Gunar Musik

 

 

 

 

 

Literagonie

Das biomagnetische Gericht

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

MGM-Digital


Literagonie – das biomagnetische Gericht

© Iris Geiger-Musik & Gunar Musik 2017

ISBN 9781522091653 – über Amazon

 

Titelgestaltung mit einem Bild aus den 70ern

 

Teil der Galerie der Geistesblitze

 

 

 

 

 

 

 

Alle Namen dieser Selbsterlebensbeschreibung – außer denen der öffentlichen Personen – sind frei erfunden!

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Weitere Informationen unter: www.gpunkt-musik.de


Das Geheimnis der Lebenden finden wir in Kontexten, in denen die psychischen Besetzungen zu aktualisieren sind. Wir beginnen also direkt im Material der 90er Jahre und vermeiden dabei soweit es geht, irgendwelche viel jüngeren Fragen oder Schlussfolgerungen mitwirken zu lassen. Hilfreich sind dabei Andeutungen oder Ankündigungen aus diversen Texten, vor allem aus Abschweifungen und Fußnoten, außerdem  die Randnotizen zu Träumen und die Anmerkungen zur Massenunterhaltung. Damit wird es möglich, aus dem Bodensatz der damaligen Zeit, also aus den Abfällen, Querbezüge herzustellen, die näher an den Wahrheiten liegen, als die offiziellen Verlautbarungen.

Der Topos Gericht wird dazu dienen, die Position des Zeugen und die Funktion des Bezeugens in einem konkreten Sinn herauszuarbeiten. Gerade weil bestimmte Energien und Wirksamkeiten an der Erfahrung des eigenen Leibes abzulesen sind, erschließen sich vergangene Situationen, die nie aufgeschrieben worden sind. Schließlich sind von einigen wesentlichen Weichenstellungen nur willkürlich interpretierbare Bilder übrig geblieben, die von den offiziellen Urteilen überformt wurden, um ihren Gehalt zum Verschwinden zu bringen. Daneben gibt es noch Redefetzen, die von Geruchs- und Geräuschclustern umspielt werden, Filmsequenzen, die beim Zusammenstoß mit den damaligen Erfahrungen seltsame Bildwelten freigesetzt haben. Wir stoßen in diesen Zusammenhängen auf subliminale Wahrnehmungen und kontextuelle Wirksamkeiten, die auf ganz andere Wahrheiten verweisen. Von einigen der wichtigsten Situationen sind nur die Abdrücke geblieben, die sie in Träumen hinterlassen haben. Anhand dieser Materialien sind die Techniken und Strategien zu entwickeln, mit denen es möglich wird, zur Funktion des Zeugen vorzudringen. Interessant ist vor allem, wie der von außen verfügte Todeslauf abgepuffert wurde und damit zu überstehen war – und dass das keine unmaßgebliche Fragestellung ist, beweisen Ihnen die Blockbuster, bei denen es in schöner Regelmäßigkeit darum geht, eine Gruppe junger Leute in den sozialen Tod zu schicken, um dann vorzuführen, wie kreative Eigenarbeit und Zivilcourage zu einem Ergebnis führen, das keiner der verantwortlichen Krüppelzüchter so haben wollte. Wir werden uns also der Fragestellung widmen, welche Potentialität des Menschlichen unter dem Einfluss einer Katastrophenpädagogik hervortritt und wie diese für ein evolutionäres Repertoire freizusetzen ist. Dem hoffnungslosen Weltzusammenhang, in dem sich die Protagonisten zu bewegen haben, der Wirklichkeit, die über sie verfügt worden ist, entspricht das rigide Realitätskonzept von blutleeren Sozialisationsagenten – manche der philosophischen Konzeptionen, die dem Homo Clausus zu verdanken sind, wurden aus ähnlichen Zwängen geboren. Also liegt es nur nahe, die Techniken des Widerstehens an der Quelle zu studieren.

In vielen Fällen ist es möglich, psychische Besetzungen in irgendeiner Form abzugreifen und zu dokumentieren, die über eine Generation zurück liegt – vermittelt durch die Reproduktion und die Techniken des Durcharbeitens. Wir haben alle möglichen Zeugnisse, die prinzipiell stumm bleiben, nichtsdestotrotz beginnen die Quellen in den Wechselbezügen selbst zu reden. Neben einer Vielzahl alter Sicherungsdisketten, auf denen sich immer wieder Dateien fanden, die noch nicht zerschossen waren und der ersten Festplatte, die glücklicherweise nur gelöscht, aber nicht formatiert und überschrieben worden war, gab es mehrere Ordner voll  Handschriften. Wobei es ein leichtes ist, alles zurückzuholen, was einmal mit Kugelschreiber geschrieben wurde. Nicht viel schwieriger ist es, die zerstörte FAT der Sicherungsdisketten einfach zu ignorieren, um die kompletten Inhalte anhand eines Filtersystems auf einander abzubilden und alle Wiederholungen auszublenden. Warum aber irgendwann die Taschenkalender dieser Jahre in einer Mikroschrift mit Bleistift vollgekritzelt wurden, ist bereits ein Teil des Geheimnisses. Was in den Aktenordnern auf einer DIN A4-Seite stand, wurde im Fortgang der Geschichte auf die Fläche einer Zigarettenschachtel zusammengedrängt und im Laufe der Zeit begann sich der Graphitstaub zu verselbständigen. Aber was soll’s, wir haben ziemlich viel, deshalb darf ich vorschlagen, dass wir uns erst einmal der unmittelbaren Wirkung des Materials aussetzen.


Arbeit am Thanatosskop: Am 17.10.91 ruft die Debihla ein letztes Mal an, ob ich mir ihr Angebot überlegt habe? Ich weise sie neutral darauf hin, dass wir das schon geklärt haben. Für mich war das Angebot beim letzten Gespräch erledigt und die späteren Abpassversuche habe ich so geschickt umspielt, dass es zu keiner weiteren Begegnung mehr gekommen ist – wenn ich vom Fenster aus sah, dass sie die Marienstraße hoch und runter rannte, um wie zufällig auf mich zu treffen, verließ ich das Haus über den Zugang zu den Mülltonnen und ging dann durch den Hintereingang des Nebenhauses, um von dort aus meine Einkäufe zu erledigen. Sie holt kurz Luft, als hätte ich sie beleidigt, meint dann: Ist das Ihr letztes Wort? Ich sage: Ja! – ein guter Chef sagt ja. Ich bin zwar nicht ihrer, aber nachdem uns kein Geld mehr verbindet ist sie keine Gesprächspartnerin mehr. Dieses Mal krallt sich der Anruf nicht bis in die Traumzeit fest, wie bei dem Gespräch nach meiner letzten Urlaubsvertretung. Nachdem eine gewisse Zeit vergangen ist, kann sie sich nicht mehr so festsaugen, wie das ihre Auftraggeber gern gehabt hätten.

Dabei war dieser psychotische Beharrungsanspruch der Hohn, denn als sie die Leitung des Buchhandels übernommen hatte, hatte sie alle möglichen Zeichensetzungen bemüht, um mir nahezulegen, dass sie gern auf meine Mitarbeit verzichtet hätte. So ändern sich die Zeiten, damals war ich auf den Buchhändlerrabatt angewiesen, um mir die nötigen Bücher leisten zu können und übersah deshalb die kleinen Schweinereinen oder üblen Nachreden, ignorierte die ständigen Subalternalisierungsversuche– ich hatte ja nichts Besseres und bei der Menge Bücher, die ich pro Jahr verarbeitete, fiel der Rabatt schwer ins Gewicht. Statt stundenlang unproduktive Zeit in Bibliotheken zu verbummeln und mich von Leuten stören zu lassen, die ich mir nicht ausgesucht hatte, griff ich auf eine urwüchsige Form des Materialientauschs zurück und arbeitete für die Bücher, die ich brauchte, in wenig mehr als der vergleichbaren Zeit. Aber im Laufe der Jahre war immer wieder zu bemerken, dass nach einigen Wochen Aushilfe ein Schatten auf meinen Wegen lag, dass für ein paar Tage schlechte Luft zu Hause war, dass irgendwelche Aufgaben schief oder Dinge kaputt gingen: Einen Teil der bösen Wünsche, die dort für mich ausgebrütet wurden, musste das Körpergedächtnis erst einmal mitnehmen und dann in den nächsten Tagen abarbeiten.

Sie war ein Jahrgang 39, wie die beiden Professoren, die sich eingebildet hatten, mich vernichten zu wollen. Am deutschen Wesen sollte einmal die Welt genesen, der Papa ein hoher Militärbeamter. Diese Generation wusste die Farce einer Vergangenheitsbewältigung allein schon deshalb mit Bravour zu leisten, weil sie nicht weniger außengeleitet, wie in den vorangegangenen tausend Jahren, die Identifikation mit den aktuellen Wertsystemen einfach übernahm. Im Gefolge eines Wirtschaftswunders mussten sich diese Beamtenkinder nur noch bewähren: Wer Vespers Reise liest, kann wie nebenbei auf die Idee kommen, dass der symbolische Tausch diese von der SPD weichgespülten Naziableger in posttotalitären Zeiten für das Verbrechen der Elterngeneration mit einem zarten Elend schlagen würde – ihr Motor war die dauernde Selbstdementierung, sie wurden antriebs- und beziehungsgestört. Nach einem Studium der Theaterwissenschaft und Pädagogik hatte diese asexuelle Bohnenstange mit geistig Behinderten gearbeitet, wie stimmig das alles war: Wie nebenbei hatte sie gelernt, auf der performativen Ebene Manipulationstechniken einzuüben, deren Impuls wie von alleine übersprang, ohne dass der Umweg über das Wort nötig war – für das, was sie durchzusetzen hatte, gab es keinen Diskussionsbedarf. Während im politisch-philosophischen Kontext an einer Theorie der Kommunikationsgemeinschaft gearbeitet wurde, übte sie sich im Auftrag an den Techniken, mit denen ganz zynisch über einen Menschen, über einen Lebenssinn, über einen Glücksanspruch verfügt werden konnte. Fast zwingend hatte es sich ergeben, dass sie in Bonn gelandet war, manchmal fragte ich mich, ob die Strafe dieser Generation darin bestand, dass alles, was sie in Angriff nahmen, und wenn es noch so gut gemeint war, verseucht wurde durch die Schlagschatten der Taten ihrer Erzeuger.

Auch bei diesem letzten Anruf ging es nicht darum, weiterhin über eine zuverlässige Vertretung für den Packer und Boten zu verfügen. Sie hatte mir, als ich meinen Abschied angekündigt hatte, eine Erhöhung auf achtzehn Mark die Stunde angeboten und die Sicherheit, dass ich jedes Jahr so viele Urlaubsvertretungen machen konnte, dass ich meine Schreibe und die VHS-Kurse pflegen konnte. Das war eine Auftragsarbeit, die Krüppelzüchter von der Uni wollten weiterhin die Möglichkeit haben, Einflüsse auszuüben. Kaum war diese Nazibrut mit sozialdemokratischen Firnis in die Jahre gekommen, um Machtpositionen einzunehmen, kamen die menschenverachtenden Kontexte ihrer Aufzucht und Hege immer deutlicher zum Vorschein. Hinter einer kommunikativen Fassade verbargen sich fiese Manipulationen, eine pseudohedonistische Lebensanschauung hatte zu kaschieren, dass die kleinen Verführungen vor allem dazu dienten, Beziehungen zu stören und Misstrauen wie Zwietracht zu säen – eine Ehe oder ein Liebesverhältnis stand für solche Missgeburten in einer klaren Konkurrenz zu ihrem Machtanspruch. Und wie ich dann am eigenen Leib erfahren durfte, beteiligte sie sich mit all ihren Möglichkeiten an einer bösartige Intrige, mit der eine komplette Vernichtung minutiös vorbereitet wurde. Nachdem ich mich während der Aushilfsjobs in den vergangenen Jahren als weitgehend immun gegen ihre Vorahmungen erwiesen habe, hatte sie einen besonderen Ehrgeiz entwickelt, die Strafaktion einiger Literaturwissenschaftler zu unterstützen, die überhaupt nicht einsahen, dass ich mich den universitären Einflüssen entziehen wollte.

Ich hatte mitbekommen, wie dieses Bonner Gezücht in äußerster Servilität eine Entwicklung begleitete, in der die Ehe der früheren Besitzer kaputt ging – und das schien mir sowas von stimmig, wenn ich beobachtete, auf welchem Sexualneid und welcher Partnerverleugnung die Techniken ihres Machterwerbs beruhten. Ich war in diesem Laden schon vor ihr da gewesen, als die Sekretärin Harpprechts durch die Vermittlung von Grass als subalternste Moneypenny Assistentin der Geschäftsleitung werden durfte. Während ich jobbte, hatte ich regelmäßig mitbekommen wie die beiden jeden Tag ausführlich telefonierten und Moneypenny für lächerliche Kleinigkeiten positive Verstärkungen brauchte, Tipps bekam und durch Harpprecht stabilisiert wurde. Ich habe nie verstanden, warum jemand, nur weil Grass ein gern gesehener Gast war, so dumm sein konnte sich einfach selbst zu entmachten, ein paar Jahre später war die Chefin, mit der ich mich gut verstanden hatte, an Krebs gestorben – einen Kommentar ihrer frisch gebackenen Geschäftsführerin hatte ich ein paar Tage nach der Beerdigung aufgeschnappt: Wie absurd das sei, dass so jemand bis zum letzten Moment noch auf eine Heilung hoffe, an ein Wunder glaube. Aus ihr sprach das personifizierte Realitätsprinzip, hinter dem sich die Strategie der vergangenen Jahre nur mühsam kaschieren konnte, sie war am Ziel ihrer Wünsche angelangt. Das war jetzt acht Jahre her, ich hatte dieser Psychotikerin im Sommer bereits angekündigt, dass die Vertretung für den August die letzte sein werde. Schon diese Ankündigung setzte anscheinend eine gewaltige Negation frei, denn als ich am letzten Tag Ende Juni nach Hause ging, fiel direkt neben mir das Gerüst vor einer Bank um, ein Arbeiter begann vor Schmerz wie besessen zu brüllen. Ich fühlte mich nicht bedroht, aber es war mir klar, dass die bösen Wünsche, die die Debihla ausgebrütet hatte, die sie jeden Tag mit den kleinen Bosheiten und Provokationen auf mich umgeleitet hatte, hier an einem Unbeteiligten entladen und abgeleitet worden war. Und das war nicht der einzige – vermutlich hatte ihm irgendetwas an mir nicht gefallen und die Negation lieferte eine Standleitung. Das Spiel hatte sich mit der Zeit der Urlaubsvertretungen gesteigert, manchmal überlegte ich mir, ob die durchschlagenden Wirkungen, die auf der Uni zustande gekommen waren, vielleicht nur als Resultat dieser fortwährenden Behinderungs- und Ausbremsversuche zu erklären waren. Ich lief wie ein Kondensator rum, und in der Regel kam es zu einer Entladung, wenn irgendeine negative mimetische Leitung entstand, Neid oder Rivalität, eine abfällige Bemerkung. Es war zu sehen, wie die Leute mehr oder weniger schnell dafür bestraft wurden und ich lernte, dass das umso stringenter klappte, umso freundlicher und hilfsbereiter und gutgelaunter ich war. Notwendig war eine harte Disziplin, und die gute Laune war auf einmal eine Überlebensgarantie, Optimismus eine Waffe, manche der Quälgeister wurden panisch, wenn ich sie nur anlachte – der kleine, liebe, weiche und kommunikative Musik wurde eine Charaktermaske, hinter der ein harter militärischer Autist entstand; er schaute irgendwann nicht mehr nach links oder rechts, obwohl er einmal aus einer alternativen linken Ecke gekommen war. Der Ich marschierte kompromisslos vor sich hin auf ein Ziel zu und hielt die Spannung, es konnte nur besser werden. Natürlich hatte Moneypenny aufgrund der bösen Wünsche irgendwann einen schweren Autounfall, natürlich gingen Sachen schief, als sie der Uni willfährig sein wollte und sich an der bereits in Bonn praktizierten schwarzen Magie versuchte, um meinen Kontext zu verhexen. Als sie es nach meiner Promotion für nötig befunden hatte, ihren früheren Chef zur Verstärkung anzufordern, kam der mit einer Sekretärin im Gefolge, die eine jüngere Ausgabe von ihr hätte sein können und der böse Wunsch im Hintergrund sorgte für das nächste Opfer: Die Frau hatte auf der Autobahn einen so schweren Unfall, dass sich Harpprecht eine neue Sekretärin suchen musste. Es wäre leicht zu argumentieren, dass diese Krüppel sich nur nichts hätten einfallen lassen dürfen, und ich hätte nie die Chance gehabt, mich bewähren zu können – aber so lief die Entwicklung nicht. Die Auftraggeber wollten mich abwürgen, in jeder Hinsicht, es sollte nicht einmal ein Aushilfsjob als Packer im Buchhandel übrig bleiben, und das stimmte mit dem Programm der Debihla überein, die sich im Laufe der Jahre gern von mir getrennt hätte, wenn sie nicht davon ausgegangen wäre, dass ich durch ein paar Profs gefördert wurde. So haben sich die Zeiten geändert, es war schon lange nicht daran gedacht, dass ich mich bewähren konnte und eben deshalb war dies für mich die überzeugendste Handlungsanweisung. Das Trauerspiel war so übermächtig und umfassend inszeniert worden, dass sie darauf setzten, unsere Möglichkeiten auf null zu reduzieren. Ich sollte selber sehen, wie hoffungslos es aussah und aufgeben. Glücklicherweise hatte ich den ersten sozialen Tod vor über zwanzig Jahren hinter mich gebracht: Schon damals hatte einer gemeint, er könne die Regieanweisungen vorgeben, und ich müsse dann einfach wie eine Schachfigur alle geplanten Züge mitmachen. Nun schreckte mich die Passage durch die Sinnlosigkeit und das gewandte Balancieren auf einer imaginären Grenze nicht mehr. Mancher lernt eben aus der Erfahrung, Weiterbildung ist möglich – anderes als bei Behördenkrüppeln, die mit einem enormen Aufwand an Steuergeldern dafür sorgen können, den Einspruch der äußeren Wirklichkeit solange zu verleugnen, bis sie dann in einer fraglichen Situation feststellen müssen, dass das Realitätsprinzip sie platt macht. In den Traumwelten in der Zeit dieser Telefonate war mir präsent, dass ich das nächste Mal in der Intensität eines Wirbelsturms oder einer Feuersbrunst kommen musste.

