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Iris Geiger-Musik stammt aus einer Familie von Akademikern, zu der der Politologe und Schriftsteller Josef Geiger und der Slawistikprofessor Robert Geiger gehören. Sie sorgte während vierzehn Jahren Tätigkeit in der Erwachsenenbildung dafür, dass sich Gunar Musik unbehelligt der Lektüre von ein paar tausend Büchern widmen konnte.

Gunar Musik hat bei Max Bense über Walter Benjamin promoviert: ‚Die erkenntnistheoretischen Grundlagen der Ästhetik Walter Benjamins und ihr Fortwirken in der Konzeption des Passagenwerks‘. Der Ansatz, die gesellschaftkritische Perspektive der frühen Frankfurter Schule durch die Semiotik Peircescher Provenienz abzusichern, mündete in einem ersten Anlauf im ‚Phänomen Otto‘.

Die Medienanalyse ‚Das Phänomen Otto – Wirkungsweisen eines schnellen Brüters‘ beruhte auf ihren Einfällen und den geduldigen Showanalysen, zu denen Musik dann das theoretische Fundament lieferte.

Mit der Selbsterlebensbeschreibung ‚Altpapier‘ wurden schließlich die gemeinsamen Wurzeln in Schülerprotest und Studentenbewegung freigelegt. Zu zeigen war, welche biographischen Ungleichzeitigkeiten die Liebe zu einem Duell werden ließen, aber auch, welche fein vernetzten Machtstrukturen das Prinzip Hoffnung aushebeln konnten, wie wenig tatsächlich auf dem Weg von den 70ern in die 80er vom ursprünglichen Emanzipationspotential übrig geblieben ist.

Parallel zur biographischen Arbeit am gemeinsamen Roman wurde die gesellschaftliche Entwicklung auch theoretisch nachgezeichnet: ‚Philosophischer Sperrmüll – Kulturarbeit und Mortifikation, Kreativität und Beziehungsarbeit‘. Als er Anfang der 90er Jahre aufgefordert wurde, eine Neukonzeption für das Becher Literaturinstitut im Sächsischen Staatministerium vorzulegen, wurden wesentliche Einsichten aus dem ‚Sperrmüll‘ auf wenige Seiten eingedampft und dann vor dem Gründungsrat vorgetragen: Die Konzeption sollte mit Steuergeldern nicht zu vertreten sein! Und das, obwohl eine der vorgestellten Thesen darauf gesetzt hatte, das Institut mit einem wirtschaftlichen Standbein zu versehen und von Subventionen unabhängig zu machen.

Eine Karriere für literarische Hungerkünstler hätte die beiden nicht einmal abgeschreckt. Als nach einigen Jahren der unzensierten Produktion die magische Verfolgerkausalität einer Intrige nicht mehr zu übersehen war und die Möglichkeiten schwanden, einen halbwegs akzeptablen Rahmen für die Texte zu finden, eroberte das Paar mit den Medien Telefon und Computer ein Arbeitsfeld jenseits der akademischen Abhängigkeiten. Sie verkauften Anzeigen, Firmenportraits und Promotions und begannen den Werbemarkt für ihre Zwecke zu verwenden. Außerdem widmeten sie sich exklusiven Inneneinrichtungen. Und nachdem die nötigen Umsätze in Bewegung gesetzt und damit manche Behinderungssysteme der verwalteten Welt abgeschafft worden waren, entstanden die ersten Entwürfe der ‚Galerie der Geistesblitze‘. Aus dem in den vergangenen Jahren produzierten Textungeheuer ist erst einmal ‚Die Schule der Liebe‘ ausgegliedert worden. Die Einführung, ‚Der Schamane im Bücherregal‘, ist wieder ein gemeinsames Buch geworden, obwohl es noch den verzweifelten Räuschen des Einsamkeitstrainings gewidmet ist. Ein weiterer Teil, ‚Die Chronik eines sozialen Todes‘, wird den zurückgelegten Weg und die Erfahrung einer Liebe als Duell dokumentieren.

