines Hilfsarbeiters, der sich bis zur Position eines Geschäftsführers in einem Einmannbetrieb hochgearbeitet hat, um dann nach dem Scheitern seiner Ehe Selbstmord zu begehen, habe ich Geld oder Karriere nie ernst genommen. Für die, die ihren Nachwuchs nicht an den Machtpositionen teilhaben lassen können, heißt die geheime Botschaft des Karrierebetriebs noch immer: Vernichtung durch Arbeit. Ich war davon ausgegangen, das taugte alles nichts, wollte mich ohne große Zugeständnisse irgendwie durchwursteln. Bis mir klar gemacht wurde, dass ich auf einer Abschussliste stand. Erst dann wurde uns schmerzhaft bewusst, warum der Signifikant Geld, der für alles stehen kann und selber nichts bedeutet, unermessliche Freiheitsspielräume beinhaltet. Damit deutet sich wieder einmal die funktionale Dominanz des Nichts und der Null an! – Schon Laotse hatte darauf hingewiesen, dass ein Becher oder eine Radnabe genau dort bedeutsam werden, wo sie selbst nicht sind: In jenem Hohlraum ihrer Funktion.“

„Dann war die Entscheidung zur Auswanderung in die Technik also ein Versuch, nicht in die Resignation einzuwilligen!“ Albach geht mit und wägt ab: „Deswegen idealisieren Sie jetzt die Universalprothese Computer! Dabei ist das Gerät eigentlich nur in der anthropologischen Traditionslinie instinktreduzierter, auf Lernen und Prothesen angewiesenen Mängelwesens zu situieren.“

„Eben nicht nur, das hat der Computer mit dem Geld gemein. Sie stellen Zugänge zu anderen Welten zur Verfügung – und genau die brauchte ich, nachdem man mir keinen Platz in der Gegenwart gönnen wollte. Seit Babbage und den durch Poe angeregten literarischen Umsetzungen in Butlers ‚Erewhon‘ wächst die Angst, die Maschine überhole den Menschen und erweise ihn als antiquiert und überflüssig. – Günter Anders mag dies in existentiellen Zusammenhängen für die damaligen Lebensbereiche nachvollzogen haben. Dennoch neige ich viel eher zu der Schlussfolgerung, antiquierte Herrschafts- und Abhängigkeitsverhältnisse haben sich als obsolet erwiesen – und diese Entwicklung führte zu Desorientierungen in der Verinnerlichung der Machtstruktur. Die Scham, nicht mit den eigenen Produkten mithalten zu können, beschreibt doch einen Weltzustand, der auf beschränkte Identifikationen angewiesen ist. Tatsächlich prägen eben die Herrschaftsverhältnisse die psychischen Strukturen durch identifikatorische Prozesse. Vielleicht faszinierte mich deshalb der Umgang mit dem Computer, weil mir die universitäre Erfahrung der Liquidierung meiner Subjektivität nahelegte, in einem Medium weiter zu machen, das die Funktionäre der Gutenberggalaxis bereits angezählt hat. Ich machte den Computer zum Medium meiner geistesgegenwärtigen Lebendigkeit, verzichtete auf jede Konsequenz eines Persönlichkeitsideals – es fiel mir nicht schwer, mich in einen Funktionszusammenhang zu verwandeln und in gewissen Situationen von den persönlichen Befindlichkeiten zu abstrahieren.“

„Auch das ist wieder nur eine starke Behauptung“, meldet sich Wolhe zur Stelle. Mittlerweile fehlt ihr eine realistische Absicherung der Argumentation, aber sie ist fest davon überzeugt, sie müsse den Mangel nur verleugnen. Das ist ein ganz einfaches Schema: Erst lügen sich die Leute irgendwas vor, dann meinen sie, die anderen mit der Bezugnahme auf irgendwelche windigen Rationalisierungen zur eigenen Selbstvergewisserung einzuspannen.