 

17.11. Heute sind es wirklich siebzehn Jahre, keiner hatte uns länger als vier Wochen gegeben. Analogien drängen sich auf: Deine Mutter musste mit siebzehn ein Kind haben, meine Alten brauchten siebzehn Jahre, um ihre marode Ehe endlich für tot zu erklären – und wir brauchten eine ebenso lange Probezeit, außerdem die Verlegenheit, dass du seit deiner Kündigung nicht mehr über die VHS krankenversichert warst und uns die Kosten für deine freiwillige Versicherung auf die Dauer in Verlegenheit brachten, bis wir uns für eine Heirat entscheiden konnten.

27.11. Mittlerweile laufen über zehn Uni-Bewerbungen und naturgemäß sieht das alles sehr langwierig aus – so lahmarschig, dass ich in den vergangen Jahren nichts damit zu tun haben wollte. Wenn man mich in Ruhe gelassen hätte, hätte ich gar kein Bedürfnis gehabt, mich für irgendeine Beamtenstelle zu bewerben und weiterhin dank irgendwelcher Hilfsarbeiten die Gelegenheiten genutzt, unverkäufliche Texte zu produzieren. Wichtig ist vor allen Dingen, dass die Informationen aufgrund der Bewerbungen zirkulieren, denn das widerspricht den Versuchen, mich für tot zu erklären. Um auf dem Weg, der vielleicht gar kein Ziel haben durfte, nicht einfach abzusterben, haben wir angefangen, Werbebüros anzuschreiben, die gerade in der Zeitung einen Texter suchen. Heute ist ein Termin bei einer Agentur, die unter die Topfifty der BRD gehört. Um 15 Uhr ist der Termin, um 11 Uhr ruft eine Piepsmaus an, der Artdirektor, der das Gespräch führen solle, sei noch in Hamburg und werde vermutlich nicht pünktlich ankommen, ob wir den Termin verschieben könnten. Dies hat mal nichts mit den Paranoisierungsversuchen unserer selbsternannten Gegner zu tun. Die Leute scheinen so subaltern, dass sie mich auf den ersten Rutsch nicht aushalten, also verschieben wir eben.

03.12. Nächster Termin, wir haben mittlerweile sogar eine ordentliche Hose bei C&A gekauft. Morgens beim Spaziergang in den Parks muss ich zweimal pinkeln, das ist die Nervosität: Wenn es mir gelänge, in Werbeagenturen unterzukommen, hätte ich den Einflussbereich der Uni hinter mir gelassen, außerdem war das eine Nische, in der man mit Einfällen sogar Geld verdienen konnte. Wir essen etwas früher, ich mache noch ein bisschen autogenes Training, dann fahre ich mit dem Taxi nach Plieningen, wundere mich, was auf der Strecke Degerloch-Möhringen in den letzten zwanzig Jahren alles gebaut worden ist, erkläre dem Taxifahrer, dass ich hier früher regelmäßig mit dem Mofa rumgefahren sei und mich wundere, wie schnell so ein paar kleine Vororte mit Weiden und Streuobstwiesen ein ganz anderes Gesicht bekommen hatten. Der Fahrer denkt, ich sei lange in einer anderen Stadt gewesen, und ich lasse ihn in dem Glauben, erzähle von Hamburger Vororten, weil ich ihm ja nicht sagen kann, dass ich die meisten Jahre, seit die frisierte Motoguzzi den Geist aufgegeben hatte, in einem Bücherregal verbracht habe. Er fährt mich in Plieningen die Hauptstraße runter und wieder hoch, wir entdecken kein Werbebüro, lesen irgendwann die Hausnummern ab und er hält vor einer auf den ersten Blick alten Mühle, da ist immerhin die richtige Hausnummer und bei genauerem Hinblicken hat dieses jahrhundertealte, verwinkelte Gemäuer einige postmoderne Elemente integriert. Ich läute und nachdem ich mich der Videokamera vorgestellt habe, komme ich durch eine in einem verzogenen Scheunentor eingelassene, kaschierte Edelstahltür in den Rezeptionsbereich. Dort müssen ein paar fesch aufgemachte Mäuse so tun, als bemerkten sie mich nicht und flirten mit zwei Haushandwerkern oder Kabelträgern. Ich darf noch etwas Geduld haben und in Designermöbeln zwischen schwarz gewordenem Eichengebälk warten. Endlich kommt ein junger Typ im Party-Outfit, bittet mich in einen kleinen Besprechungsraum. Ich bin 35, der Artdirektor, dem ich gegenübersitze, ist vielleicht fünf Jahre jünger, ich muss nicht mal erzählen, was ich bisher gemacht habe. Er versichert mir, dass alles was er hier macht, von mir genauso gemacht werden könnte. Fraglich sei eben eine freie Tätigkeit, sie hätten lieber jemanden fest unter Vertrag. Ich erkläre ihm, dass ich mir das durchaus vorstellen könne, wenn die Bedingungen stimmten. Wenn ich die Zeit dazu hätte, weiter am nächsten Buch zu arbeiten, wäre das gar kein Problem. Er behält die Werbezettel unserer Bücher und verspricht, er werde mir einen kleinen Auftrag zuschustern. Nach der Resonanz können wir uns dann über weitere Konditionen unterhalten. Ich bekomme eine Hochglanzbroschüre der Agentur mit, einige der Produktpräsentationen kenne ich sogar. Die abgebildeten Werbeleute kommen mir wie aufpolierte Nullen vor: Schmuck, Schminke und Designeranzüge, aber ungelebte Kindergesichter. Als ich nach Hause fahre habe ich das Gefühl, das ist geschafft, jetzt musste nur noch die Aufgabe kommen, der Rest ginge dann allein. – Es sollte allerdings noch ein paar Jahre dauern, bis sich der nächste Kontakt zu dieser Agentur ergab. Dann sollten sie bei mir die Anzeigen für die ‚Miss Saigon‘ schalten und die von mir erstellten Promotions zur Korrektur frei Haus geliefert bekommen.

04.12. Schon am nächsten Tag kommt ein Anruf, ich denke erst, es ist das Werbebüro. Eine schmierig fette, leicht angesoffene Stimme, die ein ganz schönes Machtlevel rüberbringt, den Namen des Typs verstehe ich nicht. Während des Gesprächs beginnt mein Solarplexus zu strahlen, der Typ sitzt in irgendeinem Gründungsrat und möchte mit ein paar anderen Autoren aus der Ex-DDR verhindern, dass die CDU das ehemalige Becher-Literaturinstitut kaputt verwaltet und abwickelt. Sie haben beschlossen, dass am ehesten ein junger Autor etwas in Bewegung setzen kann. Ich dachte an den ‚Eulenspiegel‘, weil ich den Leuten ein Exemplar des ‚Altpapiers‘ zugesandt hatte, aber die hatten wohl eher das Bedürfnis, über meine nichtvorhandenen Einflüsse an Leser im Westen zu kommen. Der Typ möchte sich mit mir treffen, um mich auf das Gespräch beim Minister vorzubereiten, sie haben sich aufgrund des ‚Altpapiers‘ auf mich geeinigt – aber zu allererst müsse er mich warnen: Ich habe es dort mit Verbrechern zu tun! Ich erwidere, dass das hier nicht anders sei, ich habe seit Jahren nur mit Verbrechern und Gestörten zu tun. Er wiederholt seine Stichworte noch einmal in einer variierenden Reihenfolge und kündigt an, dass er einige seiner Bücher schicken wird, damit ich einschätzen kann, mit wem ich es zu tun habe. Wenn ich alles gelesen habe, setzen wir uns an einem Wochenende zusammen, das Treffen beim Gründungsrat ist auf Mitte Januar geplant. Wenn ich nur von der Stimme ausgehe, kann ich das Projekt einfach vergessen, der klingt wie ein Wichtigtuer und Schwätzer – wenn ich auf das Summen in meinem Bauch höre, ist da was Größeres im Busch, also wird vielleicht mehr in Bewegung zu setzen sein. Nach dem Gespräch berichte ich kurz, was der Typ erzählt hat, was für Chancen auf einmal wieder drin sind. Allein die Vorstellungen machen totale Hitzewellen – ich gehe ins Schlafzimmer und mache eine Weile autogenes Training.

12.12. Das Päckchen mit den Büchern und dem Begleitbrief von Gert Neumann ist da. Ich beginne gleich zu lesen, gebe den Brief mit einem gewissen Schaudern an dich weiter; er fasst nochmal zusammen, was den Inhalt und Hintergrund des Telefonats ausmachte. Und du lachst bei der Lektüre, ich weiß nicht, ob dies Schadenfreude ist. Neumann kommt mir vor wie ein Umstandskrämer, ich sehe sprachliche Ähnlichkeiten zu Kafka, und er kommt mir ähnlich unerotisch humorlos vor. Aber es tut sich etwas, vielleicht haben wir in den nächsten Wochen ein paar Sorgen weniger.

Neumann rief als Autor und Kollege an und hatte es sogar nötig, sich anzubiedern, indem er auf biographische Parallelen verwies. Er tat so, als sei die Aufmerksamkeit für Musik nur auf seinem Mist gewachsen, aufgrund der wenigen Texte, die ihm vorlagen. Aber gleichzeitig gab er zu verstehen, dass er in Abstimmung mit dem Gründungsrat handelte, dass es kein Gespräch unter Gleichwertigen war – auch wenn er ständig betonte, er suche nach dem adäquaten Rahmen, in dem sich ein Gespräch entfalten und den eigenen Gesetzen folgen könne –, sondern alles darauf angelegt war, mich zu testen, meine Eignung oder mein Ungenügen zu erweisen. So war schon die einfachste Rahmenbedingung festgelegt: Biederte ich mich an und zeigte damit jene Subalternität, die mich für die Leitung eines Instituts als ungeeignet erweisen würde. Dieses Spiel zog sich vom ersten Anruf über den Besuch bis zum Abwiegeln und Vertrösten nach der Vorstellung der Konzeption hin: Baue ich auf mein Können oder setze ich auf Vitamin B, weiß ich selbst, was ich machen will oder gehöre ich zu den Leuten, die keinen klaren Kurs fahren können, weil sie auf Mauscheleien setzen und sich mit einer klaren Zielvorstellung nur blamieren würden, weil sie ja Zugeständnisse machen müssen. In diesem Rahmen einer Challenge ist das Timing zu bedenke; Neumann geht mit Terminen und Absprachen um, als sitze er in der angeblich so hilflosen und auf die Unterstützung anderer angewiesenen Position einer schizophrenogenen Mutter, die aufgrund ihres Machtbedürfnisses jedes klare Ordnungsbedürfnis ihrer Sprösslinge unterläuft, um dann die Sicherheit des Sagens zu haben. Allerdings war Neumann ein Mann des Wortes, seine Urteile hatten Macht, der Magus des Ostens war nicht auf meine Duldung oder Unterstützung angewiesen, sondern er hätte gern wirkende Worte gesprochen.

Vor acht Tagen hat er angerufen, um unter anderem seine Bücher anzukündigen, aber er brauchte vier Tage, um den Text aufzusetzen und das Päckchen dann zu packen. Er hat also Wert darauf gelegt, uns zusätzlich zur Postlaufzeit warten zu lassen – und die spätere Erzählung anlässlich seines Besuchs, er habe einer Frau aus einer Zeitungsauslieferung, die ihn früher immer mit Artikeln versorgt hatte, eines seiner Bücher versprochen und das in einem Aufwasch dann gepackt und verschickt, war ein bisschen dick aufgetragen und schlecht motiviert: Als wollte er raus kitzeln, dass wir uns ärgern, weil wir unter ferner-liefen einsortiert wurden, auf der Ebene von Zeitungsausträgern. Als habe er schon den Auftrag gehabt, uns misstrauisch zu machen und der Entfremdung zu unterstellen, weil das Buch und der Begleittext verspätet rausgingen, oder als habe er den Ehrgeiz, uns zu subalternisieren: Auf seinen Scheiß warten zu müssen.

Das Päckchen ist ein klares Signalsystem: Ein viel zu großer und aufgrund der Kleber mindestens viermal gebrauchter, gefütterter, blassbrauner Umschlag, um den ein von einem Unwahrscheinlichkeitsakrobaten geknoteter roter Bindfaden baumelte. Der war so locker geschlungen und lose verschnürt, dass es an ein Wunder grenzte, als der Strick bei uns angekommen war – begleitet von einem Umstandskrämerbrief, der manchem berühmten Lungenschwindsüchtigen alle Ehre gemacht hätte. Während beim ersten Telefonat der Ehrgeiz angekurbelt wurde, so eine Stelle haben zu wollen, hieß es mehrfach: Wir müssen uns unbedingt treffen! Vom Gefühl her war das auf die nächste Zeit bezogen, auf jeden Fall vor Weihnachten – aber das Päckchen deutete schon an, dass der Mann des Wortes diverse Antriebsstörungen haben musste, und als die Einladung dann wirklich kurz vor den Feiertagen kam, war klar, dass die Sache irgendwann im neuen Jahr laufen würde. Die Terminankündigung der Sekretärin Delpren aus dem Ministerium nahmen wir noch nicht ernst. Und Neumann lässt uns warten, obwohl er angerufen hat, weil ihm die Sache derart unter den Nägeln brannte, dass jedes seiner Worte schwergewichtig und überenerviert daher gestapft kam. Er lässt uns warten, als hätten wir ihn um einen Gefallen gebeten und hatten uns nun als Bittsteller gedulden.