Wir sind heute gewohnt, Werk und Person strikt zu trennen. Aus diesem Grund kann sich für den Leser bei einem Roman in der Tradition der Selbsterlebensbeschreibung die Frage stellen: Zeigt diese Form, dass der Autor die eigenen Neurosen in seinen Figuren mit allen Mitteln bekämpft oder benützt er die Form, um seine Besessenheiten wenigstens auf dem Papier auszuleben? Das Rätsel ist jenseits dieser Pseudoalternative leicht zu beantworten, wenn wir den literarischen Bogen etwas weiter spannen und an die Stammväter der Selbsterlebensbeschreibung, an Jean Paul und E.T.A. Hoffmann, erinnern. Eine erzählende Form, in der in Dialoge verpackte Zitatkollagen ein Eigenleben gewinnen, versucht von neuem, eine philosophische Erfahrung der Aktualität oder eine vom zur Verfügung stehenden Wissen durchdrungene Verarbeitung der Biographie zustande zu bringen. Die Spielereien einer von Gibson, Pratchett oder Adams angeregten Science Fiction liefern den Rahmen, in dem die großen Themen der Menschheit noch einmal aufbereitet werden, wobei oft genug Anregungen von Huxley, Orwell oder Durrell weiter verarbeitet worden sind. Wer sich nicht betroffen abwendet oder das Buch angeekelt beiseite legt, kann mächtigen Spaß an dem rabenschwarzen Humor haben, mit dem die Philosophiegeschichte geplündert wird. Mancher erzählerische Exkurs, der in einer fernen Zukunft spielt, bringt tatsächlich nur gegenwärtige Entwicklungen auf einen Nenner. Und manches weite Ausgreifen in die Vergangenheit kann dazu verhelfen, die Entwicklungen der letzten vierzig Jahre besser zu verstehen.
Diese Geschichte wird eingebettet in die Erfahrungen und Vorbehalte eines Hardcore-Philosophen, der seinen Lebensunterhalt als Text- und Ästhetikberater verdient und der aufgefordert worden ist, einen Promotionstext über die Schule der Liebe vorzulegen. Er nimmt an Führungen und Diskussionen in einem anregenden Garten der Lüste teil, in dem das erste Systemprogramm der Orgasmologen Wirklichkeit geworden ist, protokolliert Vorträge und Streitgespräche, die in dieser anregenden Atmosphäre besonders gut gedeihen.
Tatsächlich wird diese Schule der Liebe also auf verschiedene Folien präsentiert. Wir haben eine Ebene der Dialoge, in der die großen Themen zugleich zur Charakteristik der Personen beitragen – denn welche Wahrheiten sie jeweils für sich zu reservieren versuchen, sagt mehr über ihren historischen Standindex und ihre soziale Rolle aus, als über die Wahrheit selbst. Auf einer weiteren Ebene werden kurze Geschichten ausgetauscht, die als Argumentationshilfen gegen die Transformation des materiellen Geschehens in Licht und Information gedacht sind und sich aber im Experimentierfeld des Cyberspace zu verselbständigen beginnen. Auf einer dritten Ebene haben wir die inneren Monologe des Ästhetikers, der dem ganzen Unternehmen skeptisch gegenüber steht. Nicht gegenüber einer Schule der Liebe, sondern gegenüber diesen Bildungsbeamten, die sich in ihr einrichten wollen und die ihn an vergleichbare Figuren erinnern, von denen er einmal in eine ausweglose Intrige verwickelt worden war. Schließlich ist er nur auf den Auftrag eingegangen, weil er hofft, nebenbei eine umfangreiche Anzeigenserie an den die Schule sponsernden Konzern zu verkaufen. Mit der Provision plant er das eigene Projekt eines Zeitsparbuchs zu finanzieren, um die zehn Jahre Lebenszeit, die ihm entwendet worden sind, wieder gegenwärtig zu machen: Den Bann rückwärts zu buchstabieren, den er den Direktiven einiger Bildungsbeamter verdankt.
Eine "Schule der Liebe" wurde schon einmal von Tucholsky übel verrissen. An dieser an Benjamin und Adorno geschulten Version hätte er sicher seine helle Freude gehabt.