„Wieso nicht? Tatsächlich zeigt schon der Film ‚Matrix‘, warum die Maschine den Menschen nicht überflüssig macht, sondern nur ein überkommenes Herrschaftssystem, das die Figuren an den Schaltstellen der Macht zur Verinnerlichung anempfohlen haben. Das Ende des Subjekts ist von langer Hand durch die Großinstitutionen Militär und Kirche vorbereitet worden. Während Aufklärung und bürgerlicher Bildungsplan noch die Schimäre des autonomen Denkens modellierten, waren längst die Betriebsanleitungen sozialisiert, mit denen die Freiheit des Ichs nur in der Selbstzerstörung zu beweisen war. Anpassung, Resignation und Verzicht waren die Grundvoraussetzungen, um überhaupt zu diesem Spiel zugelassen zu werden, als Prämie diente die Ernennung zum Vorbild. Noch in Zeiten der Informalisierung haben subalterne Bildungsbeamte am wissenschaftlichen Nachwuchs die Subjektivität zu eliminieren, um den eigenen Status als Simulanten der Selbstheit auszuhalten. Prämiert wird dieses edle Verhalten durch die Chance, in der Öffentlichkeit als Charakterdarsteller zur Verfügung zu stehen. Die Wirklichkeit, die uns von den Statthaltern des Wissens und ihren Ablegern in den Massenmedien verbürgt wird, resultiert aus einer allgegenwärtigen Verkennungsanweisung, die sich im Wandel der politischen Systeme als sehr elastisch erwiesen hat und mit jeder Neuerung, jedem Umbruch weiter verjüngt wird. Wir sollen die Macht immer oben suchen, am besten im Jenseits der realen Welt, beim Zufall, den Göttern oder jenen Mächten des Marktes, die weit über den Einzelnen zu situieren sind. Und dabei sind wir es selbst: Mit unseren Bedürfnissen und Erwartungen halten wir das durchschnittliche System der Behinderungen am Laufen!“

„Da liegt doch das Schlagwort ‚Lügenpresse‘ nahe!“ Wolhe hat eine Ablenkung gefunden und reibt sich schelmisch die Hände: „Das hätte ich von Ihnen nicht erwartet, aber damit aktualisieren Sie den ideologiekritischen Ansatz eines Adorno für die finstersten politischen Belange.“

„Das geht immer, ist aber ganz einfach unredlich. Ein Erfolgsgeheimnis der Nazis war es schließlich, den Juden die eigenen Begehrlichkeiten, den eigenen Machtanspruch zu unterstellen. Die Populisten verbergen hinter dieser Parole die psychotische Verleugnung, als anmaßende Schwachsinnige fortwährend Lügen in die Welt zu setzen. Das tatsächliche Lügengespinst ist jene Welt der Normalität, die nur simuliert werden muss, wenn man sich als Kinderschänder oder frau als Sadistin unbehelligt in den Institutionen den dringenden Bedürfnissen widmen kann, solange nur der Schein gewahrt bleibt. Das ist die aktuelle Banalität des Bösen – während die Populisten alle Formen der Verdrehung und Unredlichkeit nutzen, um erfolgreich im Trüben zu fischen. Mit der Kategorie der Verleugnung ist jene widersprüchliche Vereinigungsmenge gekennzeichnet, von der der Populismus zehrt! Das, was sie so lautstark angreifen ist zugleich der Motor ihres Machttriebs. Dagegen ist an eine proletarische Wahrheit meines Namensgebers zu erinnern: Der, der’s zuerst gerochen, dem is‘ er aus dem Arsch gekrochen!“

„Das führt uns zu weit von unserem Thema ab!“ Der Moderator bremst wieder einmal: „Dagegen kommt mir der Bezug auf die Massenmedien sehr interessant vor, eben weil diese in Ihren verschiedensten Texten immer wieder als Sprungbretter für neue Einsichten taugten.“

Bornhard hat die meiste Zeit nur aufmerksam protokolliert. Wie es aussieht, ist sie ähnlich wie Albach an weiterführenden Wissensweisen interessiert. „Wenn ich Sie richtig interpretiere, sehen Sie in den Verweisungszusammenhängen, die mit Hypertext möglich geworden sind, eine Metapher für die Assoziationsmöglichkeiten der menschlichen Gedankenverarbeitung. Also eine immer noch schwerfällige und aufwendige Annäherung der Datenverarbeitung an jene Assoziationsmuster, die in einem beliebigen Text aus dem philosophischen oder literarischen Fundus der letzten zweieinhalb Jahrtausende durch eine aufmerksame Lektüre freigelegt werden. Mit anderen Worten: Die Maschine kann noch so schnell mit Big Data jonglieren, aber sie kann nichts damit anfangen, solange wir nicht entscheiden, was sie herausfinden soll. Der Mensch setzt die Zielvorstellungen, die Maschine kennt kein Begehren, sie hat keinen eigenen Antrieb.“