 

>>Berlin, den 8. Dezember 1991

Lieber Gunar Musik, hier meldet sich also der möglicherweise anstrengende Anrufer. Im Moment geht es darum, dass Sie aus dem Text erfahren, wer ich bin, wenn das so geht. Ich habe in der DDR die Bücher „Die Schuld der Worte“, „Elf Uhr“ und „Die Klandestinität der Kesselreiniger“ geschrieben. Veröffentlicht im S. Fischer Verlag. Um mit der DDR klarzukommen, bin ich seit 1969 als Schlosser arbeiten gegangen. Nach dem Zusammenbruch erkannte ich, dass es nicht die Gründe bei S. Fischer waren, meine Texte zu veröffentlichen, die ich hinter der Mauer zu hoffen hatte. Ich blieb beim Verlag, aber brachte das Buch „Übung jenseits der Möglichkeit“ in einem neu sich gründenden Verlag heraus. So lebt meine Arbeit in freier Schwebe, sag ich mal. Das Gespräch über den Umgang mit den Verhältnissen der DDR Diktatur, von dem Sie vielleicht etwas mitbekommen haben (Biermann, Fuchs, Rathenow in den letzten großen Artikeln aller überregionalen Zeitschriften), verheert das zu führende Gespräch über das Kommende..., denke ich wohl nicht allein. So habe ich mich zu dem Text „Sprechen in Deutschland“ entschlossen. Ich wusste, dass der Text wohl nicht gedruckt werden würde –, und habe nun aber schon mit der Macht der Bedeutung der Kennzeichnung dieser neuen Zensur zu tun. Mich hat dieser Effekt überhaupt nicht interessiert und er interessiert mich überhaupt nicht –, doch es gibt Leute, die wollen die neue Zensurtatsache nicht in der Gegenwart. Der Text, freilich, kann dafür nicht wieder verschwinden. Und, so bleibt mir nur, wie schon gewohnt, den Effekt nicht zu lieben und mit ihm allein umzugehen: denn ich will in einem anderen Raum schreiben: können. Damit Sie wissen, wovon ich zu sprechen versuche, schicke ich Ihnen das Buch „Elf Uhr“, das nach dem Zusammenbruch in der Noch-DDR erschien. Es war aber zu spät, und der Verlag dachte nur an sich selbst. O.K. Wenn ich nicht irre, kommt 1992 das Buch in Frankreich heraus.

Zu unserer Begegnung sehr schnell: ich habe Ihren Text also unter 33 Bewerbern gefunden. Er ist mir sehr aufgefallen, aber ich habe mir den Raum für Zweifel auch offengelassen. Aus bestimmten Gründen, die ich Ihnen erklären kann, habe ich mich etwas positiver auch für einen etwa gleichaltrigen Mann aus Berlin entschlossen. Mit ihm bin ich im Gründungsrat, freilich auf schwierige Weise, durchgefallen. Ich bekam jene Ihnen vielleicht auch bekannte Röte ins Gesicht, als man mir einzelne Sätze als leere Sätze aus der Bewerbung vorlas. Ihre Bewerbung konnte ich halten. Ich sagte etwa, dass dieses Institut nur weiterbestehen soll, weil es nicht inmitten bestimmter Aufmerksamkeit nach dem Zusammenbruch der DDR geschlossen werden kann. Das wäre aber eine Gelegenheit, durch den zu berufenden Gründungsdirektor eine Konzeption zu legen, die weniger zynisch wäre. Deshalb dächte ich an Sie; denn es sei meiner Meinung nach in Ihrer Generation zu vermuten, dass es Leute mit dem Entschluss zum Handeln gäbe. Notwendigkeiten seien genug vorhanden und in jeder Ansicht bekannt. So kam es also zu dem, erbetenen, Auftrag, Ihrer Bewerbung genauer nachzugehen. Die anderen Bewerbungen waren ja übersichtlich, weil die Leute bekannt waren..., oder sie waren eben nicht aufgefallen. Was sich in dieser Stille möglicherweise für Verbrechen des Gründungsrats verbergen, wird wohl unbekannt bleiben. So dass wir uns also treffen müssen..., und so weiter. Sie lesen meinen Text, bitte, und sehen in das Buch. Wenn Sie thematisch Lust haben, dann sprechen wir. Ich bin ein sogenannter verfolgter Autor der DDR, aber meine Position liegt anders, wie Sie sicher sehen. Es ging mir darum, kein Opfer zu werden, sondern zu verstehen, was eigentlich vor sich geht, und eine Antwort durch das Spiel der Menschen, die sich Opposition und Macht nennen, hindurchzuführen: die am Ende des Spiels, hoffentlich, übrigbleibt. Im Moment hat man noch ziemlich Respekt vor meiner damit natürlich verbundenen Widerstandsleistung. Aber, Sie sehen ja, wo das damit berührte Gespräch hinwill. Was die Oppositionsreaktionäre erreichen werden, hängt letztlich von uns ab. Ich rechne also auf Sie, und hoffe, dass es uns gelingt, Ihnen die Möglichkeit zur Arbeit zu geben. Aus der Ferne werden schließlich Hans Mayer und Walter Jens und Baumgart diese Entscheidung beeinflussen. Vielleicht ist es auch möglich, diesen Posten auf zwei Personen zu verteilen. Ich will jedenfalls versuchen, in dieser Sache etwas richtig zu machen. Wenn ich den Eindruck habe, Sie müssten zu einer Meinung gekommen sein..., rufe ich Sie wieder an. Dann verabreden wir ein Treffen. Natürlich reicht die Zeit nicht, uns kennen zu lernen. Aber, wir nutzen die Intelligenz der ersten Begegnung, um zu einem Entschluss zu kommen. Sie müssen dann etwa Mitte Januar in Dresden sein, um mit einem brillanten Auftrittseinfall den Posten zu bekommen.

Soweit, so gut. Hier ist also der Text und dort das Buch, das auch bei S. Fischer erschien. Es ist kein Erfolg im Verkauf, aber sehr bekannt unter Leuten, die es gelesen haben.

Ich grüße Sie herzlich, Ihr Gert Neumann<<

 

13.12. Der Termin in einem zweiten Werbebüro. Das hatten wir schon vor vier Wochen vorbereitet, die ziehen um und wollen sich personell erweitern. Sie brauchen einen Texter, aber auch jemand für Kundenbetreuungen und Messeauftritte. Ich gehe hin, bin aber mit dem Kopf nicht mehr richtig bei der Sache – mache dann aus, dass ich mich nach dem Abschluss des Umzugs im Januar wieder melden werde.

Am 20.12. kommt die Einladung für das Gespräch beim Gründungsrat. Bisher hatte ich noch den Vorbehalt, dass Neumann ein Wichtigtuer sein könnte und es vermutlich nicht soweit käme. Mit der Einladung des Ministers Meyer – schon wieder ein Meyer, der letzte war kollabiert, als du den von mir aufgesetzten Beschwerdebrief über einen Schattenkaiser vor dem Direktor der Volkshochschule rechtfertigen solltest; diese Schweine verwickelten einen in Todesrituale und waren dann empört, wenn die von ihnen freigesetzten Virulenzen auf ihrer Seite einschlugen. Der Minister hat sicherheitshalber nicht selbst unterschrieben, nur eine Fotokopie schicken lassen, in der das Datum von Hand eingefügt worden ist – aber das stört mich nicht, mir reicht schon der offizielle Briefkopf –, damit steht fest: Ich habe einen Monat Zeit, um aus dem Philosophischen Sperrmüll die wichtigen Thesen rauszuziehen und zu einer Konzeption zu komprimieren. In dem späteren Gespräch deutet er an, dass das Datum unserer Einladung durch den Gründungsrat offengelassen worden war und die Sekretärin Neumann noch am 18.12. angerufen habe, ob man Musik einladen solle – und der Brief, den wir kurz vor Weihnachten bekamen, war nach dem 18. aus dem Computer gelassen worden... War das eine Entnervungsstrategie, um dafür zu sorgen, dass ich gar nicht ankommen sollte oder war das der Hinweis, dass nach dem Neumannbesuch die Entscheidung schon weitgehend pro Musik ausfallen sollte? Wir hatten Neumann aufgrund seines Drückeranrufs vor Weihnachten erwartet, aber noch an den Feiertagen beherrschten Fixer die Straßen in unserer Umgebung, von Neumann keine Spur.

Das Jahr geht zu Ende, wir feiern deinen ersten Geburtstag als verheiratete Frau, vorsichtig und recht verhalten, schon die Geburtstage waren in deiner Familie sehr ambivalent besetzt und über die Heirat hatten wir keinen informiert. Aber niemand hustet dazwischen und nichts geht schief.

 

Das Jahr 92 lief gemächlich an. Ich arbeitete täglich an der Konzeption und erweiterte wie nebenbei das Manuskript. Wir gingen ausführlich spazieren, träumten davon, dass die Geschichte in  Dresden klappen würde, überlegten uns bei manchen Straßen, manchen Häusern, ob uns so etwas gefallen könnte, waren nicht mal wählerisch, nur froh, dass sich die Chance aufgetan hatte, dieses Schrotthaus hinter uns zu lassen. Das war eine Perspektive, die lächerliche Hausmeistertätigkeit und die damit verbundenen Quälgeister in absehbarer Zeit vergessen zu können – vor über zehn Jahren hatte uns ein Galerist, dem wir die Sorge um einen seiner gestörten Köter abgenommen hatten, diese Wohnung vermittelt; kurze Zeit später war die Galerie pleite und er versuchte mit Nachtdiensten und Industriebewachungen einen enormen Schuldenberg abzubauen: Manchmal hatten wir schon überlegt, dass dieser Mietvertrag dem Signifikantennetz eines Bankrotteurs unterstand und mit uns eigentlich gar nichts zu tun hatte, aber anscheinend mit dazu beitrug, dass wir mit gezinkten Karten spielen konnten – die Hausmeisterwohnung hatte mich gegen die erbärmlichen Intrigen der Unikrüppel relativ abgeschirmt, während ich im Gegenzug die Demütigungen von Leuten parieren durfte, für die ein schlichter Uniabschluss schon jenseits ihres Vorstellungsvermögens lag. Einmal schauten wir uns am Kräherwald die Villen genauer an, seit vielen Jahren waren wir mit den Hunden an der Feuerbacher Heide entlang gelaufen, ohne sie je zu beachten, wussten gerade mal, dass eine immer wieder für Dreharbeiten des Süddeutschen Rundfunks zur Verfügung stand. Das ging noch auf Informationen aus den Siebzigern zurück, überlagerte sich mit den Erzählungen eines schwulen Kameramannes. In einem Tatort, von dem du mir erzählt hattest, führte die Willy-Reichert-Staffel nicht auf die Karlshöhe, sondern zum Killesberg. Welch eine Verbindung, an dem Stäffele wohnte der Literaturprof, dem ich einen Korb gegeben hatte, und in einer der Villen an der Feuerbacher Heide war die Verwaltung der Fachhochschule für Bibliothekswesen untergebracht – die wir uns etwa wie das Literaturinstitut vorstellten. Es sind die Möglichkeiten, die einen am Leben halten. Zu zweit planen zu können, Projekte zu entwerfen, an einen Umzug, ein neues Betätigungsfeld denken zu können, machte den toten Chow-Chow und die damit verbundenen Erfahrungen vergessen; es weckte neue Lebensgeister. Das eine Werbebüro hatte ich vertröstet, das zweite ließ mich warten, ein drittes hatte gerade keine Vakanz, wollte meine Unterlagen aber in Petto behalten, und die anderen Bewerbungen liefen vor sich hin. Es wurde Zeit, dass sich etwas in Bewegung setzte, ich musste sonst spätestens Anfang März einen Aushilfsjob gefunden haben, um die Zeit weiter zu strecken. Noch vor ein paar Wochen habe ich notiert: Wenn wir verzweifelt sind, entdecken wir eine natürliche Verwandtschaft mit dem Wahnsinn, der Wahnsinn ist die Abwesenheit des Werks, der Mangel an Objektivierungen des Grauens. Aber was sollte es, solche Einsprüche der bürgerlichen Prosa verblassten gegenüber den Möglichkeiten, die sich aufgetan hatten. Bis zu Neumanns Anruf hatte ich immer wieder das Gefühl, dass uns die Zeit davon lief. Und mittlerweile produzierte ich wie in meinen besten Zeiten, wachte manchmal nachts auf, um einen Einfall zu notieren, der dann am nächsten Tag ausgearbeitet wurde und noch ganz andere Assoziationen freisetzte. Das Manuskript Philosophischer Sperrmüll war auf einmal 280 Seiten stark, die Einfälle flogen mir nur so zu, dank des Spannungslevels verwandelte ich mich wieder in einen Schnellen Brüter. Wer in die Gelegenheit versetzt wird, sich bewähren zu dürfen, nachdem über sieben Jahre versucht worden war, ihn in die Verzweiflung oder den Wahnsinn zu treiben, stellt fest, dass ihn die Einfälle zu suchen beginnen wie ferngesteuerte Projektile. Noch dazu waren manche der alten Texte oder Kärtchen aus meinem Zettelkasten nach geringfügigen Änderungen auf einmal wie gemacht für den neuen Zusammenhang.

Mit Hilfe eines Literaturinstituts musste ich mir keine Gedanken mehr über einen zukünftigen Verleger machen – was war das für ein unnützer Hickhack in den vergangenen Jahren gewesen, ich hatte nur mit Erben zu tun gehabt, sprachgestört, impotent und von Zwangsneurosen zerfressen, aber das finanzielle Polster sollte wenigstens gewährleisten, dass sie die Macht ausüben konnten –, sie mochten keine Ahnung haben und in Ermanglung jeglicher Spur von Einfühlungsvermögen die besten Textteile streichen wollen, aber sie hatten ein Gespür dafür, wie sie einen maximal stören und entmutigen konnten.

Wenn ich mein Thanatoskop einschaltete und eine Niete nicht völlig ausschließen wollte, konnte das sogar heißen: Nach meinem Auftritt vor dem Gründungsrat und mit den dort vorgestellten Thesen musste ich mir selbst nach einer Ablehnung keine Gedanken mehr über einen Verleger machen – ich gehe davon aus, dass das Verfahren in der ZEIT dokumentiert wurde. Das hieß für mich, dass diese Woge genutzt werden wollte, ich wusste ja nicht, wie lange sie mich trug, aber das, was mir jetzt zuflog, musste einfach festgehalten werden und wenn es noch so flüchtig geschah. Ich wusste, dass mit einer Handvoll dieser Brosamen ein ganzes Schriftstellerleben ernährt werden konnte, das Eschatometer war stetig angestiegen und verharrte nun geduldig im letzten Drittel der Skala. Noch dazu war ich optimistisch, was Kapazität und Kompetenz anging, konnte gar nichts schief gehen – ähnlich wie das Nervensystem gewisser primitiver Tiere unter dem Einfluss feindlicher Reize immer schneller und exakter reagierte, hatte mein Denken und Erfahren unter den Qualen dämonischer Energien eine systemische Dichte und Reaktionsgeschwindigkeit erreicht, in der die Trennung zwischen unbewussten Vorgängen und bewussten Vergegenwärtigen fließend geworden war und damit semimateriale Wissensweisen zur Verfügung standen. Ich konnte keine Kontrolle ausüben – wer auf der Kontrolle beharrt, ist so verkrampft, dass er die Winke und Zeichensysteme nicht mehr gewähren lassen kann. Ich musste die Treffer kommen lassen, die mit einem überaus stimmigen Spiel von Verweisungszusammenhängen dafür sorgten, dass ich immer ein bisschen schneller war, als unsere Gegner und sie dabei beobachten konnte, wie sie eine Grube aushoben, in die ich dann nicht hineinfallen musste. Ich entwickelte ein besonderes Gespür dafür, wieder und wieder an Orten aufzutauchen, an denen mich niemand erwartete und dort dann entscheidende Beobachtungen zu machen.