Die Liebe – nichts ist für uns heute durch die Medien so allgegenwärtig und zugleich in der alltäglichen Erfahrung so wenig greifbar. Mit nichts werden so hohe Erwartungen verbunden und nichts lässt uns mit unseren zweckrationalen Praktiken so hilflos und alleine zurück. Die Virulenz dieses Nichts macht sie zu jenem Messer ohne Griff an dem die Klinge fehlt, mit dem uns lebensgefährliche Verletzungen zugefügt werden können.
Im Rahmen der fiktiven Gemeinschaft einer utopischen Schule der Liebe führen die Dialoge und Selbstgespräche der für den künftigen Lehrkörper ausgewählten Spezialisten in die großen Fragen der Liebe und der Lust, des Begehrens und des Glaubens, der Angst und des Tabus. Sie zeigen auch, dass diese Fragestellungen immer etwas mit unserer Selbstdefinition zu tun haben und damit mit der Vorstellung, die wir vom Wert und der Würde des Menschen entwickeln.
Der philosophische Rahmen bietet sich an, weil die Liebe einen Bezug zur Weisheit hat. Sie stiftete, wie es die Platonischen Dialoge nahelegen, den ursprünglichen Bezug zwischen dem Wahren, dem Schönen und dem Guten und der Welt des Menschen und sie lässt ihn tatsächlich an der Sphäre des Göttlichen teilhaben.
Die Philosophie, wie sie durch die Zeiten bestimmend geworden ist, entwickelt sich vor allem in jenen Dialogen, die bei Platon um das Verhältnis von Liebe, Schönheit und Wahrheit kreisen. Das Gute erscheint in deren verschiedenen Ausprägungen eines Dazwischen, aber es wird gestiftet und erfahren durch einen sublimierten Eros, der von den realen Vollzügen bereits versucht zu abstrahieren.
Mit den artes liberales werden die sprachlichen und mathematischen Fähigkeiten gepflegt, unter deren Vorgabe die Welt immer mehr zum Objekt werden kann, um der technischen Bearbeitung und den intellektuellen Verfügungsweisen des Menschen unterworfen zu werden. Zwar war im Mittelalter noch keine Subjekt-Objekt-Entfremdung zu beklagen, weil die Theologie den Zusammenhang verbürgte, aber die Mittelglieder waren zu Hand und wurden weiter ausgearbeitet, um das Wissen mehr und mehr von der „unmittelbaren“ Erfahrung abzulösen. Auch deswegen brauchte es Jahrhunderte, bis deutlich werden konnte, wie vermittelt alles Unmittelbare ist.
Mit den schönen Künsten hat sich jener Sonderbereich ausdifferenziert, in dem an der sinnlichen Erfahrung gearbeitet werden durfte. Nähe und Intensität sollten in einem institutionalisierten Rahmen zugänglich sein, der zugleich dafür sorgen musste, dass keine Gefahr bestand, der Wildheit der Körper und der Ungeregeltheit des Begehrens ungeschützt zu begegnen.
Mit der Epochenschwelle um 1900 bricht jene säuberliche Trennung der Sphären zusammen. Was bis dahin in einzelnen Werken gelegentlich zu erahnen war, ansonsten aber in die Randbezirke der bürgerlichen Gesellschaft ausgegrenzt wurde, bricht nun über den Umweg der verschiedenen Kunstströmungen in die Welt ein und beeinflusst damit das theoretische Selbstverständnis. Die Traumarbeit und die Montagetechnik, das Readymade und die Verabsolutierung der Maschine, die Schnitttechnik des Films und der Einsatz bewusstseinserweiternder Drogen, das Theater der Grausamkeit oder der Boom der Ethnologie – auf breiter Front zeigte sich eine Bewegung zurück zur Materialität der Dinge und zur Intensität der Lebensvorgänge. Die spielerische Kennzeichnung „Schreckliche Künste“ ist von dieser Entwicklung angeregt worden. Die schrecklichen Künste widmen sich dem Zauber und der Magie, also den Kräften, die im Gang der Zivilisation verdrängt wurden und die doch nie aus der Welt zu schaffen waren – und die die Erotik zu einem Residuum machten. In der Erotik durften sich die letzten Schwundstufen an Körperintensität austoben, um die latente Verzweiflung eines Symbolischen Tieres im Überschwang in Schach zu halten und für Momente vergessen zu machen.