„Das stimmt! Damit sind wir wieder bei der Mustererkennung. Das inspirierte Hören illustriert den Verweisungszusammenhang – mit Hanna Stegbauer beruht die Faszination der Musik auf der Grunderfahrung, einen Text, eine Tatsache in eine Begegnung zu verwandeln. Musik ist gestaltete Zeit, die wirklich am Anfang aller Benennung steht, die dem Schweigen abgerungen wird. Wenn wir das Schema erst kapiert haben, greift unser Hören sogar in die Zukunft vor: Wir wissen was kommt, obwohl es erst aus der Zukunft auf uns zu kommt. Analog wäre die Mustererkennung im Kontext der Digitalisierung das Gespür für die wesentlichen Verknüpfungen. Das ist meine Argumentation gegen das Totschlagargument Black Box. Im Rechner werden Nullen und Einsen verarbeitet, die kleinstmöglichen Unterschiede, die einen Unterschied machen – also Informationen. Wenn die Information zu Kommunikation als Sprache werden soll, muss sie mit Bedeutungen verknüpft werden. Form und Information existieren unabhängig vom Hier und Jetzt und den Körpern aus Fleisch und Blut. Sprache ist nicht nur Kommunikation, denn ihre biographischen Grundlagen sind in Gefühlen und Bedürfnissen fundiert – die triadischen Trichotomien, die Bense als Wissenschaftstheoretiker zusammengestellt hat, beinhalten einen indexikalischen Bezug auf eben dieses Hier und Jetzt, der zugunsten der Wissenschaftlichkeit gern vernachlässigt wird. Während für mich die Grundlage der Semantik eben nicht in den Konventionen und Definitionen, also der Abgehobenheit von der Erfahrung, sondern in der leiblichen Verwobenheit zu finden ist. Seien es Gefühle, seien es Hormone, wir sind ein Teil der Welt und die von uns bemühten Bedeutungszusammenhänge sind dies nicht weniger.“

„Sie potenzieren den Bruch zwischen Information und Kommunikation durch den Bezug auf die menschliche Sprache“, unterstreicht Bornhard: „Aber damit versuchen Sie sich doch daran, Gesetzmäßigkeiten einer hierarchischen Gesellschaft zu rekonstruieren! Das geht an den Gesetzmäßigkeiten einer informalisierten Welt vorbei, die an der Globalisierung ausgerichtet ist.“

„Das glaube ich nicht. Die Informalisierung funktioniert nur dann, wenn gewisse Formen verinnerlicht worden sind. Ich bin sicher nicht dafür, an starren Hierarchien und göttlichen Gewissheiten festzuhalten. Es ist viel angemessener, wenn wir uns auf Werte beziehen, die sich der kreativen Eigenarbeit verdanken. Wir müssen für uns die verbindlichen Bedeutungen geschaffen haben, mit denen es dann möglich wird, relativ sicher in den Weltzusammenhängen der Information zu navigieren. Die Fabrikation von Präsenz liefert den Standindex von Geltung und Selbigkeit – nur wenn wir das Hier und Jetzt mit Geistesgegenwart laden, sind wir überhaupt in der Lage, uns auf die Wirklichkeit einzulassen. Das Zeitalter der Digitalisierung setzt die Fähigkeit zu Selbstverantwortung und Eigenarbeit in einem früher unbekannten Maß voraus. Denn nur dann werden in den entscheidenden Situationen die richtigen Entscheidungen gefällt, für die kein Chef und keine Hierarchie bürgen können, weil sie zu weit weg vom Schuss sind. Wir profitieren also von den wirtschaftlichen Forderungen eines Zeithorizonts, der auf unsere Präsenz und Geistesgegenwart angewiesen ist. Wenn wir uns nicht darauf einlassen, unterstehen wir jener Abwesenheitsdressur, deren Gesetzmäßigkeiten ich bereits vorgeführt habe. Von der Verwünschung, bei sich selbst nicht zuhause zu sein, profitieren zuerst einmal die Pädagogen und Psychologen, dann die schmarotzenden Experten und Wichtigtuer, die uns entmündigen, vor allem aber die großen Volksparteien, die die Verantwortung für die Selbstgestaltung des eigenen Lebens systematisch vernebeln, weil sie sonst überflüssig wären.