Aus den prägnantesten Sätzen des Philosophischen Sperrmülls wurden sieben Thesen, die dann mit einer einfach erklärenden Predigt über die verheerenden Wirkungen der Stillstellung und die Pest des Bildungsbeamtentums versehen werden konnten. Die dabei entstehenden und wild wuchernden Manierismen reservierte ich für künftige Kapitel. Wie die schwarze Pest einmal den Schub für eine Moderne freigesetzt hatte, in der das Leben als letzte Gelegenheit konzipiert werden musste, hatten die Funktionäre des Wissens im Laufe der Jahrhunderte dafür gesorgt, die nötigen Strategien freizusetzen, mit denen zu garantieren war, dass die Leute mit der Potentialität ihres Lebens gar nichts anzufangen wussten. Der Bildungsbeamte war ein Nachfahre des Klerikers, und weil ihm keine Möglichkeit mehr gegeben ist, die begründeten Ansprüche auf ein Jenseits zu vertrösten, arbeitet er an der Maximierung der narzisstischen Selbstbestrafungstendenzen. Wer sich selbst lahmlegte, konnte der herrschenden Ökonomie der Aufmerksamkeit nichts entgegensetzen!

Am 10.01.92 ruft Neumann endlich an, abends vor der Tagesschau, sinnigerweise als der alte Stadtdirektor Schuhmann in der Landesschau im Bild ist. Dieser Ehrenprof, der immerhin für den Rahmen Volkshochschule sein Placet gegeben haben musste, sonst hätten die Leiter bei diesem Schweinespiel nicht so bereitwillig mitgemacht. Neumann entschuldigt sich, er habe nicht früher gekonnt, fragt ob wir am Samstag, also am nächsten Tag, Zeit haben. Gut gelaunt lachend will er wissen: Soll ich kommen? Ich bejahe und unterstreiche, ein paar Sachen wollte ich schon genauer wissen – wenn die Sache klappen und die Geschichte mit Erfolg gekrönt werden sollte. Und weil dieser Idiot das Gespräch ganz unverbindlich hält und ich mir nicht sicher bin, ob er überhaupt kommt, reiße ich mich am Riemen und bringe unter größeren Anstrengungen einen Satz zustande, für den ich mir früher eher die Zunge abgebissen hätte: Sie bieten mir eine große Chance und ich im Gegenzug eine gute Kooperation. Mein lieber Mann, auch das Arschkriechen ist erlernbar, und ich schäme mich nicht mal dafür. So harmlos beginnt der Pakt mit dem Teufel, der Schatten ist schon verkauft, auch wenn das Herz noch nicht aus Glas ist, solange die Unterschrift unter der Berufungsurkunde fehlt. Neumann scheint mit diesem Gesprächsverlauf einverstanden zu sein, er will am Samstagnachmittag, vielleicht auch erst am Abend kommen, um dann das Wochenende bei uns zu verbringen. Ich weise darauf hin, dass wir nur eine kleine Zweizimmerwohnung haben – die Zeiten, in denen ein Stefan George auf eine eigene Behausung verzichten konnte, weil irgendwelche Schüler und Mitstreiter für sein Unterkommen zu sorgen hatten und notfalls dann ins Gartenhäuschen auswichen, um dem Meister die eigene Wohnung zu überlassen, sind glücklicherweise vorbei – und er meint, dann nehme er ein billiges Hotel. Er will wissen, ob ich seine Texte schon gelesen habe und unterstreicht: dann könne ich jetzt sicher verstehen, warum er sich für mich eingesetzt habe usw. Gleich nach dem Gespräch rufe ich im Hotel Royal an, in der Sophienstraße nur ein paar Häuser weiter. Auch kurzfristig würden wir ein Zimmer bekommen – wenn Harpprecht in Stuttgart war, hatte ihn die Debihla dort untergebracht. Damit ich nicht vergaß, dass der Machtfaktor, mit dem sie sich stabilisierte, ganz in meiner Nähe sein konnte, durfte ich dann auf dem Heimweg wichtige Post oder ein Päckchen Bücher an der Rezeption für ihn abgeben.

Am Samstag gehen wir nur eine kleine Runde mit dem Hund, kaufen auf dem Rückweg ein paar zusätzliche Sachen ein, auch ein paar Flaschen guten Wein. Wir wussten ja nicht, wann Neumann ankommen würde. Wir warten und die Zeit geht quälend langsam rum, Neumann kommt nicht. Am späten Nachmittag, als ich mit Kai-Wah auf der Wiese im Innenhof des Finanzamts bin und du zur Sicherheit zu Hause geblieben bist,  kommt sein Anruf: Er sei noch in Berlin, sein Kind sei krank geworden, er käme am Sonntag. Du insistierst, wir sollten schließlich wissen, wann wir mit dem Hund spazieren gehen können. Das war jetzt schon blöd genug, wir stellen uns auf einen Besuch ein, richten den Tagesablauf darauf aus – und da gehörte dazu, dass wir mindestens drei Stunden pro Tag zügig unterwegs sind, das hielt jung und gesund und wofür hatten wir sonst Hunde… Er meint, er käme um neun.

Wenn dieses anachronistische sozialistische Behinderungssystem solche Nachwirkungen hatte, war es gar nicht abwegig, dass die verantwortlichen Politiker von den Mühen mit dem Becher-Literaturinstitut keine große Erfolgsaussicht erwarteten, eher mit einem eisernen Besen durch eine ehemalige rote Kaderschmiede gehen wollten. Neumann machte Wirbel und versetzte uns, machte Machtspiele und ließ warten... das kannte ich alles schon. Noch einmal ein behinderter Behinderer, er schrieb schließlich wie die personifizierte Antriebsstörung und schon Kafka verursachte mir körperliches Unbehagen – es wird nicht mehr lange dauern und ich entwickle die Routine, im Qdos-Modus, also Quick and Dirty, mit den Leuten  umzugehen: Also nichts von niemandem mehr zu erwarten. So einer definierte sich als Dissident, so einer hatte die Zivilcourage geübt, die unser Bundespräsident als Bürgertugend reklamierte. Neumann sollte kommen, ich war bereit, es mochte andere Wege geben, aber dieser Weg war der, der sich als erster anbot – und nun konnten noch so viele Signalsysteme sagen: Der ist unzuverlässig, lass die Finger von, du siehst doch, dass dir klar signalisiert wird, dass daraus nichts wird. Oder: Gib es auf, du hast keine Chance – das ist nur Theater um dich auszureizen und wenn du richtig auf Touren bist, lassen sie dich gegen eine Wand fahren. Aber das ist nicht mein Thema. Wenn schon so hochkarätige Instanzen ein Interesse daran haben, mich zum Schweigen zu verdammen, muss ich mir keine Gedanken mehr machen, ob ich mich vielleicht nur verrannt habe. Dann war eher an die Strategie zu denken, wie ich dieses Maß an Bedeutsamkeit über die Runden brachte, um nach dem imaginären Schlusspfiff was daraus zu machen. Meine Bewährung bestand darin, dass ich mich nicht irritieren und ins Boxhorn jagen lassen durfte – eine echte Stuttgarter Hinterhofratte hatte in Trümmergrundstücken trainiert, hatte ein paar Gehirnerschütterungen, Veilchen und Platzwunden vorgelegt, um nicht nur als Sohn seiner Mutter zu gelten, hatte sich als Rabauke produziert, um bei einer Clique dazu zu gehören, und war durch einen Päderasten aus allen gewohnten Sicherungssystemen hinauskatapultiert worden.

Als ich begann, Philosophie zu studieren, war das ein Kompromiss, mit dem ich vorsichtig versuchte, mich der Normalität wieder anzunähern. Ich kam als Flippie zurück aus den unendlichen Weiten eines inneren Universums, das in den Jahren auf LSD zu erfahren und in Öl und Acryl festzuhalten war. Aber ich kam zurück, weil ich mir ein Paradies mit dir ervögeln konnte und deine Möse anbetete, die überzeugender war, als alle Chemie. So ließ ich mich auf ein Duell der Signifikantennetze ein, die sich in unseren Biographien als Schicksalslinien kreuzten: The killer in me is the killer in you, i used to be a little boy, so old in my shoes, i send this smile over to you, disarm you with a smile, the killer in me is the killer in you – und wer hätte gedacht, dass ein ganzes Bildungsbeamtensystem diesen Kampf aufnehmen würde, um mich zu vernichten, und dich wieder dem Lügensystem deiner Mutter auszuliefern. Vielleicht stimmt es ja, dass die Liebe ein Erinnern ist und jedes Erinnern an den Wirkungsweisen der Liebe teilhat. Aber das ändert nichts daran, dass die Liebe in den wesentlichen Zusammnehängen jenes Messer ohne Griff ist, an dem die Klinge fehlt, mit dem wir uns bis aufs Herzblut quälen. Die wenigen Worte, die Basisentscheidungen, die Varianten dessen, was der Fall ist – ein in Rhythmen, Varianten und Wiederholungen spielendes Kombinieren einiger weniger Sachverhalte oder der Modi des Verpassens – oft kommt in einem Leben nicht mehr zustande als ein dem Schmerz abgerungenes Fötalkunstwerk und wenn es längst zu spät ist, taucht in der Erinnerung die Gewissheit auf, dass das Geborenwerden noch gar nicht richtig angefangen hat. Vielleicht ist das die letzte Offenbarung, die die Vorsokratiker den späteren Geschlechtern mitgegeben haben: Die musikalische Struktur der Liebe und der Erinnerung... Wir sind ja schon so alt, wenn wir geboren werden!

Wir stellen den Wecker eine Stunde früher als gewohnt, sind die zwei Stunden unterwegs, um über Herdweg und Lenzhalde bis zum Bismarckturm am Kräherwald zu laufen und dann über die Robert Bosch Straße, den Hauptbahnhof und die Theodor Heuss Straße ordentlich ausgelüftet und gut vorbereitet zwischen meinen dreieinhalb tausend Büchern auf Neumann zu warten.

Am 12.01. um 10.20 Uhr ruft Neumann wieder an – im Hintergrund sind irgendwelche Verkehrsgeräusche zu hören –, er sei am Bahnhof, wie er laufen müsse? Ich beschreibe ihm den Weg, gebe ein bisschen an, als ich sage, als rüstiger Spaziergänger brauchte ich etwa eine viertel Stunde. Das stimmte nicht ganz, zwanzig Minuten waren der Durchschnitt, aber nach zehn Minuten läutet es schon: Neumann ist ein ganz Schneller! Er war in Windeseile bei uns, jetzt musste es sein – er wollte um halb vier zurück, verzögerte, zerredete, verschob und kündigte ab sechs etwa an, er werde jetzt gehen. Auch dieses ganze Theater – das mich in ausgeprägter Form an die Strategien meiner Mutter erinnerte, die Prinzessin auf der Erbswurst: Sie konnte nichts und wusste nichts gescheites, aber sie hatte eine außergewöhnliche Kapazität, sich im Glanz der Leistungen anderer zu sonnen und sie hatte ein besonderes Geschick entwickelt, über den Zeitplan und die Abläufe zu bestimmen, in denen sich die anderen abstrampelten – war unter der Kategorie Test zu verstehen. Wie sonst, es gab niemand, der freiwillig acht Stunden mit der Bahn fuhr, um dann um zehn Uhr anzukommen, nur um ein paar Spiele von kleinen Mädchen abzuspulen – das machten vielleicht Uniprofs, weil die wenigen Wochenstunden zu viel Zeit für Furzideen ließen; das war vielleicht ein Lebensinhalt, wenn man sich an Millionärstöchtern und Beamtensprösslingen beweisen wollte. Also ist es ein notwendiger Test: Was ist echt, was ist simuliert, was ist souverän und was nur subaltern, wer kann warten und wer wird ungeduldig, wer steht zum eignen Programm, wer wird gierig und prostituiert sich, wer dementiert und profiliert sich in Selbstverleugnungen, und wer steht unverrückbar zur eigenen Position, freut sich an ihrer Erweiterung, wer fühlt sich durch Angriffe bestätigt, wer sichert seine Position an der negativen Resonanz derer, deren Lob er fürchten, deren Bestätigung er fliehen müsste... Alles Tests, und ich denke, wir haben 1000 Punkte gemacht, sonst wäre es gar nicht zu der Einladung gekommen.

 

Er nimmt nicht den Aufzug, sondern er kommt über die Treppe hoch. Als er schnaufend auf dem letzten Absatz anlangt, drehe ich mich kurz weg. Es ist mir peinlich, wie erbärmlich er wirkt: untersetzt und fett, Halbglatze und Triefaugen, ein zu großer Mantel, der ihn in einen Pinguin verwandelte, ein Anzug aus der Altkleidersammlung – wirklich eine Jammerfigur. Ich will schon für meine Selbstachtung gar nicht sehen, was für einen beschissenen und unglaubwürdigen Eindruck dieser Abgesandte macht. Du nimmst ihm den Mantel ab, er wirkt schmierig und versoffen, wir gehen mit ihm ins Wohn- und Arbeitszimmer. Du machst ein paar Brote zum Frühstück, und er redet und raucht und redet, knabbert gelegentlich an einem der Brote, scheint aber keinen Hunger zu haben, obwohl er die halbe Nacht im Zug saß und angeblich noch nicht mal gefrühstückt hat.

Er scheint aus den Augen verloren zu haben, warum er hier ist, muss erzählen, wer er war – zwischendurch versucht Kai-wah das Brot zu schnorren –, welche Probleme er in der DDR gehabt hat, wie man ihn gestriezt hat, seitdem er einmal in eben diesem Literaturinstitut auf dem Denken aus der Sprache, einem seinem Gegenstand angemessenen Denken insistiert hatte. Und er konnte sich einiges erlauben, seine Mutter war als Parteischriftstellerin für Kultur zuständig –, bis dahin war einiges durchgegangen, aber nach dieser Bemerkung, später hieß es sogar, der Prof habe einen gesundheitlichen Schaden davongetragen, wurde er relegiert. Danach habe er dann als Traktorist, und Schweißer gearbeitet, in einem Kaufhaus als Mädchen für alles. Nach und nach hatten Freunde dafür gesorgt, dass seine Texte im Westen bei Fischer erscheinen konnten. Die ersten Male, als er ausreisen durfte und dann zurückkam, wollten die Grenzer seine eigenen Bücher gleich an der Grenze konfiszieren. Wenn er den Koffer dann zurückbekommen hatte, habe er erst mal alles auf Wanzen untersucht, nebenbei die Aufmerksamkeit genossen, die seinen Büchern zuteilwurde. Das Lesezeichen lag grundsätzlich an einer anderen Stelle, und wenn er noch jungfräuliche Bände dabei gehabt hatte, konnte er danach mit einer gewissen Schadenfreude kontrollieren, welche Seiten die Stasi am meisten fasziniert hatten – erst später sei es dann offener geworden.

Ich erkläre Neumann am Anfang des Gesprächs, dass ich was aufbauen könne und kein Problem darin sehe, vor einem Gründungsrat eine Show abzuziehen. Aber dass ich keinerlei Bedürfnis hatte, mich für eine Sache abzustrampeln, wenn das Ergebnis schon im Vornherein feststände, und ich nur noch zur Legitimation eingeladen werden würde. Neumann distanziert sich dabei körperlich von dieser Unterstellung, vielleicht war ich mit der Formulierung ganz nah an einer Wahrheit, die gerade ich nicht wissen sollte! Wenn die sich schon darauf festgelegt hatten, wie mit Musik umzugehen sein sollte, hatte ich ins Schwarze getroffen. Allerdings war dann, wenn sie mich nicht auswählen wollten, wieder die Frage gestattet: Warum luden sie mich überhaupt ein, europaweit waren rund 35 Bewerbungen in die engere Wahl gekommen, es gab keinen Grund, mir Chancen einzuräumen, auf mich hinzuweisen und für unsere Bücher Werbung zu machen, um dann zu behaupten, ich hätte den hohen Anforderungen nicht entsprochen.