Welche Verschwendung an menschlichen Ressourcen war damit verbunden, als das Böse geschaffen und verflucht werden musste, welcher Verlust an Wirklichkeitserfahrung und Sinnenintensität ging damit einher! Genau genommen wurde die Verwurzeltheit in der Welt, die Verwobenheit in einem natürlichen Geschehen zum Bösen erklärt. Aber Lebendigkeit und Energie verschwanden nicht einfach, sondern sie konnten akkumuliert werden und waren wie von Zauberhand in die großen Institutionen und Megamaschinen umgeleitet worden – vielleicht ist das das letzte Geheimnis unserer Institutionen, dass sie ihr Fundament dem Bösen verdanken. Dies erklärt wie nebenbei, warum sie vom Menschen geschaffen wurden, um einen befriedeten Raum zu schaffen und dann den Raum zur Verfügung stellen, in dem sich Menschen gegenseitig gefahrlos bis in den Tod quälen.
Es ist ein weiter Bogen von der platonischen Liebe zur Liebe in der Konsumgesellschaft, und er untersteht den Prinzipien der Körperausschaltung. Von der Abwesenheitsdressur der höfischen Liebe, zur Körperferne der romantischen Liebe, bis zur Simulationsveranstaltung in der Spaßgesellschaft tauchen in diesen Texten alle historischen Weichenstellungen auf, um der Konzeption unterstellt zu werden, die sie in einer großangelegten pädagogischen Sonderwelt rückgängig machen und überwinden will.
In einem Wechselspiel aus Dialogen und Geschichten gelingt es wie nebenbei, die Bedingungen der Möglichkeit einer Schule der Liebe auszuarbeiten. Die Montage der verschiedenen Texte gleicht einem Cocktail, den wir der Fingerfertigkeit eines begabten Giftmischers verdanken. Die erhabenen Themen der Menschheit, die größten Erwartungen und Ängste, erscheinen unter einem Thanatoskop in einem oft befremdlichen Licht, bevor sie an den Ort zurückkehren, von dem sie kamen und wieder im Nichts verklingen.

Eine inspirierte Philosophie sollte uns mit unserer Rätselhaftigkeit konfrontieren und neue Expeditionen ins Ungewordene und Unerkannte ermöglichen: Das Glück des Unvorhergesehenen bringt die Chance mit sich, mehr und anderes zu finden oder zu erfahren, als dies unsere Erwartungsmuster und die dahinter arbeitende Komplexitätsreduktion erlauben.
Die Schrift ist das Medium des Toten, die Liebe das Medium der Lebendigkeiten, die Macht das Medium der Vermittlung beider – und die bezaubernde Rede, die Selbstinszenierung der Verführer, die Lustschreie der Simulantinnen, besorgten gar zu oft, dass Liebe und Tod austauschbar wurden und das Scheitern der Lebendigkeit ihre Größe versprach. Innerhalb der Institutionen gibt es Systemimperative der Verdumpfung, die jede Beweglichkeit und jedes Lernvermögen ausschalten wollen, obwohl sie tatsächlich auf jede Gebrauchtintensitätenvermittlung angewiesen sind. Doch es sind gerade jene Texte, die sich der Metainstitution Sprache verdanken, die auf das Material der Sprache selbst zurück kommen. Sie siedeln in einer Zwischenwelt und sind immer Mischgebilde: Während sie Inhalte repräsentieren, ist in ihnen die Abwesenheit präsent, an ihnen saugt das Verschwinden und doch halten sie längst Vergangenes gegenwärtig. Nur auf den ersten Blick ist ein solcher Text ein Geschehen in zwei Dimensionen, tatsächlich ist er ein räumliches Gebilde, das Vergangenheit und Zukunft verklammert. Nicht allein ein Leichenfeld, auf dem Geisterbeschwörungen gelingen und auf dem Geist gegenwärtig werden kann. Zudem ein erotisches Medium, in dem sich Ungeheuer paaren, ein magnetisches Feld, an dem sich die Leiber entzünden, für die ein Stern verglüht. Ein Ort der Vernichtung, der in manchen Fällen zu einem Refugium taugt, zu einem Zwischenbereich, in dem die Mächte noch ungeschieden sind, ein Ort der vor den Vernichtungswünschen schützt, die von jenen ausgebrütet werden, die noch nicht zu Ende geboren werden durften.