Denken Sie an die Gesetzmäßigkeiten des Buchmarkts: Jedes Jahr kommt neben dem unnützen Schrott, der nur für die Marge und den schnellen Konsum produziert wird, einiges auf den Markt, das die Welt verändern könnte. Diese Botschaften müssten genügend Leute ernst nehmen und für ihr Leben umsetzen, wir lebten in einer anderen Welt. Doch das ist für das herrschende System der Bedürfnisse überhaupt nicht gefährlich, weil es seine Bestätigung an den laufende Umsätzen erfährt, während die in solchen Büchern transportierten Einsichten reine Privatsache bleiben. Schon aus dem Grund müssen wir keine Angst vor der Maschine haben, sie transportiert lediglich Daten unter Absehung der Inhalte. Aber wir sollten uns sehr genau ansehen, wer die Daten zu welchen Zwecken einsetzt. Wenn wir Angst haben sollten, dann dass Verstümmelte und Zukurzgekommene diese Macht der digitalen Verteilersysteme für ihren Anspruch, sich die Welt ähnlich zu machen, pervertieren. Auf die Inhalte kommt es an, auf die psychischen Besetzungen. Hier ist der Weg das Ziel, wenn wir den Sinn unseres Unternehmens auf die Sinne zurückbeziehen.“

„So haben Sie für sich das Verhältnis von Macht und Informalisierung aufgeschlüsselt!“ Albach nickt nachdenklich vor sich hin: „Damit kommen wir auf eine sehr diffuse Mikrophysik der Macht. Die Gegensätze fallen weg, die klaren Grenzen werden eingeebnet, die starren Regeln entfallen –für den Einzelnen wird ein viel größerer Aufwand nötig, um auch nur die einfachsten Orientierungsleistungen zustande zu bringen.“

„Richtig, aus diesem Grund muss man die Leute beschäftigen, damit sie sich nicht der Macht bewusst werden, die ihnen das Agilitätstraining im Kontext der Digitalisierung verleiht. Das sich verjüngende Herrschaftssystem ist tatsächlich ein Resultat der Informalisierung, die Reibungsenergien in der Massengesellschaft erreichen viel zu leicht das kritische Level, schon deshalb werden sie auf Nebenkriegsschauplätze umgeleitet. Auf der einen Seite üben sich die Verantwortlichen in der Kunst, es nicht gewesen zu sein, entschuldigen sich mit Sachzwängen, auf der anderen Seite zerfallen selbst sexuelle Rollenvorstellungen. Die Formatierung des Begehrens, das schon immer das sicherste Herrschaftsinstrument war, erodiert. Das ist nicht einfach ein Verlust, sondern damit wächst unter der richtigen Förderung die Erfahrbarkeit von Komplexität. Das steigert das Lernvermögen, Erweiterungen des menschlichen Repertoires könnte systematisch genutzt werden. Wer heute über den Verlust jener Basisprogrammierungen klagt, die wir der Kirche und dem militärischen Apparat verdankten, gehorcht einem System von Behinderungen und übersieht die Chancen, die mit den technischen Anforderungen unserer Zeit gegeben sind.“

„Dann hätte ich gern gewusst, warum Gibsons Neuromancer-Trilogie gerade in den Zeiten des Terrors und der Umzingelung für Sie wichtig wurde?“