Ich beobachte, wie Neumann immer wieder mit dir zu flirten versucht und dabei gegen eine Wand läuft, überlege nebenbei, ob ich das Spiel auf den Nenner bringen und damit abbrechen sollte: Jeder-Flirt-ist-eine-Angstbewältigung. Aber ich sage mir, dass das noch in den Rahmen passt, unsere Stärke auszutesten: Als Abgesandter eines Ministers durfte er probieren, vielleicht musste er sogar mögliche Schwachstellen finden – sei's um mir dann zu sagen, dass man doch mit einer stärkeren Persönlichkeit gerechnet hätte, sei's um beruhigt zu sein, dass auch ich ein paar Schwächen mitbrachte, mit deren Hilfe ich leicht lahm zu legen sein würde. Wenn er die Erfahrung machen wollte, dass auf der libidinösen Ebene kein Blumentopf zu gewinnen war, war es vielleicht sogar besser, er probierte es so lange, bis ihm die Luft dabei ausging.

Um die Mittagszeit erzählt und erzählt er noch immer, ich dränge darauf, dass wir jetzt essen wollen – ich bin bei den einfachen Tageseinteilungen ein hartes Gewohnheitstier, sonst könnte ich nicht so viel leisten –, er macht ein Machtspiel daraus, als müsse er vorführen, dass er jetzt den Zeitplan bestimmt. Endlich um zwei Uhr ist es soweit. Bisher sind mir keine Schwächen bei dir aufgefallen, aber als du die Brokkolicremesuppe warm machst, ist kurz zu sehen, wie angeschlagen und beansprucht du bist: Die in den Rollenanweisungen der Küchenfee verborgenen weiblichen Selbstverleugnungen waren wohl schwerer zu handhaben, als die Technik, eine ganze VHS aus den Angeln zu heben. Kochen war nie deine Sache gewesen, das hatte ich übernommen, nur war gerade angesagt, dass ich ein paar brauchbare Informationen aus diesem Wichtigtuer rausholte. Es ist fast zwingend, dass das Beste von der Suppe in der Dose kleben bleibt. Das tut mir leid, ich mache mir immer die Mühe, den Rahm, der sich abgesetzt hat, mit Fleischbrühe abzulösen, bei dir landet das Sahnehäubchen eben unbesehen im Müll. Wir essen gleich in der Küche, die mit Winkeln an die Wand geschraubte Hälfte einer von mir eigenhändig durchgesägten Tischplatte aus den 50ern ist gerade mal für zwei Personen gedacht. Du isst die Suppe im Stehen an der Spüle und bewachst die Pfanne, bis Neumann dich kumpelhaft plump auffordert: Jetzt setz dich doch dazu. Es gibt einen Berg Schwäbische Käsespätzle hinterher, und Neumann labert und labert, bis der Käse immer weniger Fäden zieht. Als müssten wir alles wissen, um ihm später ein Denkmal zu setzen – aber immerhin, wenn das sein Hintergrund war, diesen Gefallen würden wir ihm tun und davon profitieren.

Wir gehen wieder ins Zimmer, ich nehme eine Flasche Trollinger mit und schenke Neumann ein, zwischendurch sollten endlich Informationen rauszufiltern sein, die für mich interessant werden könnten: Die Mitbewerber, die Chancen, die Stärken – und natürlich auch die Interessen und Neigungen der Leute aus dem Gründungsrat. Einer der Bewerber war aus der DDR ausgebürgert worden, als er zufällig in der Schweiz war und dann eine Weile mit der Rückkehr gezögert hatte. Jetzt gibt er eine Literaturzeitung raus und arbeitet bei ein paar Buchreihen mit, der sei viel zu brav... der andere hatte schon einen Lehrstuhl... dann noch eine Frau, die schon jenseits war, eine Mystikerin... die restlichen konnte man eigentlich vergessen. Ich solle mich mit den ersten beiden messen. Dabei war ich gar nicht bereit, mit irgendjemand zu rivalisieren, ich wollte nicht messen und ich wollte nicht gemessen werden, wenn ich gut war, war es inkommensurabel.

An einigen Anekdoten ist zu hören, dass Neumann schon bei Bewerbungsgesprächen dabei war. Er macht sich lustig über professorale Selbstermächtiger, die nicht mehr im Sinne hatten, als einen dicken Etat zu verwalten. Auffällig ist, dass wir wenig darüber rausbekommen, wer im Gründungsrat sitzt. Walter Jens in Tübingen sollte wohl ein wachsames Auge drauf haben; der Minister war angeblich Mathematiker; seine Sekretärin habe früher bei einem DDR-Verlag gearbeitet und war eben im Ministerium untergebracht worden, jemand zuverlässiges, der immer für die richtige Sache gestanden, ein Denken aus der Sprache gefördert habe. Das ist hanebüchen, ein Jens war ein mindestens so verkalkter Wichtigtuer wie der alte Bense, solche Leute richteten nichts mehr aus. Und von dem Minister hatte ich zufällig in der ZEIT gelesen, dass er Sprachwissenschaftler und gläubiger Christ war. Neumann arbeitet also weiter daran, sich als unglaubwürdig zu präsentieren und damit irgendwelche Sicherheiten zu unterhöhlen. Dabei bin ich auf keine Sicherheit angewiesen und schon ein halbes Leben daran gewöhnt, in der Luft zu hängen. Wir brauchen Informationen, dazu ist er hier – und ex negativo kriegen wir die geliefert.

Zwischendurch muss Neumann telefonieren, er ruft jemanden in Frankfurt an, nur um zu bestätigen, dass er jetzt bei uns ist. Mit einem abwägenden Zögern in der Stimme meint er: Ja, das könnte klappen. Ich beziehe die Aussage auf meinen Einsatz in Dresden, nicke bekräftigend, und Neumann legt nach ein paar nichtssagenden Floskeln schnell auf – es hätte aber genauso gut heißen können, dass er Chancen sah, mich zu erledigen. Er zögert, nimmt dann den Hörer noch Mal hoch, wählt drei Nummern, räuspert sich, als sei ihm das peinlich, meint dann erklärend: Der wird jetzt nicht da sein. Er legt wieder auf, und mir ist klar, dass das ein Schauspiel ist, mit dem er die vorige Nummer aus meiner Wahlwiederholung entfernt – dabei habe ich sowas bisher noch nicht.

Mich wundert, warum die Geschichte jetzt im Januar laufen solle und Neumann angeblich zwei Kandidaten ausgesucht habe, von einem wieder abgerückt sei und zusehen musste, wie der andere durchgefallen ist. Irgendwas stimmt schon bei diesen Vorentscheidungen nicht und seine erklärende Entschuldigung lautet: Dass die eigentlich gedacht haben, er würde den Posten übernehmen. Aber das liege ihm nicht, er sei zu alt dafür. Das müsse jemand sein, der noch jung genug sei, um was Neues zu machen, der noch die Kraft habe, einen trägen Apparat zu bewegen...

Neumann bleibt lange. Er versucht uns zu ermüden, auszuhorchen, aus der Reserve zu kitzeln, beginnt dann nach und nach einzulenken und ist um sechs Uhr bei der zweiten Flasche Trollinger etwa soweit, das er großmütig einräumt, das könnte, das müsste eigentlich klappen. Dann beginnt er zu schwadronieren, was er mit der bewussten Wahl der Worte schon durchgesetzt habe, was die Macht der Sprache bewirken konnte – und ich bestätige ihn lachend und erzähle ein paar Anekdoten von der rikoschettierenden Wirkung meiner Schreibe. Plötzlich steht er ohne Vorankündigung auf und rennt aufs Klo, er muss scheißen – ich habe von der Krankenschwester erzählt, die nach einer Hepatitis zur Frührentnerin wurde und mit einer minimalen Entschädigung abgespeist werden sollte. Im Kreativen Schreibkurs hatte ich ihr geholfen, ihre Aufschriebe in Form zu bringen, außerdem Mut gemacht, und dann war die Frau auf die Ärztekammer und zu Berufsgenossenschaft gegangen und hatte damit gedroht, das Zeug mit meiner Hilfe zu veröffentlichen – sie wusste ja nicht, dass die Veröffentlichung schwerer war, als das Schreiben. Kurze Zeit darauf starb der Professor, der bis dahin gedeckt worden war und die Frau bekam eine ordentliche Abfindung. Im Kontext der VHS-Intrige und dem toten Vorstand hat Neumann versucht, mich mit seinen Wundern unter den Tisch zu reden. Aber schon diese Geschichte hat ihm auf den Darm geschlagen, und ich habe noch ein paar andere auf Lager – mehr will er nicht hören, jetzt beginnt er aufzubrechen. Wir wollen noch wissen, ob schon eine Reihenfolge feststeht, er zögert kurz und meint: Alphabethisch, du kommst als letzter dran, du bist ja M. Ich gebe ihm einen Ausdruck Philosophischer Sperrmüll mit, den Benjamin, das Ottobuch und das Altpapier, außerdem die ersten drei Thesen. Er macht schon fest, dass wir uns nach dem Gründungsrat in einer Skurrilenkneipe – sein Wort – treffen würden, um ein Bier zu trinken und versucht noch eine letzte Subalternisierung: Ich habe in den vergangenen Jahren immer wieder auf einen Skurrilen zurückgreifen können, der für mich Besorgungen gemacht oder auch den Fahrer gespielt hat. Einige Zeit habe ich den aus den Augen verloren. Nun habe ich gehört, dass er in Cannstatt am Neckar unter den Brücken kampiert. Wenn ihr da Kontakte habt, vielleicht wisst, wie ich den Typen erreichen kann, ich habe wieder Bedarf an einem Fahrer. Wir blocken ab, wir sind doch nicht blöd und lassen uns mit Pennern relativieren. Ich erkläre ihm, wie man am leichtesten mit der S-Bahn nach Cannstatt und vom Bahnhof zu den Pennercontainern kommt. Das ist nicht unsere Welt, ich kann noch alles Mögliche machen und muss mich nicht auf durchgefallene Behördenanhängsel reduzieren lassen. Es wird Zeit dass dieser schmierige Schleimer endlich verschwindet. Er ist also mit dem Auftrag gekommen, dafür zu sorgen, dass sich unsere Selbstdefinition auf der Wiederholungsschleife von Pennern einpendeln sollte.

Als er um halb acht endlich weg ist, untersuchen wir Bad, Küche und das Umfeld seines Sitzplatzes erst mal auf Wanzen, dann gehen wir ausführlich spazieren. Bis zum späten Abend sortieren wir die Themen und Stichworte, um ein bisschen Inhalt rauszubekommen, der für die Vorbereitung meines Auftritts taugen kann – das war ein enorm anstrengender Besuch. In deinen Aufschrieben der nächsten Tage kann ich dann nachlesen, dass dich vor allem die ständigen Anmachversuche gestört haben. Ich versuche dir klarzumachen, dass das Tests waren, die im Sinne der modernen Personalführungsspielereien zu dekodieren sind. Du siehst es eher als eine Form der Unverschämtheit – er hat in jeder Hinsicht versucht, sich daneben zu benehmen, um uns abzuschrecken. Das Verfahren sollte von Anfang an bewirken, dass wir Abstand nehmen und ich mich gar nicht erst auf den Weg mache. Aber auch das ist ein Test, wie wir auf solche Provokationen reagieren. Wenn ich mich nicht abschrecken lasse, laufe ich nicht Gefahr, später mit dem Gefühl rumzulaufen, ich habe mich nur nicht getraut. Und genau das scheint bisher der Plan: Dann hätte er einen Schaden in meiner psychischen Ökonomie verursacht.

Am Montag früh, als wir noch unterwegs sind, spricht dann die Sekretärin des Ministers Meyer auf den Anrufbeantworter: Ich möge bitte zurückrufen. Wir sagen uns, dass das schon mal die erste Resonanz auf den Neumannbesuch ist – und wundern uns, wie stockend sie spricht und wie viele Ähs sie in den wenigen Sätzen unterbringt. Sie muss mehrfach ansetzen, dreimal nennt sie das Sächsische Staatsministerium und sie sagt sexisches Staatsministerium. Dazu passt, dass sie versäumt, uns die Telefonnummer für den Rückruf zu nennen. Das ist dasselbe Strickmuster: Die meinen, dass sie mich abschrecken können, wenn sie sich als Mehrfachbehinderte präsentieren, weil sie wissen, dass ich den Beamtenapparat nicht mag. Deshalb dauert es dann ewig, bis ich es endlich schaffe, zurückzurufen. Auf dem Briefkopf der Einladung war die ostdeutsche Vorwahl angegeben, ich muss erst einmal auf die Idee kommen, dass von mir aus eine andere Vorwahl nötig ist. Dann will die Dame mit der brechenden Stimme einer Oma nur wissen, ob sie für mich ein Hotelzimmer reservieren soll. Dann könne ich einen Tag früher kommen und mich davor etwas von der langen Fahrt erholen. Neumann hatte also bewirkt, dass man mir freundlich entgegen kommt – oder wenigstens sollte es oberflächlich so aussehen. Die hatten den Termin auf 15:45 Uhr angesetzt, und es musste mit dem Teufel zugehen, wenn sie nicht wussten, dass der Zug erst eine Minute davor in Dresden ankommen sollte. Solche Spiele kannte ich bis zum Erbrechen, nur deswegen hatte ich mir vor ein paar Jahren gesagt, dass eine Hochschulkarriere eine Form von Höllenstrafe war, auf die der Körper früher oder später mit einer todbringenden Krankheit, einem Infarkt oder Krebs, zu antworten wusste. Ich winke ab, ich brauche keine Erholung, will viel eher ein bisschen frischen Wind aus meinem Bücherregal mitbringen, und das ginge nicht, wenn ich mich davor in einem Hotelzimmer gelangweilt habe. Aber sie sollte die Runde schon darauf vorbereiten, dass ich ein paar Minuten später käme, weil ich ja noch vom Bahnhof zum Ministerium kommen musste.

Ich berichte dir von dem Gespräch und bin nicht in der Lage, das Wort Hotelzimmer auszusprechen, ich sage mehrmals nacheinander Telefonzimmer. Wir schließen daraus, dass es um keine Übernachtung im Hotel gegangen ist, sondern lediglich eine symbolische Gabe übermittelt wurde. Aus diesem Grund transportiere ich danach, als ich einkaufen gehe, eine verräterische Kommunikationsstörung. Der Metzger an der Tengelmanntheke versucht mir alten Scheiß vom Samstag anzudrehen, weil er die neue Ware noch nicht ausgepackt hat, und ich habe große Mühe, ihm verständlich zu machen, dass ich diesen grauen Schweinebraten, der vermutlich schon muffelte, nicht kaufen würde – er meint erst mal, er setze sich einfach über mich hinweg und packt es für mich ein. Ich lasse ihn stehen, dann kaufe ich eben kein Fleisch, sondern nehme was aus der Tiefkühltruhe. Das ist ein Laden der schon seit Jahren von der Hausbesitzersippe verseucht wird. Eine Kassiererin fühlte sich bei 1800 Mark Brutto solidarisch mit der millionenschweren Bäckerin und verpestete in der Vergangenheit die Luft, wenn ich in den Laden kam… andere Bedienungen begannen hinter mir zu flüstern, um Gehässigkeiten zu reproduzieren, die die Bäckerin, die ich zufällig mal beim Butterklauen beobachtet hatte, über uns verbreitete. An der Kasse versuche ich dann der Kassiererin kleine Münzen abzuzählen und meinte dazu: Ich habe Sex für Sie! Ich zählte die sechs Mark ab und fühle mich unbehaglich, als ich bemerkte, dass das Mädchen rot wird und mich anstarrt. Aus dem Vorzimmer eines Ministers weht ein Hauch von Wirklichkeitsmächtigkeit und wenn dort beschlossen worden ist, dass meine Gastvorstellung irrealisiert werden soll, muss ich mir ganz einfache Worte erst wieder erobern – noch dazu war ich aus dem sexischen Staatsmysterium angerufen worden, das war das selbe Register, das Neumann mit seinen Flirtversuchen schon gezogen hatte. Wenn ein Flirt erst einmal aus der Angstbewältigung resultiert, dann haben die mir vorgeahmt, was ich nachmachen sollte. Wenn sie mich schwächen wollen, müssen sie nur meine Beziehung stören, das ist eine einfache Strategie. Vielleicht hätte mich in dem Hotelzimmer eine Gelegenheit erwartet, fremdzugehen und mit einer solchen Verführung wäre das Vertrauen zu zerstören, aus dem ich meine Kraft bezog. Das sind nur Spekulationen, aber es ist klar, dass ich auf der Hut sein muss. Neumann hat keine brauchbaren Informationen rausrücken wollen, aber in seinem Körpergedächtnis hat er alles transportiert, was uns angeht. Es sind die Fehlleistungen, die unwillkürlichen Einfälle, die Restbestände aus den nächtlichen Traumwelten, über die wir an dieses Wissen rankommen. Es kann die Schlagzeile einer verknüllten Zeitung sein, die uns der Wind während des Spaziergangs vor die Füße weht, oder ein Zitat, das ich nicht mehr richtig zusammen bekomme und dann beim Blättern und Suchen in den verschiedenen Bänden plötzlich auf einen Satz stoße, der eine überzeugende Handlungsanweisung darstellt…

Am 15.01. melde ich mich wie ausgemacht bei dem Werbebüro, die Leute sind mit ihrem Umzug fertig. Ich verschiebe den Termin nochmal um zwei Wochen – sicher keine gute Voraussetzung, um mit den Leuten ins Geschäft zu kommen, aber ich will für den 20. einen freien Kopf haben. Wenn Dresden nicht klappen würde, wusste ich immerhin, dass mir Neumann einen recht sicheren Job als freier Werbetexter gekostet haben würde. Mittags kaufen wir beim Horten einen richtig spießigen Aktenkoffer. Als ich auf dem Rückweg vorschlage, wir könnten zur Feier des Tages ein gegrilltes Hähnchen mitnehmen, bekommst du solche Schwankungen, dass wir nur mühsam und ausgebremst nach Hause kommen. Deine im Hintergrund lauernde Sippe lieferte früher die Erklärung für die bei dir zu bemerkenden Brems- und Zerstörungswirkungen. Aber mittlerweile war noch eine andere Wirkungsmacht dazugekommen: Die Burn-out-Phänomene, die sich mit dem Endspurt auf der VHS gezeigt hatten, mochten weitgehend abgeklungen sein, aber bei Vorbehalten und Ängsten sind sie wieder zur Stelle. Wir haben also keinen Grund, diesen Tag zu feiern.