Todesmale und Zeichen der Macht, Dokumente der Qual oder Zeugnisse von Verzückungen. Was den bitteren Schmerz, die klagende Vernichtung dokumentieren könnte, setzt in der Regel ein ängstlich beschwörendes und palaverndes Gestrampel frei; der warme Wind versucht, die Übermacht der Angst zu dementieren und dem Verstummen zu entfliehen. Tatsächlich hat der Prozess der menschlichen Kulturalisation unvorstellbares Leid freigesetzt, das dafür verantwortlich ist, dass auf die Zumutung des Dazulernens mit den Techniken der Verleugnung und des Zerredens geantwortet wird. Doch damit wird gerade das geflohen, was die Mittel einer Heilung bereitstellen könnte – die Vernichtung der Gewohnheitsmuster in der Verzweiflung ist oft eine Rückseite des sprachlosen Glücks. Alle Entgrenzung willigt für Augenblicke ins Verstummen ein, die Sprachlosigkeit genießt, wie wir in einem Nu der Entdifferenzierung eins mit allem anderen werden. Genau diese Erfahrung einer Besessenheit liefert das homöopathische Heilmittel gegen die typischen Erfahrungen der psychotischen Verleugnung, mit denen unsere Alltagswelt imprägniert worden ist.
Die Muse der Philosophie mag nach Agamben die Sphinx sein, deren Geheimnis seit Generationen auf den Namen Mensch hört: Das Fehlen jeglicher Intention, als Möglichkeit der Täuschung zu entgehen, wird im Bild der Muse mitgedacht, die dem antiken Dichter die Worte eingibt und der er seine Stimme leiht – mit dem also nachvollzogen werden kann, dass wir ein Schauplatz der Sprache sind. Eine erschöpfende Erklärung dieser unabsichtlichen Frage finde ich in der Genealogie, die die Sphinx im gleichen inzestuösen Register wie Ödipus eingeschrieben hatte! Die angemessene Antwort auf ihr Rätsel müsste die Selbstbedienungsmentalität der Familie beenden und die inszenierten Abhängigkeiten der kulturschwulen Vereinigungen aushebeln! Schauen wir uns das Rätsel also noch einmal genauer an. Hätte die Antwort nicht viel eher lauten müssen: ‚Die Lebenszeit des Menschen‘… also nicht: ‚der Mensch‘! Warum sollte die Sphinx aus Wut vor so viel narzisstischer Beschränktheit nicht explodiert sein: Vielleicht hat sie sich aus Verzweiflung über einen Weltzustand, der die medialen Wirksamkeiten durch das tragbare Gefängnis des Ich unmöglich machen würde, in ein feines, unendlich dicht vernetztes Medium zerlegt und die inzestuösen Ansprüche allgegenwärtig gemacht! Dann müsste die Muse einer inspirierten Philosophie allerdings die Geschlechterspannung sein. Die Lösung dieses Rätsels liefert die Kochrezepte für eine gemeinsame Lebenszeit! Gegen die inzestuösen Abhängigkeiten ins Runde einer Harmonie zu kommen – und die ist die Organisationsform kleinster Gemeinsamkeiten und größter Gegensätze… mit der so etwas wie Authentizität zustande kommen kann!

Wenn ein Säuger in der Interpunktion seiner Erwartungsmuster enttäuscht wird, obwohl diese Erwartungen auf einem festen Bestand an Erfahrungen beruhen, wird Schmerz freigesetzt, und die Qual ist umso größer, um so rigoroser die Erwartungen mit Füßen getreten werden. In den meisten Fällen flüchtet der Säuger in Krankheit oder Selbstzerstörung, verkrampft und verhärtet, gibt sich auf. In einigen Fällen kommt ein kreativer Schwung zustande, Humor und Weisheit können die Folge sein, Einsichten in die Gesetzmäßigkeiten des Lebendigen mögen sich ergeben, die neu und einzigartig sind und vielleicht zugleich von uralten Wahrheiten durchdrungen scheinen... Das sind die Geistesblitze, die der Frustration abgerungen werden – und wenn wir das Menschheitserbe auf große Einsichten und ewige Werte hin anschauen, entdecken wir in den meisten Fällen als ihren Schatten und Hintergrund Schmerz und Verzweiflung. Manchmal wurden systematisch Qualen eingesetzt, sei's von Opfern oder Tätern – eine Unterscheidung, die am Quellpunkt eines Blitzes hinfällig zu werden scheint, auf der Schwelle des Werkes oder im Augenblick der Erleuchtung... und die Schönheit des Werkes zeugt noch immer von den in ihm verscharrten Leichen, die Intensität der Erleuchtung vom Schmerz der Selbstzerstörung.