„Das steht schon alles irgendwo, Sie wollen doch unsere knapp bemessene Zeit nicht damit verplempern, dass ich Ihnen Sachen erzähle, die nachzuschlagen sind! Bei Gibson wird der Mensch selbst als Interface konzipiert, damit habe ich schon die wichtigen Voraussetzungen genannt. Dank der Repertoireerweiterung, die vom Aufenthalt im Bücherregal zur Auswanderung in Speichersysteme führte, war mir klar, warum das beeindruckende Spektakel der Terminator-Blockbuster den Konsumenten auf einen weiteren Irrweg schickte, um das Netz zum Feind zu erklären. Dabei ist schon in den Sarah Connor Chronicles zu sehen, wie die digitale Technik die unabdingbaren Voraussetzungen für einen erfolgreichen Kampf gegen die Vorherrschaft der Maschine liefert. Es ist ein leichtes, den Computer in der anthropologischen Perspektive als Werkzeug zu interpretieren und damit in den Subjekt-Objekt-Zusammenhang der Organverlängerung zu stellen. Aber das ist nicht alles, denn er kann als Aufschreibesystem einen anderen Zugang zur Wirklichkeit zur Verfügung stellen. Die Gutenberggalaxis war ein Resultat der Selbstsubalternalisierung und des Verzichts – nicht umsonst waren die Stammväter der Intellektuellen Kleriker. In den frühen Gründungsurkunden der Schrift ist die Kastration für Mathes ‚Under Cover‘ noch im einzelnen Buchstaben lesbar als Kulturarbeit – alles Begehren ist in diesen Zusammenhängen der Kastration geschuldet. Dagegen kann uns das Netz den nötigen Freiheitsspielraum zur Verfügung stellen, um Unwahrscheinlichkeiten zu ermöglichen, um in einem rechtsfreien Raum neue Entwicklungen anzustoßen. Das Recht ist alles andere eher als eine Erbschaft des Gottesstaats oder irgendwelcher heiliger Vorschriften, sondern das Resultat einer Gewalt, die nicht mehr thematisiert werden darf. Tatsächlich handelte es sich um einen ursprünglichen Gewaltakt, eine Verstümmelung, Opferung, Vergewaltigung oder Kastration, die dann durch Sanktionen zu einem positiven Recht umdefiniert werden mussten – eine späte Spielform ist noch immer jene fehlerhafte Identifikation, die zu den Varianten des Stockholmsyndroms führt. Aus diesem Grund geben uns rechtsfreie Räume erst die Chance, gewisse Basissetzungen zu variieren. Meine Auswanderung oder Austreibung aus den Geisteswissenschaften war nur ein Nebenkriegsschauplatz – tatsächlich war mir etwas anderes viel wichtiger.“

„Wir gehen vom Ergebnis aus, dann braucht es keine unnützen Spekulationen.“ Jetzt hat Wolhe wieder einen Ansatz gefunden: „Zur damaligen Zeit war bekannt, dass Sie nicht bereit waren, sich irgendwo unterzuordnen, dass Sie jede Anpassung an die bestehenden Machtverhältnisse verweigerten.“

„Richtig, so bin ich schon gestartet, aber nach den nötigen wissenschaftstheoretischen Exerzitien wurde ich ein erkenntnistheoretischer Anarchist. Noch dazu gibt es eine einfachere Lösung, die einen ganz anderen Schluss zulässt. Warum sollte ich den über Jahre aufgebauten sicheren Rückzugsort in meinem Arbeitszimmer verlassen. Warum sollte ich mich Arschlöchern ausliefern, wenn ich alles zu Hause machen konnte, ohne mich blödsinnigen und destruktiven Einflüssen auszusetzen. Dass sich mit dem Rückzug auf Eigenarbeit und Eigenzeit ein Konkurrenzsystem konstituierte, kam mir lange nicht in den Sinn. Ich relativierte mich nicht mit Bildungsbeamten, meine biographischen Ursprünge ließen nicht zu, mich mit jemandem zu identifizieren, der als Vorbild taugen sollte. Ich hatte keinen Draht zur konfliktuellen Mimetik, weil ich viel zu fokussiert auf die kreative Eigenarbeit war, außerdem das Programm verfolgte, die gemeinsame Zeit für unsere Bedürfnisse und Ziele frei zu halten. Diese Vorgehensweise schien die einfachste Lösung. Warum auch nicht – durch die Spielereien am Computer hatte ich der geisteswissenschaftlichen Nachzucht einiges voraus. Unter normalen Bedingungen hätte ich sogar Geld damit verdienen können, wenn ich den Leuten, die gerade eine wissenschaftliche Arbeit abschlossen und die mich ja häufig genug über irgendwelche Ecken mitbekommen haben, eine Druckqualität zur Verfügung stellte, die in diesen Jahren alles andere als selbstverständlich war. Ich war in der Lage DVI-Files zu produzieren, die auf jeder professionellen Linotypemaschine verarbeitet werden konnten. Nebenbei habe ich damit auf den Nenner gebracht, welche Offenheiten und Abenteuerspielplätze die Digitalisierung beinhaltet, wenn wir nicht so dumm sind, sie den Verwaltungsvollzügen zu überlassen.“