Als ich nach der Promotion nicht wusste, was ich weiter machen wollte, war ich aufs Arbeitsamt gegangen und hatte mich in die Liste der Stellensuchenden aufnehmen lassen. Ein Jahr lange bastelte ich an Texten, jobbte hin und wieder im Buchhandel, hielt ein paar Kurse ab und widmete dir die übrige Zeit. Es kam kein einziges Angebot vom Arbeitsamt, nur bei jedem Gespräch immer wieder der Hinweis, ich sei überqualifiziert und unvermittelbar, ich solle an der Uni weitermachen. Genau das hatte ich nicht vor, dort machte ich mich rar und ließ zwei Angebote im Sande verlaufen. Seit der Zeit waren diese Bildungsbeamten dabei, ein altes Menschheitsgesetz zu renovieren und den eifersüchtigen Gott der Juden in den unnachgiebigen Besitzanspruch der Stuttgarter Geisteswissenschaften umzuformatieren. Als Sohn eines Hilfsarbeiters sollte ich es soweit bringen, dass ich nicht einmal mehr zu Hilfsarbeiten geeignet war – und genau damit habe ich bisher meine Unabhängigkeit finanziert. Dann war als nächster Schritt zu erwarten, dass die Frau an meiner Seite ausgeschaltet werden musste – mit den Einflüssen auf der VHS hatten sie schon ein Maximum ausgespielt. An den verschiedenen Biographien der Heroen und Stifterpersönlichkeiten des Bildungsbürgertums waren solche Tendenz klar abzulesen und für unsere Geschichte zu übersetzen: Die Alma Mater verbot jegliche Konkurrenz. Umso weniger diese Krüppelzüchter tatsächlich bieten konnten, umso höher wurden ihre Ansprüche. Wenn dann hin und wieder eine/r auftauchte, der den Ansprüchen dieser Maschine gehorchen und trotzdem pari bieten konnte, war auf jeden Fall dafür zu sorgen, dass die Verstärkung durch einen Partner oder eine Partnerin ausgeschaltet werden musste. Ich wusste, mit welchen Totengöttern ich es zu tun hatte, und mir war bekannt, wie man mit Höllenhunden umging, sie waren seit vielen Jahren meine Begleiter.

In das Zahlenschloss des Köfferchens gebe ich, nachdem wir einige Zeit gebraucht haben, um den Mechanismus zu kapieren, zweimal Null-neun-eins ein. Wenn wir schon mit Leuten zu tun haben, die sich an schwarzer Magie versuchten, wollen wir mit der Symmetrie des Hochzeitsdatums weiße Magie dagegensetzen. Diese Leute wissen, was sie zerstören wollen und warum dies für sie wichtig ist. Also ist davon auszugehen, dass sie die damit verbundene Macht fürchten und als Simulanten selbst nicht richtig hinbekommen.

Bis zum Freitagabend habe ich an meinen sieben Thesen gefeilt, die mit jedem Tag dichter und vielfältiger geworden sind. Einige Geistesblitze habe ich aus Traumwelten mitgebracht, einige haben mich auf den Spaziergängen angesprungen und gelegentlich habe ich nach dem Ficken die Kräftepfeile gesehen, denen ich folgen musste, um die Argumentation richtig aufzubauen und zu steigern. Das Material zur Veranschaulichung nehme ich erst einmal aus dem Philosophischen Sperrmüll; dann ersetze ich eigene Formulierungen durch Zitate, die dann wieder durch Differenzierungen abgefälscht und modifiziert werden. Was die Leute zu hören bekommen, wird ihnen ganz bekannt vorkommen, nur die Intention ist gegen den Strich gebürstet. Das Resultat bringe ich mit LATEX in eine überzeugende Form und erstelle dann die Druckvorlage in der höchsten Auflösung meines Nadeldruckers. Am Samstagvormittag gehe ich zum nächsten Copyshop gegenüber der Volkshochschule am Rotebühlplatz und vervielfältige die paar Seiten. Das macht mir Stress, ich habe mir sogar überlegt, ob ich bis zum Berliner Platz gehen sollte, um die Kopien an einem neutralen Ort herzustellen. Nachmittags bügelst du meine Sachen auf, ein fremdes Unternehmen mit einem von meinem Alten geerbten und praktisch nie benützten Bügeleisen. Sonntagfrüh kaufen wir auf dem Heimweg des Spaziergangs mit dem Hund am Bahnhof die Fahrkarte und lassen einen Platz für die Hinfahrt reservieren. Zum Mittagessen brate ich zwei zusätzliche Schnitzel, um für die Fahrt was zu essen zu haben. Am Nachmittag halte ich geduldig still und den Schnabel, um dich nicht zu ärgern, und du verpasst mir in einer Stunde konzentrierter und angespannter Arbeit einen Haarschnitt, der so exakt ist, dass er von einem durchschnittlichen Friseur sein könnte. Ich fühle mich weich und melancholisch, nicht anders als vor anderen größeren Entscheidungen, ein biochemisches Fließgleichgewicht des schwebenden Kommenlassens: Keine Vorbehalte, keine Ängste, eine erfolgsgewisse Wartehaltung. Vielleicht erinnerten sich meine psychischen Systeme an ihre amöbengleichen Ursprünge und wollten zerfließen, um währenddessen die reflexartigen Wendigkeiten einer vielgliedrigen Kampfmaschine mit den unschlagbar klugen Techniken des Widerstehens zu kombinieren und die Kräfte der Gegner für mich arbeiten zu lassen. Ich habe die Energien aufzunehmen und in der Ungerührtheit zu verdoppeln – es heißt, wer austeilen will, muss auch einstecken können, aber ich habe gar nichts auszuteilen, sondern nur zurück zu geben. Wer die Magie eines blankpolierten Spiegels ankurbeln will, muss die Treffer suchen und den Druck erhöhen, die Kränkungen und die Qual ungerührt wegstecken und zum eigenen Kurs stehen. Für das Gegenüber sieht das auf einmal wie ein Existenzbeweis aus und die Notwendigkeit meiner Vernichtung ist als Beweisfigur einer maximalen Bedeutsamkeit zu verstehen. Wenn sie an ihrer Rechtfertigung oder an der eigenen Schlagkraft zu zweifeln beginnen, werde ich wissen, dass es geklappt hat... Abends lese ich, während du noch vor dem Fernseher sitzt, dann gehen wir früh ins Bett.

Ich schlafe gut und tief, der Wecker läutet früher als gewohnt. Frühstück und Verabschiedung laufen spannungsfrei. Ich ziehe mich im Bad leise an, um dich nicht zu stören, mache mir dann etwas zu essen und setze mich zu dir. Auffällig ist, dass Kai-Wah, die sonst den Eindruck macht, dass sie lieber den Morgen verpennt und von uns gebeten werden möchte, zum Spaziergang mitzukommen, wach ist und gähnt, sich dehnt, aufsteht und Zeichen macht, dass sie mitgehen wird. Ich muss los, liebe Küsse zum Abschied. Die Marienstraße runter, die letzten Tage war es recht lau gewesen, jetzt nieselte es dünn und kalt, zwischenrein erste Schneeflocken. Ich spüre Trauer und Wehmut, will eigentlich gar nicht weg. Auf der Königstraße ist es schon mehr Schnee als Regen, es ist noch früh, fast niemand ist unterwegs. Eine Frau grüßte mich, ich weiß erst nicht, wer es ist, grüße automatisch zurück; später fällt mit ein, dass es die Hausmeisterin aus dem Nebenhaus war.

Der Zug ist einer dieser Bummelzüge, mit denen ich nach Schwäbisch Hall gefahren bin, als noch Kurse außerhalb Stuttgarts liefen. Der Aufwand war mir auf die Dauer zu groß, außerdem hatte der Direktor das Bedürfnis, mich immer wieder zu belehren und zu korrigieren. Weil noch genug Zeit ist, gehe ich gemächlich bis zu den vordersten Wagen und steige dann ein, um wieder ein Stück zurück zu gehen. In meinem Abteil hängen noch zwei Reservierungen, aber die Leute sind nicht gekommen, vielleicht habe ich das Abteil ganz für mich. Nach ein paar Minuten fahren wir durch Fellbach – ich sage mir, jetzt fahre ich wieder einmal über meine Geburt hinaus. Der Schaffner fragt bei der Kartenkontrolle, ob die beiden anderen nicht gekommen seien, meint dann, als müsse er mich trösten, na vielleicht kommen sie noch und sind woanders. Ich lache und antworte: Bis hierher war es auch ein langer Zug. Er nickt und geht. Er wirkt wie jemand, der sich Mühe gegeben hat, um seine Sache gut zu machen und nun feststellen muss, dass irgendwelche Umstände dafür gesorgt haben, dass die Mühe unnötig war. Der leicht sächselnde Unterton bleibt mir eine Weile im Ohr. Jetzt fahre ich durch eine Schneelandschaft, Lichter in der Dunkelheit. Ich werde ein wenig melancholisch und furze leise vor mich hin. Irgendwann vor dem nächsten Halt mache ich das Fenster eine Spalt weit auf, es ist laut, aber der Fahrtwind saugt den Gestank aus dem Abteil... Etwa um halb acht fällt mir auf, dass ich die Strecke kenne. Ich kann erst keinen Bahnhofsnamen entziffern, immer wenn ich schaue, ist der Zug schon an den Schildern vorbei oder ich bin auf der falschen Seite, ich bemühe mich nicht besonders. Nach und nach, ich habe mich bequem auf dem mittleren Sitz zurückgelehnt, gleichförmig und tief geatmet, und nur noch aus den Augenwinkeln mitbekommen, was draußen an Landschaft vorbeihuscht. Das vermittelt den Eindruck, die Bildausschnitte huschten an den Augenwinkeln vorbei, als seien sie Zusammenschnitte aus alten Stummfilmen: Es-darf-gelacht-werden. Im Dämmerlicht entführt mich der lahmelige Zug in eine Zeit, in der wir nur zwei Fernsehprogramme hatten.

Dann ist klar, das ist die Strecke, die ich Mitte der Achtziger immer wieder nach Schwäbisch Hall gefahren bin. Auch das ist stimmig, wie der mitteldeutsche Tatort gestern Abend, als ich zu dir rüber schaute. Pausbäckig uninteressante Erotik, bei diesen Erich-Sagern fehlte der Pep. Der Sex im Medium muss scharf und schneidend sein, schließlich ist er nicht zu riechen, nicht zu schmecken, nicht zu betatschen, also ein Sex der Lichtblitze und metallischen Verbindungen, ein Sex der geilen Rhythmen, der grellen Farben, der tierischen Materialien wie ihn amerikanische Pornos repräsentieren, knallig und dabei sauber – und dann zeigen die die langweiligen Anstrengungen dumpfer Bauerndeppen. Das ist wohl als kontrastreiche Abwechslung für den westdeutschen Konsumenten gedacht – nichts, was mich noch angeht, das ist alles weit weg, uninteressant wie alte Pornos aus den Sechzigern.

Ich fahre durch die Erinnerungen an frühere Behinderungen. Ein Uniprof, der mich abpasste, um mir dann den Weg zu schneiden, mich nötigte, durch eine Pfütze zu gehen oder an einer grünen Ampel zu warten,  bis sie wieder Rot zeigte, der mir demonstrativ zeigte, dass ich zu übersehen war und der seine Einflüsse in Schwäbisch Hall spielen ließ, damit der Leiter meinen Vortragsstil kritisierte – wobei es ziemlich egal war, was er tat, interessant nur, dass er es nötig hatte. Eine Volkshochschultante, die mich nach meinen Kursen auszahlte und Wert darauf legte, meine Aufmerksamkeit zu kodieren, weil sie keinen Bh trug und die durch ihren grobmaschigen Pullover tastenden Nippel Überlänge hatten. Ich sehe gerade sogar eine assoziative Nähe zu meiner früheren Verführung, kapiere auf einmal, dass so viele Krüppel versuchten, sich an mir zu therapieren, weil ich ihnen mit eben der Erfahrung dieser Verführung etwas voraus habe und heute Abstände pflegen kann, die die anderen gar nicht aushalten – aber auch, dass damit eine Serie eingeleitet worden war, in der noch viele andere versuchen wollten, über mich zu verfügen, sich an mir in strafbarer Weise zu vergnügen – und lasse sie hinter mir zurück.

Der Zug hält kurz nach acht in Hessenthal, ich steige diesmal nicht um, denke kurz, was es hieße, wenn einer der Krüppel hier zustiege, mich entdeckte oder besser noch, von mir entdeckt würde. Ich lächle vor mich hin – immerhin weiß ich mittlerweile, dass eben dieser Prof an jener Volkshochschule einen Direktor untergebracht wusste, auf den er zurückgreifen konnte.