Wir sind nicht fertig, also noch nicht festgestellt. Der Mensch definiert sich im besten Fall durch die Möglichkeiten, die seine Zukunft bereit hält; er ist wesentlich bezogen auf das, was er noch nicht ist – das war der Quellpunkt des mythischen Denkens und es liefert noch heute die Funktionen des weltsetzenden Vermögens, durch das die Technik und die Informatik zu Erweiterungen unserer Organausstattung geworden sind. Wir sollten also jene Weisheiten kultivieren, an denen die verschiedenen Theologien und ihre Schwundstufen nur schmarotzt hatten, um eine überzeugende Substanz zu simulieren. Der Reiz der literarischen Intensitäten des Wissens liefert oft eine Schwundstufe der ursprünglichen Weisheit. In den Verweisungszusammenhängen, den Randgängen der Signifikanten, in den unterschwelligen magnetischen Feldern, den unwillkürlichen Erinnerungen, den Irrgängen einer Metaphorologie usw. – gibt es einen Bezug, der über die selbst geschaffenen Gefängnisse des institutionalisierten Wissens hinaus führt. Und gerade wenn einen die Stellvertreter des Machtwissens vernichten wollen, bleibt oft nichts anderes übrig, als zu den Urgewalten eines erotischen Wissens zurück zu finden und mit diesen Mitteln eine weitere Variante der Welt zu schaffen. Eben deshalb sind wir noch nicht festgestellt.
Die beiden Protagonisten des Paars waren vor vielen Jahren mit dem Traum gestartet, das Paradies müsse sich ervögeln lassen – und auf einmal hingen ihre Überlebensmöglichkeiten von der Fähigkeit ab, dieses antiquierte Prinzip Hoffnung zu aktualisieren und in die Wirklichkeit zu überführen. Erst einmal nur Anhängsel irgendwelcher Familien- oder Bildungssysteme, mussten sie füreinander zu Substituten jener Gesetzmäßigkeiten werden, die sie hinter sich zurücklassen wollten, aber zu bekämpfen hatten. Als die Sinnlosigkeit dieses Kampfs erkannt war, verwandelten sie sich nach und nach in Supplemente, also in jene selbstreferentiellen Phänomene, die als ursprünglich nur Abgeleitete in einem nächsten Schritt eine konstituierende Rolle für das zu spielen begannen, von dem sie abgeleitet worden waren. Es ist der Bruch mit der Situation, die Möglichkeit, sich jenseits der Begrenzungen des Kontextes zu situieren, der in einer Situation der Ausgeliefertheit die nötige Orientierung verschafft! Sie mussten lernen, sich an ihre eigene Zukunft zu erinnern, um dafür zu sorgen, dass diese von den Leuten, von denen sie einmal abhängig gewesen sein sollten und die sie nur als Material der eigenen Bedürfnisstruktur missbraucht hatten, nicht einfach mangels Interesse abgesagt werden konnte.

Wir verfügen über Wissensweisen, ohne zu wissen, wann und wie dieses Wissen erworben wurde. Wir haben keinen bewussten Zugang zum impliziten Wissen über die Gesetzmäßigkeiten der Abläufe dieser Welt. Aber in den Jahrtausenden sind Filter entstanden, die objektive Fantasien über den Umweg von erzählten Mythen oder später von darstellenden Medien vermitteln und an einem Menschheitswissen teilhaben lassen. Die nicht begründbaren Weisheiten des Erzählens oder der Performation wirken über den Resonanzraum der Emotionalität noch bis zum Popcornkino nach.