Draußen liegt eine dicke Schneedecke, jetzt ist es kurz nach Acht und fast hell. Während ich die mir durch den Kopf gehenden Stichworte festhalte, denke ich an dich und werde wieder wehmütig, bei dir im Bett wäre es schöner – aber es wird klappen. Dann ist es neun, ich versackte in einer Schneewehe Melancholie – es mag dir schmeicheln, aber mich bringt es gerade nicht weiter – das ist eine biomagnetische Wanderdüne: Jetzt habe ich dich endlich gewonnen, und dann muss ich weg, kann nur darauf hoffen, dass währenddessen nicht irgendwas zu Bruch geht. Ich spüre ein Ziehen in den Augenwinkeln, Spannungen im Thorax, die Vibrationen des Zugs beginnen sich unangenehm auf der Bauchdecke und der Brustmuskulatur fortzupflanzen. Endlich hält der Zug wieder, ich habe die Augen geschlossen, mache autogenes Training, atmete tief und gleichmäßig. Die Tür geht auf, ein junger Schwarzer steht da mit Reisetasche. Hinter ihm der Schaffner, fragt mit diesem näselnden Gesächsel, ob die anderen nicht gekommen seien. Ich schüttle den Kopf. Er fragt, ob er die Reservierungen wegnehmen könne, bittet mit einem Blick auf den Neger fast um Entschuldigung. Ich nicke dem Schwarzen zu, grüße und meine zu dem Schaffner: Ja klar. Der Schaffner schließt die Tür, ich ignorierte seine Missbilligung, lege die Hände wieder auf die Oberschenkel und beginne tief durchzuatmen. Die Anwesenheit einer zweiten Person im Abteil genügt und die Melancholie ist weg. Schwellengeräusche, gleichmäßiges Atmen, dann klingelt und rumpelt draußen im Gang irgendwas entlang. Die Tür geht auf, ein Typ im weinroten Dress grüßt und fragt, ob wir einen Kaffee wollen. Der junge Typ reagiert nicht, folgt den Imperativen seines Walkmans, ich lehne dankend ab. Der Servicemensch macht die Tür wieder zu, geht neutral weiter – ich spüre ein kleines Bedauern. Ich kenne mich nicht aus, wann war ich die letzten fünfzehn Jahre schon mehr als eine Kurzstrecke gefahren – im Bücherregal Lichtjahre, aber in Stuttgart in der Regel nicht weiter, als die Füße trugen, selbst die Stecke nach Schwäbisch Hall hätte ich mir innerhalb eines Tages zugetraut. Ich wollte nichts, ich brauchte nichts, hatte alles dabei und im Überfluss. Aber ich spüre eine kleine Verpflichtung, will so jemanden nicht einfach wegschicken, will schließlich nicht auch nur weggeschickt werden...

Jetzt bin ich schon zwei Stunden unterwegs, habe bisher nichts gelesen, nur ein paar Notizen gemacht. Ich atme gleichmäßig, lasse die Zeit vergehen, rechne damit, dass ich schön fit ankomme. Der Schwarze hat den Walkman abgestellt und döst vor sich hin, ich bin sehr ruhig und erinnere mich, wie früher die kurzen Fahrten zu meinen Kursen angestrengt haben, wie sich recht schnell ein übermüdetes und leicht fiebriges Vibrieren im Kopf und auf der Haut einstellte. Ich hatte schon öfter vermutet, dass der Körper in diesen institutionellen Anhängseln der Stuttgarter Uni die Intrigen gewittert hatte, dass ich, obwohl gar nichts war, immer wieder durch Wolken der mimetischen Verfolgerintensität aufgeschreckt wurde – davon spüre ich heute nichts. Wir stehen in Nürnberg, bis hier ist die Zeit nicht langsam vergangen. Als ich ins Abteil gekommen war, kam es mir zu warm vor, ich habe gelüftet und wollte die Heizung runter drehen, doch der Hebel hae sich nur einen Zentimeter bewegt. In der letzten Stunde merke ich dann, wie die Füße kalt werden, am Boden ist eine kalte Luftbewegung – jetzt habe ich den Hebel wieder zurückgestellt, vielleicht macht der Zentimeter doch etwas aus. Der Zug hält kurz in Arnsbach, der Typ ist ausgestiegen, ich sitze wieder allein hier. Jetzt wirst du zurück vom Spaziergang sein, ich hoffe, es geht dir gut.

Kurz nach elf, habe Münchhausen von Hrabal gelesen, kannte schon einige Teile, die du mir vorgelesen hast. Ich habe das Abteil noch immer für mich, stecke den Geldbeutel in die Hosentasche, um mal pinkeln zu gehen. Das Nummernschloss am Koffer habe ich verstellt, und als ich zurückkomme, kann ich es mit einer selbstzufriedenen Genugtuung wieder auf das Heiratsdatum einstellen. Ich mache den Koffer auf, stecke den Geldbeutel in sein Fach. Ich habe fast nichts mehr, auf das ich mich verlassen kann, im Laufe der Jahre gingen sogar die Sicherheiten vor die Hunde, die ich nicht selbst aus Überzeugung dank der Randgänge der Philosophie verstoßen hatte, am Schluss blieben sogar die Hunde auf der Strecke – der Hund war der erste Begleiter des Menschen und oft auch sein Grab. Aber ich stehe nicht mit leeren Händen da, es mag nichts Festes in der Welt geben, aber ich habe die Freude an der eigenen Lebendigkeit, das Wissen um die Kämpfe, die wir füreinander ausgetragen haben – oder manchmal auch gegeneinander. Münchhausen macht mich schwermütig, Hrabal hat mir Beklemmungen gemacht, ein Ziehen im Brustbein, Stiche in der Lunge: Welche Bosheit kleiner Leute, welche präzise Darstellung der psychotischen Verleugnung. Ich konnte schon über manche der absurden Situationen lachen –  heute kann ich das nicht mehr, ich schrecke zurück vor so viel Kontraproduktivität und Verlogenheit. Ich gehe wieder pinkeln, danach sind wenigstens die Beklemmungen weg, aber ich muss daran denken, wie du weintest, als Dino starb, dieser kleine und noch unvollkommene Gott – wie du klagtest: Warum machen die uns alles kaputt? Vermutlich steckt das alles noch in dem Hrabal, du hattest das Städtchen am Wasser, die Baffler und Bambini di Praga im Herbst 90 durchgearbeitet, mir zur Erinnerung an deine tschechische Großmutter seitenweise daraus vorgelesen, unter triumphierendem Gelächter – aber du mochtest schließlich Kafka, der mir Übelkeit bereiten konnte. Ich erinnere mich an diese Zeit der Totenstille, jahrelang waren wir eingekesselt und ausgespäht worden, längst schon gewohnt, immer im Zentrum des Interesses zu stehen. Nach dem Tod des Vorstands befanden wir uns auf einmal in einem leeren Raum, das Theater vor Ort und die telefonischen Störungen waren einfach weggefallen. Das war so angenehm, dass wir die Bedrohung immer wieder vergaßen und uns den Luxus erlaubten, über literarische Stilrichtungen zu streiten – heute vibriert für mich zwischen den Zeilen Hrabals die Verzweiflung. O.k. für diesen Schmerz werden wir die Geschichte packen, ich danke dir!

Den Hrabal habe ich eingepackt, weil ich mir sagte, dass die tschechische Antriebsstörung für die Stimmung im sächsischen Florenz gerade passt. Jetzt nehme ich mir den Glaser vor, den ersten Band der Kulturgeschichte der BRD. Einige der alten Männer, die mich am Nachmittag beurteilen sollen, haben in diesem Band ihre ersten Spuren hinterlassen. Damals noch knackig und mit dem Prinzip Hoffnung versehen, auch wenn sie später zu Protagonisten der skeptischen Generation ernannt werden konnten. Nachdem der Größenwahn eines tausendjährigen Reichs zerplatzt war und der Wirklichkeitssinn Überlebender sich zwischen Trümmern einrichten musste, war mit den Pathosformeln genauso wenig zu bewirken, wie mit jugendlichen Enthusiasmen – diese Nazierbschaft hatte fast alle Möglichkeiten der Begeisterung desavouiert. Nun waren diese Protagonisten in die Jahre gekommen, hatten bei Funk und Fernsehen, in den Verlagen und an den Unis das Sagen oder zumindest befugte Statthalter. Intuitiv will ich die Stimmung aufsaugen, in der sie begonnen hatten – heute sind sie so mächtig, dass sie nicht einmal mehr Wert darauf legen, in den Listen geführt zu werden, die das vertreten, was sie lancierten oder wofür sie wenigstens ihr Placet gegeben haben. Ich lese den ersten Band Glaser, um diesen Leuten an einem Punkt zu begegnen, an dem sie in einer Rolle sistiert worden waren, die meiner heutigen recht vergleichbar gewesen sein mochte.

Gerade halten wir in Plauen, zwanzig vor eins – ein Kollege von Tucholsky hatte dieses Plauen zu seinem Künstlernamen gemacht und später reimte man darauf: Den-ham-se-tot-gehauen. Seit etwa einer Stunde fahren wir durch eines der neuen Bundesländer, ich weiß nicht einmal, ob Thüringen oder Sachsen. Die Landschaft hat sich wenig verändert, aber die Straßen und Bahnübergänge sehen piepsig aus, ein paar mehr Trabis sind unterwegs, fremdartige Landwirtschaftsmaschinen auf den dünn beschneiten Feldern. Die vier-fünfstöckigen Backsteinhäuser in Plauen sind meist ohne Verputz und bröckeln vor sich hin, immer wieder sind Fenster zugemauert. Alles ist von einem schmutzigen Schwarz gezeichnet und verwittert. Manchmal ein kurzer Blick in eine Seitenstraße, in Bremen oder Hamburg habe ich Anfang der Siebziger solche Häuserzeilen in den Prachtstraßen gesehen, die roten Ziegel auf Hochglanz poliert. Hier sind die klotzige Altbauten total verkommen. In den Vororten die kleineren Häuser, ein- bis zweistöckig, sind viel besser in Schuss, vielleicht kann bei der Größenordnung vieles selber gemacht werden. Immer wieder Wälder oder Waldstücke zwischen den Feldern, hätte ich nicht gedacht, viele dörfliche Flecken oder Kleinstädte, insgesamt wirkt es nicht fremd auf mich, eher wie Eindrücke aus meiner Kindheit: Kirschen oder Nüsse pflücken, Zelten am Bodensee, der erste gepachtete Garten… Eine Atmosphäre die mich 30 Jahre zurückführt, als wir das Dorf besuchten, in dem mein Vater in einem Kinderheim aufgewachsen war. Finstere alte Ordensschwestern und eine niedrige düstere Wirtsstube, die Schwestern ließen kein gutes Haar an dem Mann, den ich damals noch für meinen Vater halten sollte. Ich hatte mich in einen klebrigen Fliegenfänger verstrickt und auf dem Hof hinter einem Kuhstall versuchte meine Mutter, diese eklige Pampe aus toten Fliegen und Kleber runter zu waschen, wenigstens das Gesicht und die Finger wieder sauber zu kriegen…

Seit etwa ein Uhr hat sich der Himmel aufgeklärt, jetzt scheint die Sonne und die Reste vom frisch gefallenen Schnee tauen weg. Ich habe das für mich vorbereitete Schnitzel gegessen, ein Brot dazu, später einen Apfel zum Zähneputzen. Jetzt ist es halb zwei, ich habe immer wieder das Gefühl, hier fahre der Zug noch langsamer, vielleicht ist das Streckennetz nicht auf Westniveau. Ich lese Glaser, das beruhigt und scheint mich auf die Geschichte einzustimmen. Um zwanzig vor drei wechsele ich die Hose auf dem Klo: Die Jeans wird zusammengerollt in den Koffer gesteckt. Die Bewerbungshose, die wir für das Werbebüro angeschafft haben, ist ein lächerlich leichtes Zeug. Ich spüre nicht einmal, dass ich eine Hose anhabe, und sie hat einen Schnitt, als müssten irgendwelche Unförmigkeiten kaschiert werden: Auf Taille gearbeitet und mit einer Zahl von Bundfalten und schrägen Taschen versehen, als wären darunter diverse Jahresringe zu verstecken. Ein paar kleine Knitterfalten, ansonsten hat sich die Sorgfalt gelohnt, mit der du diese erste ordentliche Stoffhose seit zwanzig Jahren in den Koffer gepackt hast. So fremd das Zeug im Augenblick noch ist, so absurd es mir scheint, für solchen angepassten Kack 100 Mark hinzulegen, während meine Jeans in der Regel zwischen 25 und 30 Mark kosteten. Die waren so robust, dass man sie nicht einmal bügeln musste und sie hielten fünfmal solange. Aber ich bin ja lernfähig. Es sollte keine zwei Jahre dauern, und ich trug den ersten tausend-Mark-Anzug aus dem Atelier Torino. Ich repräsentierte ein Luxusmagazin für Kunden, mit deren Hilfe ich die ersten 400000 Mark umgesetzt hatte und schon deshalb fühlte ich mich mit der zugehörigen Fliege gut – ich hatte bewiesen, dass die unterdurchbluteten Bildungsbeamten meine Welt mit keiner Intrige zunageln konnten. Dieser Anzug stellte mittlerweile kein Zeichen einer demütigenden Entfremdung mehr dar, sondern war das Signum meiner Leistungsfähigkeit.

Ich esse noch ein Brot und trinke eine Dose Limonade, dann ist der Reiseproviant aufgebraucht, eine Dose habe ich noch für die Rückfahrt. Ich kontrolliere das Hemd, das Deo hält. Ich bin ruhig, habe keine melancholischen Anwandlungen mehr – bevor der Zug in Dresden einfährt, schaue ich mir die Thesen kurz nochmal an, damit ich nicht vom Blatt lesen muss. Wenn ich improvisiere, gelingt es in der Regel am besten. Ich denke an dich.

 

Hier bricht die Aufzeichnung ab, von nun an folgen Rekonstruktionen und Rekonstruktionen von Rekonstruktionen – die erste ist schon am nächsten Tag anzusetzen, aber manche Schlüssel tauchen erst unter dem Firnis von Erinnerungen im Laufe des Jahres auf, manche Erinnerungen werden erst durch eine Meldung in der Tagesschau oder eine Besprechung in der ZEIT wieder freigespült. Als hätte eine dumpfe Pampe im Dresdner Staatsministerium den Gründungsrat eingehüllt, um zu verhindern, dass ich mich später noch an die Gesichter oder Aussagen dieser Grauköpfe erinnern konnte. Selbst die Namen waren einige Tage weg und musste mir erst wieder schwarz auf weiß begegnen, als hätte eine eisige Nacht an der Irrealisierung der konkreten Erfahrung mitgewirkt.

Am Taxistand am Bahnhof eine Beobachtung, die im Nachhinein belustigen mochte, im Augenblick aber peinlich ist, weil ich mich hier auf einem ausgebrannten ostdeutschen Arbeitsmarkt als Privilegierter bewerbe. Am Bahnsteig schwimme ich erst mal im Strom mit, setze mich direkt hinter den Torflügeln dieses Wilhelminischen Gesamtkunstwerks links ab, um aus dem Gewimmel zu kommen, schaue nach einem Taxi und sehe eine ganze Reihe. Ich gehe über die Straße zum nächstbesten am Ende der Schlange und klopfe an die Scheibe, der Typ döst vor sich hin und schaut mich recht verwundert an. Ich frage, ob ich bis vor gehen müsse, oder ob er mich mitnimmt, der schüttelt den Kopf, bedauert, die Kollegen würden schon viel länger warten. Ich gehe vor, am eigentlichen Taxistand in der Kurve, die wieder auf den Haupteingang des Bahnhofs zuführt, sind sie in zwei Reihen geparkt. Es kommt mir komisch vor, dass immer zwei Leute in den vorderen Wagen sitzen: Warum fahren die dann nicht? Ich schaue mich um, wenn in Stuttgart mal drei Taxen auf einem Platz standen, war das viel und zwei der Fahrer hatten höchstwahrscheinlich noch Nebenverdienste als Zuhälter. Wenn ich früher in der Nacht nach Hause kommen wollte, konnte geschehen, dass ich einsteigen wollte und der einfach losfuhr, ohne mich zu beachten, vermutlich wegen der langen Haare und der Flickenjeans. Es konnte mir passieren, dass einer, während ich schon drin saß, eine Nutte auf dem Beifahrersitz mitnahm und ein paar Ecken weiter wieder absetzte – aber das war schon lange her, seit ich mit dir zusammen war, blieb ich nachts zuhause. Hier standen über fünfzig Taxen und nichts bewegte sich.

Jetzt sollte ich am Staatsministerium ankommen! Diese armen Arschlöcher hatten wohl sonst keine Möglichkeiten und verplemperten ihre Tage für ein-zwei Fuhren, während clevere Unternehmer aus dem Westen eine Blechlawine als Abschreibungsobjekte und Steuersparmodelle verwendeten. Ich suche einen freien Wagen, ein Taxi hupt, ein Fahrer macht eine Handbewegung, zeigt nach vorne. Dort geht die Tür auf, ich laufe hin, ein Typ steigt aus und bittet mich lachend, einzusteigen, geht zu seinem eigenen Wagen in die nächste Reihe zurück. Ich nehme den Beifahrersitz, sage nach einer humorvollen Erklärung, warum ich aus der letzten Reihe komme, die Adresse. Der Typ kennt die Archivstraße nicht, holt einen Stadtplan aus dem Seitenfach der Tür, sucht im alphabetischen Straßenverzeichnis und freut sich, als er weiß, wo wir hinfahren werden. Er fordert mich auf, den Gurt zum Anschnallen zu verwenden, fährt dann langsam und gemächlich eine breite Allee runter, über eine recht große Brücke, biegt an der falschen Straßenecke ab, muss noch Mal umdrehen, schaltet von sich aus das Tachometer ab. Er fährt mich einmal um den Block 1, kein offizieller Eingang, keine Hausnummer, kein Schild ist zu entdecken. Ich sage dem Taxifahrer, dass ich einfach in das Gebäude reingehen und mich durchfragen werde, lasse mir mit dem Hinweis, das zahle das Ministerium, eine Quittung über 15 Mark ausschreiben und schenke ihm damit ein paar Mark.

Es dämmert schon wieder, uralte Bäume auf einer kahlen Winterwiese, die leicht zum Flussufer hin abfällt. Das war eine lächerliche Distanz, unter normalen Bedingungen wäre ich zu Fuß gegangen und auch nicht langsamer gewesen. Vor mir ist ein Gerüst aufgebaut, die mächtigen Türflügel dahinter sehen aus, als werden sie renoviert. Ich gehe noch einmal um das gewaltig verkommene Gebäude, ein mächtiger Klotz mit Seitenflügeln und einer Freitreppe, finde dann fast auf der Höhe, auf der ich ausgestiegen bin, eine kleinere Tür, die nicht abgeschlossen ist – die großen Flügel waren alle verbarrikadiert oder außer Funktion, wunderbar gearbeitete voluminöse Fassadentüren, aber schwarz erodiert, voll Vogelscheiße und ohne Beschläge, zum Teil mit Brettern vernagelt. Ein Treppenhaus wie in einer Oper, links und rechts um eine Luftsäule, die sich im Unendlichen verliert, ausgetretene Granitstufen mit uralten Mustern, dunkle, Eichenholzgeländer, ein gelbes Braun mit fast schwarzen Einschreibungen. Hier hat einst große Geschichte stattgefunden – die Erwartungen, Schmerzen und Ekstasen sind im Material gespeichert. Die Ministerien, die ich auf meinen Botengängen regelmäßig aufsuchte waren richtig durchschnittlich hergerichtet, so gewöhnlich, dass die Beamtenwelt jegliche Repräsentation der Macht zurück gedrängt hatte: Im neuen Schloss waren sogar Zwischengeschosse für die Büros eingezogen worden. Hier dagegen wirkt der düstere Verfall beeindruckend  und erinnerte mich an die Nachtstücke E.T.A. Hoffmanns. Im ersten Halbstockwerk finde ich die Pförtnerloge und sage mein Sprüchlein: Ich habe einen Termin beim Minister Meyer. Der alte Mann lässt sich den Ausweis zeigen, notiert die Nummer, gibt mir ein vorbereitetes Kärtchen mit meinem Namen zum Anstecken. In den Ministerien in Stuttgart konnte mit diesem Treppenhaus vielleicht gerade noch der Empfangsbereich im neuen Schloss mithalten, es fehlten eben die Glanzlichter, helle lichte Wände und verspielte Verzierungen, Kronleuchterspektakel hätten gepasst. Ich laufe in den zweiten Stock, biege rechts ein, dort ist die Tür des Zimmers 316 – hier scheint überhaupt nichts zu stimmen, das gesamte symbolische Universum ist aus den Fugen. Eine langbeinige Blondine in Jeansblau wartet vor der Tür, macht einen unruhigen Eindruck, probiert ein-zwei gehetzte Augenaufschläge in meine Richtung – nichts finde ich so uninteressant, wie Flirten als Angstbewältigung und nichts so geschmacklos, wie eine Blondine mit blaugrauen Augen, Korallentönen im Makeup als Kontrast zu verwaschenen Jeanstönen, und dann das nervöse Gestresse eines Frigidels: Kurz habe ich die Assoziation, dass das Neumanns neue Freundin sei. Ich ignoriere ihre zwanghaften Versuche, auf sich hinzuweisen und klopfe, obwohl die taube Schelle so tut, als verstoße ich gegen ein Sakrileg, an die Tür. Als niemand reagiert, versuche ich die Klinke runter zu drücken, sie wird mir aus der Hand gezogen. Die Tür geht auf, ein Typ um die vierzig schiebt sich an mir vorbei, ein bärtiger Schleimer aus der informalisierten Welt. Er beginnt schon aus dem Leim zu gehen, scheint aber noch drauf zu achten, in eine adoleszente Hosengröße zu passen. Auf der Uni nannte ich Assistenten, die sich so stylten, Schnecke: Wer kriecht, kommt wenigstens ein bisschen voran – Bildungsadel, seit Generationen aus Lehrer- und Pfarrergeschlechtern gekeltert. Er schiebt sich ausgebremst und auf dem energetischen Nullpunkt an mir vorbei, scheint so hinüber, dass er mich nicht wahrnimmt und nur dem Impuls folgt: Bloß weg! Wenn hier noch mehr von der Sorte auf mich warten, bin ich gerade in der richtigen Stimmung, solche Figuren habe ich früher mit der linken Hand und ein-zwei treffenden Zitaten an die Wand gespielt – ich sehe nur einen der möglichen Gegner, wäre gar nicht auf die Idee gekommen, dass das ein Mitbewerber war. Ich gehe einfach rein, mache ein paar Schritte auf die Sekretärin hinter einem vollbepackten Schreibtisch zu – das entspricht dem westdeutschen Standard in den Ministerien und umso mehr Zeug aufgetürmt ist, um so sicherer kann man sein, dass es sorgfältig ausgesuchte Dekoration ist. Wer so schicke Stapel aufgebaut hat, arbeitet in der Regel nicht mit dem Material, und wenn ich dann an den Brief denke, den die mir als Einladung geschickt haben, ist davon auszugehen, dass der neue PC mit dem Ganzseitenmonitor schon im Vorzimmer simulieren soll, wie viel hier auf dem neusten Stand gearbeitet wird. Was könnte ich mit einer solchen Ausstattung alles in Bewegung setzen! Hinter der Barrikade wurstelt eine Kameradfrau mit der Neigung zur grauen Maus eifrig vor sich hin und tut so, als habe sie mich nicht bemerkt. Ich stelle mich vor und weise darauf hin, dass ich leider etwas zu spät  dran bin. Sie lächelt erst schüchtern und dann, während meiner Entschuldigung, entgegenkommend: Nein, ich sei nicht zu spät, sie weist mit dem vorgestreckten Kinn auf die linke Tür: Drin ist gerade der letzte Kandidat fertig geworden.

Die Tür ist auf, dahinter ein Gewimmel alter Männer. Eine ältere Frau kommt raus, Frau Delpren ist ein grauer Page. Sie geht mir mit ausgestreckter Hand entgegen und begrüßt mich, als habe sie gerade schon mitgehört. Unterstreicht, von einer Verspätung kann nicht die Rede sein, betont dann aber, dass das ein Risiko gewesen sei. Bei einer so knappen Abstimmung liefe man immer Gefahr, dass der Zug nicht rechtzeitig eintreffen könne. Ein Mischtypus, mütterliche Fürsorglichkeit und die Eifrigkeit einer guten Kraft – dazu passt nur nicht der forschende Blick, ein kaltes und rücksichtsloses Ausspähen. Mir fällt das von ihr reservierte Telefonzimmer kurz ein, das Signalement für freundliches Entgegenkommen. Vielleicht hat Neumann in Dresden angerufen und nach den Ergebnissen des Gastmahls darum gebeten, dass sie sich persönlich um mein Wohlergehen bemüht. Dann hätte sie mich nach dem Strickmuster der Debihla schon einen Tag vorher bearbeiten und zermürben können – als ich einmal helfen sollte, die Stände für einen Juristentag über Nacht in der Liederhalle aufzubauen, hatte die Wert darauf gelegt, mich um Mitternacht in der Note, dem Nachtclub nebenan, abzuholen: Sie hatte wohl in Bonn gelernt, dass der Einfluss von ein paar Stripperinnen Wunder wirken konnte. Die Delpren hätte dazu vielleicht auf die Hilfe der Blondine zurückgreifen können, die jetzt zaghaft ins Zimmer getreten ist und offensichtlich in irgendeiner Beziehung zu ihr steht. Sie versucht mit aufgerissenen Augen und manischem Lächeln auf sich aufmerksam zu machen. Ich erwidere lachend: Ich habe die Bahn angerufen und mir die Zeitpläne der Strecke durchsagen lassen, die pünktlichen Ankunftstermine und die Statistik der Verspätungen; mir sei versichert worden, bei einer so reguläre Bahnverbindung gebe es selten irgendwelche Probleme – ich flachse ein bisschen. Ich habe das Gefühl, dass die auf mich gewartet hätten und wenn ich eine Stunde zu spät gekommen wäre – auch dann hätten sie mir zur Demoralisierung eine Schnecke entgegengeschickt.

Sie fordert mich auf abzulegen. Als ich mich umdrehe, den Kleiderständer hinter der Tür ansteuern will, bemerkt sie, dass der schon übervoll ist und führt mich durch die linke Tür. Da steht ein fast freier Ständer, ich darf meine Jacke und den Stockschirm hier deponieren. Eine flauschig ausgepolsterte, graugrüne Lederjacke von C&A, sie ist eigentlich etwas zu groß, aber weil am rechten Ellbogen eine lange Schramme gewesen ist, war sie von 700 auf 250 Mark runter gesetzt worden – ich leiste mir keine teuren Sachen, muss ja jede Mark mit den eigenen Hände erarbeiten –, und dieses feine Stück passt dank ein bisschen Eigenarbeit, nachdem die Schramme mit feinem Sandpapier egalisiert worden ist, neben den Wintermantel eines Ministers. Sie bleibt hinter mir, führt mich dann rüber in den Gründungsrat. Die Blondine ist mittlerweile neben der Sekretärin am Schreibtisch angekommen und versucht fast kindhaft, einen Blickkontakt mit der Delpren herzustellen – irgendwoher kenne ich solche Spiele schon. Gerade bin ich nicht bereit, mir mit konkreten Erinnerungen die Atmosphäre vergiften zu lassen. Ich weiß, dass so eine Tute nach einer vergleichbaren Begegnung auf der Uni wie zufällig in meinen VHS-Kursen auftauchte, um mit diskreten Hinweisen auf ihr Herkommen aus der Literaturwissenschaft besondere Zuwendungen zu erpressen. Wie leicht es ist, den mimetischen Imperativ Hilf-mir-bitte! zu übergehen, wenn man kein Bedürfnis verspürt. Es ist ganz einfach, so eine naive Schöne zu frustrieren, man muss sie nur ein paar Mal nicht bemerken oder übergehen – wenn dann noch was kommt, ist es eindeutig eine Auftragsarbeit. Aufdringlicher und zäher waren die in meinen Kursen auftauchenden Ableger der Geisteswissenschaften, die beim Süddeutschen Rundfunk untergebracht worden waren. Die sind vom leidenschaftslosen Verbrauch so frustriert und in der Zukurzgekommenheit zurückgestaut, dass sie erst in der Rivalität zu einer anderen Frau warm werden, ein Impuls, der sich gewaltig steigerte, wenn sie mitbekamen, dass du mich nach manchen Kursen abholtest.

Die Delpren weist mir meinen Platz zu, am Fußende der Tischreihen. Die eifrig mit sich beschäftigten alten Männer stecken tuschelnd die grauen Köpfe zusammen, beachten mich nicht. Eine Tischreihe entlang der linken Wand, neben mir noch ein Quertisch, dann eine zweite Reihe Tische an der Fensterseite. Was ist das für eine widerliche Veranstaltung, die haben die grauen Haare an den Schläfen und über den Ohren wegrasieren lassen, damit man nicht sieht, wie die Gesichter aus dem Leim gegangen sind und haben veritable Nazivisagen zustande gebracht, es fehlten eigentlich nur noch die Schmisse.

Ein Raum im Seitenflügel eines Schlosses, und dann hässliche Resopaltische und Leuchtstoffröhren.  Draußen beginnt es schon wieder zu dämmern, das Licht ist kalt und abweisend. Die Delpren stellt mir mit dem Satz: Sie müssen ausgetrocknet sein von der langen Zugfahrt, ein Glas sauren Sprudel hin, die Flasche lässt sie gleich wieder verschwinden. Ich bestätige das schon deshalb, weil es nicht stimmt – und trinke das Glas in einem Zug leer. Dann ignoriere ich sie, schließe die Augen, sammle mich, beordere die verschiedenen Ichfragmente auf ihren Platz. Den Kanonier lasse ich beide Breitseiten laden, den Harpunierer schicke ich nach vorne an die Reling, das Enterkommando die Takelage hoch und für besondere Zwecke habe ich noch einen mit dem Blick blitzenden Feuerwerker Lieu-tenant. In den letzten Monaten hatten wir manchmal die Aufzeichnungen alter James Bond-Filme gesehen, nicht wegen des Plots, sondern wegen der Ausstattung, englische Stilmöbel in einer mit jedem Film luxuriöser und grandioser werdenden Umgebung – ich hätte hier gern üppige Kronleuchter und ein festliches Buffet gesehen, geschliffene Gläser, in denen das Licht spielte und die Möglichkeit, ein paar der Quälgeister der vergangenen Jahre mit einer Fernsteuerung vor den Richter zu zwingen: Vielleicht mit den Doors als Hintergrund: When the music is over, turn on the light!

Die ersten Typen gehen an den Tisch zurück, die sind jünger, als sie sich geben, ich glaube Adolf Muschg zu erkennen, Neumann unterhält sich mit Christoph Hein. Die Delpren fragt, ob sie noch ein wenig pausen möchten, der Herr Minister wolle dazukommen, und sie nicken, wenden sich wieder von den Tischreihen ab und verlängern ihre bezahlte Pause – Pausebacke, das ist ein Verleugnungsmenuett!

Ich lege den Koffer vor mich auf den Tisch, entsichere die Schlösser, nehme mein Päckchen Konzeptionen heraus. Ich hatte sieben Thesen in verschiedenen Schrifttypen und Größen mit dem Satzsystem LATEX auf drei Seiten verteilt und nach einer Woche Übung, weiteren Ergänzungen, stetem Schleifen und Bohren sah das sehr gelungen aus. Dann hatte ich am Samstag den ausgefeilten Text in meinen schönsten Ausdruck verwandelt – der später dann zur Einleitung des zweiten Bändchens Philosophischer Sperrmüll wurde –, war in den Copyshop am Rotebühlplatz gegangen und hatte für acht Pfennig pro Seite vierzehn Kopien hergestellt und zu Hause die drei Seiten jeweils mit einer Büroklammer zusammengeheftet. Die ganzen Jahre hatten wir die Dinger vom überflüssigen Behördenkram in einer handgetöpferten Schale gesammelt und nun war es gar nicht so einfach gewesen, vierzehn Klammern zu finden, die noch halbwegs neu aussahen und nicht heimlich begonnen hatten, vor sich hin zu rosten.

 

Zur Konzeption eines Instituts für Literatur:

Sehr geehrte Damen und Herren, ich darf mich für die Einladung bedanken und möchte Sie für Ihre Aufmerksamkeit mit einer kleinen Nachtmusik entschädigen. Wenn es mir für Augenblicke gelingen soll, Sie vergessen zu machen, warum Sie hier sitzen, werden sie mich dabei unterstützen, zu vergessen, dass ich als literarischer Schwellenkundler an einer Schwelle angelangt bin, die die Literatur