Für den Menschen gibt es keine Kraft, die nicht Bedeutungen transportiert und es gibt keine Bedeutung, die nicht zur Kraft werden kann – die Massenmedien zeigen ganz überzeugend, dass Bedeutungen Oberflächenphänomene sind und bereits beim Tasten, Riechen und Schmecken entstehen: Das Tiefste ist die Oberfläche. Außerdem stellen wir immer wieder fest, dass Entscheidungen gelingen, die unter hohem Stress und enormen Zeitdruck getroffen werden, wenn der Ich suspendiert wird und die Bremssysteme des Bedürfnisses, alles im Griff zu haben, ausfallen. Intuition oder siebter Sinn sind die Folge eines ausgeklügelten, schnell ablaufenden Abwägungsprozesses – es stehen tatsächlich Routinen zur Verfügung, die für uns arbeiten. Viele Entscheidungen unterstehen uns unzugänglichen Regeln für ein optimales Verhalten, die auf uns einwirken, um relevante Details emotional zu besetzen. Erst im Nachhinein sind sie einem bewussten Verarbeiten zugänglich – nicht anders als manche Einsichten, die aus der Zukunft auf uns zu kommen.
In einer „entzauberten Welt“ der Körperausschaltungsprinzipien bedarf es immer wieder Nischen der Wiederverzauberung. Das implizite Wissen ist nur ein kleiner Ausschnitt aus jenem Repertoire an Wissensweisen, über das wir verfügen, wenn wir nicht überall ein „Ich-denke“ ran kleben. Auf der subliminalen Ebene der nicht-kodifizierten Zeichensysteme gibt es Parallelen zwischen der Logik der Zeichen und der Logik des Fühlens. Musik, Farbigkeit, Bewegung und Rhythmus, die Struktur des Bildaufbaus und des Erzählungsgeschehens sind Zeichenformen, die eine Resonanz direkt auf der emotionalen Ebene auslösen. Das Vertrauteste, die Bedienungsanleitung unserer Sinne, ist uns nicht bewusst – der Kult der Bedeutungen hat uns von aller Unmittelbarkeit entfremdet. Dabei nimmt das Lernvermögen mit dem Grad der Entfremdung zu und extreme Erfahrungen der Fremdheit sind in der Lage, Geistesblitze freizusetzen. So kann die mimetische Stresssensorik unter gewissen Voraussetzungen dafür sorgen, dass wir für Augenblicke im Jetzt der Präsenz landen. Nach diesem Schema entstehen an den Rändern der Unterhaltungsindustrie, in den Genres des Unernstes und der Abseitigkeit, immer wieder neu Asyle für große Fragen der Menschheit. Ganz exzessiv praktiziert die Filmindustrie Batailles Prinzip der Verschwendung und Überschreitung. Ein enormer technischer Apparat investiert Millionen in die Vernichtung von Werten, um ein multimediales Feuerwerk der lustvollen Zerstörung zu garantieren und dank der Erschaffung neuer Mythen ein Vielfaches an Umsatz einzuspielen.
Die lineare Zeit ist ursprünglich die des Todeslaufs, der Tod prägt die Bedeutungen. Das macht den Herrschaftsbereich der kodifizierten Konventionen aus, eben weil es Zeit braucht, um sinnliche Präsenz in Bedeutungen zu überführen, die das Verhältnis zwischen Menschen und Welt verbindlich regeln – um den Preis, uns um die Erfahrbarkeit einer unendlich vielfältigen Welt zu betrügen. Außer dem Agon gibt es aber mythische Zeiterfahrungen, die mit Ewigkeit gesättigt sind: der gelungene Augenblick nicht weniger als die epische Wiederkehr des Gleichen: Die Zeit des Wunders, der Blitz einer Offenbarung, der mythische Augenblick einer großen Liebe – in solchen Erfahrbarkeiten sind Splitter einer unvordenklichen Zeit eingestreut. Wir sollten also immer von verschiedenen Formen der Zeit ausgehen, die nebeneinander herlaufen und, während das Wunderbare aus der Welt entfernt wurde, schon wieder das Bedürfnis der Wiederverzauberung ankurbeln. Das reicht bis zur Quantentheorie, in der das Unvorhersehbare gegenwärtig wird, in der die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen sprießt und das Simultane durch minimale Unendlichkeiten getrennt ist.


Kontakt: gm@gpunkt-musik.de